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Die Geschichten in diesem Buch sind solche über Kindheit und Jugend vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Ihr Anspruch gründet kaum in der Besonderheit eines auffälligen Geschicks, sondern liegt im Alltäglichen, dessen widersprüchliche Erfahrung immer bezeichnender wurde und lange noch blieb.

Produktbeschreibung
Die Geschichten in diesem Buch sind solche über Kindheit und Jugend vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Ihr Anspruch gründet kaum in der Besonderheit eines auffälligen Geschicks, sondern liegt im Alltäglichen, dessen widersprüchliche Erfahrung immer bezeichnender wurde und lange noch blieb.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.06.2006

Fluchten nach dem Epochenbruch

Wieviel von irgendeiner Vergangenheit auch übrigbleibt - zu verstehen ist sie immer durch überlieferte Erfahrungsschnipsel. Nehmen wir den Fall einer Schüleraufführung des "Faust" bald nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Schüler soll den "Narren" im Stück spielen. "Verschmitzt" soll er, so der Lehrer, seinen Text sprechen, im ganzen "schelmisch", um klarzumachen, daß an der ganzen Sache etwas sei - und auch nicht. Ein wenig widerwillig befolgt der Schüler die Anweisung des Lehrers, spricht bei der Aufführung gelegentlich auch etwas "verschmitzt" - "was die alten und älteren Zuhörer, die gekommen waren, auch prompt honorierten", wie sich der Schüler von damals heute erinnert.

Was kann es bedeutet haben, nach 1945 den Narren im "Faust" ausdrücklich etwas "verschmitzt" zu spielen, halb ernst, halb unernst? Und warum honorieren die älteren Zuhörer diese Spielweise besonders? Beim Lesen der Erinnerungen der sogenannten 45er-Generation stößt der Leser immer wieder auf solche rätselhaften Miniaturen, die einem nicht aus dem Sinn gehen. Ein anderes Beispiel: Da redet der Vater von den Zeitungslesern als "kundigen Thebanern", dem Schüler aber kommen diese Leute, die alles nachreden, gar nicht so kundig vor. Wenn es für Wörter ein Wachsfigurenkabinett gäbe, diese "kundigen Thebaner" wären mit Sicherheit ausgestellt. Was im neunzehnten Jahrhundert eine bildungsbürgerliche Anspielung war, wird in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts zu einer komisch-anachronistischen Redefigur: die Deutschen als kundige Thebaner - nach 1945(!).

In der ironischen Erzählung dieser Wortvorkommnisse ist eine Grundtendenz kollektiven deutschen Verhaltens enthalten, die bis zur Epochenschwelle unserer Zeit prägend blieb: das Bemühen um oder die Ablehnung bildungsbürgerlich garantierter "Kontinuität" sowie die Distanzierung von jedem Pathos im Sinn der "skeptischen Generation" (Helmut Schelsky). In der Kurzformel lautet sie: "Aber, aber!" Solche Wortwelten im Übergang verdanken wir den Erinnerungen Hans Geulens ("Frühe Endzeit". Über Anfänge vor und nach '45. Ein Erzählversuch. Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2005. 166 S., br., 14,80 [Euro]). Geulen, Jahrgang 1932, Emeritus für Germanistik an der Universität Münster, der insbesondere über Max Frisch und Erzählkunst der Frühen Neuzeit publiziert hat, erzählt vom Epochenbruch ohne Epochenabsicht, weiß also im Erzählen nicht dauernd mehr, als er damals wissen konnte.

Rolf Schörkens Buch ("Die Niederlage als Generationserfahrung". Jugendliche nach dem Zusammenbruch der NS-Herrschaft. Juventa Verlag, Weinheim 2004. 190 S., geb., 24,50 [Euro]) hat die Bedingungen herausgearbeitet, unter denen die Deutschen die Niederlage verkrafteten: die Abwesenheit von Revanchegelüsten, der Abschied von der Nation (trotz anderslautender politischer Rhetorik), keine Mythenbildung wie nach dem Ersten Weltkrieg, schließlich ein Läuterungsgedanke, den manche Wissenschaftler (Habermas, Wehler) mit einer Behauptungsenergie, die noch aus ihrer Jugendsozialisation stammte, zum politisch-wissenschaftlichen Programm und einer Art moralischen Ermächtigung gerade in dem Augenblick erhoben, da die Herrschaft der älteren Akademiker gebrochen war.

Von solcher Selbstherrlichkeit ist in Geulens Buch keine Spur, und gerade deshalb zeigt es uns die andere, zerbrechliche Seite der Republik, ihre Traumseite. Die alte Bundesrepublik war nicht dauernde Präsenz. Vielmehr erlebte, ja beförderte man gelegentlich Absencen, die heute ganz und gar unwahrscheinlich wären: mentale Fluchten, gedankliche Fluchtpunkte, Unsicherheiten im Sinne Frischs bei wachsendem Wohlstand und immer größerer materieller Sicherheit. Umgekehrt zu den heutigen Zuständen, wo die Unsicherheiten sozial real und der bürgerliche Wohlstand eine kollektive Phantasmagorie geworden ist, die von einer neuen Klasse vorgelebt wird.

Darauf stößt man explizit in einem weiteren bemerkenswerten Erinnerungsbuch, das ebenfalls von einem Germanisten stammt - von Götz Großklaus, Emeritus für Literaturwissenschaft und Mediengeschichte an der Universität Karlsruhe ("Ortszeit". Judicium Verlag, München 2005. 112 S., geb., 12,- [Euro]). Er hat das Gefühl, "daß an der Sache etwas sei und auch wieder nicht", als biographisches Grundmotiv ausgeführt. Großklaus, der über Zeitgestaltung in den Trauerspielen des Andreas Gryphius und über Medienbilder geschrieben hat, schildert ein Nachkriegsleben, in dem der Protagonist zwischen Festlegung und Ausbruch schwankt, in dem Italien und Ägypten die Schauplätze eines fiebrig-erotischen Gegenentwurfs zur bürgerlichen Existenz sind.

Ebenso wie aus dem Gedanken des jungen Hans Geulen, einfach Tagelöhner zu werden und sich wie der Dichter bei Hofmannsthal bettlergleich im Abseits verborgen zu halten, spricht auch aus den Erinnerungen von Großklaus eine deutsche Erfahrung, die in all den Erinnerungsbüchern des Kriegsendes kaum vorzukommen schien. Es ist das Motiv einer virulenten Weltflucht, einer gezähmten Sehnsucht, die als Dehnungsfuge im intellektuellen Leben ebenso wie im Alltagsleben eingebaut war. Man hat ihrer Wirkung im Hinblick auf die deutsche Phantasiebegabung wahrscheinlich mehr zu verdanken, als man ahnen kann, und fragt sich unwillkürlich, wo denn heute eine solche zweite Realität als Generationenerfahrung zu entdecken wäre. Deutschland ist erst heute in der Welt angekommen.

MICHAEL JEISMANN

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