»Ich war der Kranke, der Mutterkranke«
Mutter Mutter Mutter. Er wird es nicht los, dieses ständige Geraune in seinem Kopf. Nicht auf der Couch des Psychoanalytikers, nicht in Berlin, der Stadt seiner Kindheit, und erst recht nicht auf seinen Reisen, sei es nach Mecklenburg-Vorpommern, nach Rom oder gar nach Kalkutta. Er, das ist Franz, der tragisch-komische Held in Hans-Ulrichs Treichels neuem Roman, in dessen Gehörgängen sich die mütterliche Stimme eingenistet hat wie ein immerwährender Pfeifton. Eine Störung, eine Mutterstörung, ohne Frage, die von weit her kommt, mindestens aus der Kindheit, und wovon ihn Andrea, die jungenhafte und ganz und gar unmütterliche Fotografin, zumindest eine Zeitlang zu heilen versteht. Doch Andrea bleibt nicht bei Franz. Und vor seiner Mutter hält er nicht stand – selbst dann nicht, als längst keine Macht mehr von ihr ausgeht und ihre Stimme verstummt.
Frühe Störung ist die Geschichte einer verfehlten, schuldhaften und niemals gelösten Bindung eines Sohnes an seine Mutter, eine Geschichte, wie sie nur Hans-Ulrich Treichel zu erzählen versteht: tieftraurig, oft genug komisch und erfüllt von schmerzlicher Ironie.
Mutter Mutter Mutter. Er wird es nicht los, dieses ständige Geraune in seinem Kopf. Nicht auf der Couch des Psychoanalytikers, nicht in Berlin, der Stadt seiner Kindheit, und erst recht nicht auf seinen Reisen, sei es nach Mecklenburg-Vorpommern, nach Rom oder gar nach Kalkutta. Er, das ist Franz, der tragisch-komische Held in Hans-Ulrichs Treichels neuem Roman, in dessen Gehörgängen sich die mütterliche Stimme eingenistet hat wie ein immerwährender Pfeifton. Eine Störung, eine Mutterstörung, ohne Frage, die von weit her kommt, mindestens aus der Kindheit, und wovon ihn Andrea, die jungenhafte und ganz und gar unmütterliche Fotografin, zumindest eine Zeitlang zu heilen versteht. Doch Andrea bleibt nicht bei Franz. Und vor seiner Mutter hält er nicht stand – selbst dann nicht, als längst keine Macht mehr von ihr ausgeht und ihre Stimme verstummt.
Frühe Störung ist die Geschichte einer verfehlten, schuldhaften und niemals gelösten Bindung eines Sohnes an seine Mutter, eine Geschichte, wie sie nur Hans-Ulrich Treichel zu erzählen versteht: tieftraurig, oft genug komisch und erfüllt von schmerzlicher Ironie.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Heiter ist nur der Plauderton dieses Buchs, versichert die gefesselte Rezensentin Angelika Overath. Darunter lauert die Schwärze einer viel zu engen, unlösbaren Mutter-Sohn-Beziehung, deren Tragik der Autor im Duktus eines gebildeten Nichtstuers gnadenlos auffalte: eine "Großaufnahme monströser, schweißnasser Intimität", am beklemmendsten geschildert in jenem Bild des Mittagsschlafs, den der Autor als Kind zusammen mit seiner Mutter halten musste: Stillhalten an der Seite der schlafenden Mutter. Overath breitet noch mehr bedrückende Szenen vor uns aus - nicht alle haben direkt mit der Mutter zu tun. Aber alles steht für sie im trüben und doch faszinierenden Licht dieser erdrückenden Beziehung, die nicht einmal als ein Missbrauch wirklich in Worte zu fassen sei.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.03.2014Jede Ferne ist
eine Mutterferne
Hans-Ulrichs Treichels neuer Roman „Frühe Störung“
Wer sich jahrelang einer Psychoanalyse unterzogen hat, kann sich womöglich die Schreibschule sparen. Was man auf der Couch des Analytikers gelernt hat, ist auch am Schreibtisch von Vorteil: Aus Ich-Bezogenheit, Ausdauer, Erinnerungslust und vor allem dem Zutrauen in die eigene Formulierungsfähigkeit lässt sich bestimmt ein Text machen. Erinnern, wiederholen, durcharbeiten: So geht Literatur in der Folge von Sigmund Freud. Irgendwelche Kindheitstraumata trägt schließlich jeder mit sich herum und also auch einen potenziellen Roman.
Der Ich-Erzähler in Hans-Ulrich Treichels „Frühe Störung“ ist so eine Figur, und er beginnt auch gleich mit dem Satz: „Ich hatte mich auf die Couch gelegt und über meine Mutter geredet.“ Damit hört er dann gar nicht mehr auf, auch wenn die Analyse längst beendet ist und dem „Damals“ der erzählten Zeit angehört, die kurz nach der Wende, Anfang der Neunzigerjahre in Berlin anzusiedeln ist. Unklar bleibt, von welcher Gegenwart aus der Ich-Erzähler sich erinnert, aber das ist eigentlich auch egal, denn seither scheint sich nicht viel verändert zu haben. Er spricht ja immer noch über sich und seine Mutter, über das unablässige „Mutter Mutter Mutter“ in seinem Kopf, und so wird Literatur, was einmal Analyse war. Die Rolle des Analytikers, der ja vor allem ein Zuhörer ist, übernimmt der Leser – bloß dass Leser fürs Zuhören nicht bezahlt werden. Ganz im Gegenteil.
Treichels Held ist, wie alle Treichel-Helden, eine bedauernswerte Gestalt. Ein verklemmter Weichling, ein Angsthase, ein Erfolgloser. Er ist – man kann es nicht anders sagen – der Prototyp des Muttersöhnchens. Aufgewachsen in der Charlottenburger Mommsenstraße und rund um den Savignyplatz, wohnt er nun in einer kleinen, billigen Wohnung in Moabit und lebt von den Mieteinnahmen der Wohnung, die er von der Mutter geerbt hat. Denn die Mutter ist an Krebs gestorben. Abwesend ist sie deshalb noch lange nicht, zumal der Sohn mit Schuldgefühlen zu kämpfen hat, weil er, als ihr die Brust amputiert wurde, in Rom weilte und später, als sie den finalen Krankenhausaufenthalt antrat, zu einer kurzen Indienreise aufbrach. Auch wenn diese Reise nur ein paar Tage dauerte: Jede Abwesenheit von der Mutter erfüllt ihn mit Schuld. Jede Ferne ist eine Mutterferne, ein vergeblicher Versuch, aus dem Mutterschatten herauszukommen.
Psychoanalyse und Indien: Das hat in der deutschen Literatur schon einmal Ernst Augustin vorbildhaft komisch geschrieben. Mutter und Sohn: Da ist natürlich Loriots „Ödipussi“ nicht weit. Psychoanalyse, West-Berlin und immer wieder Reisen nach Italien: Das sind Treichel-Sujets seit seinen frühen Erzählungen in den Achtzigerjahren. Als Experte für Schuld- und Schamgefühle und Kindheitstraumata hat er sich spätestens mit seinem Bestseller „Der Verlorene“ etabliert. Erfolglose Helden, die sich nach Liebe ebenso sehnen, wie sie unfähig dazu sind, finden sich in all seinen Büchern. „Frühe Störung“ setzt auf das Bewährte und arbeitet es ein weiteres Mal durch. Die Motive sind schon auf den ersten Seiten versammelt, was folgt, sind Wiederholungen. Die gehören zwar zwingend zur Psychoanalyse, für die Literatur sind sie aber nicht unbedingt vorteilhaft.
Die Urszene, die alles Weitere enthält, ist der gemeinsame Mittagsschlaf, den der Held in seiner Kindheit täglich im Bett der Mutter zu absolvieren hatte. Und während sie, bekleidet mit einem transparenten Nachthemd, sich an den Sohn drängte, versuchte er Zentimeterweise zu entkommen bis an den Rand des Bettes, war aber zur Nähe verurteilt, ohne dass es ihm gelang, wenigstens ein bisschen Luft zwischen sich und ihren schweißnassen Körper zu bekommen. Diese Szene ist wirklich stark, und sie scheint auch dem Autor selbst so sehr gefallen zu haben, dass er sie mehrmals wiederholt, ohne ihr aber mehr Gewicht verleihen zu können. Es war ja schon beim ersten Mal alles da.
Dass so ein Erlebnis nachhaltig verstört, ist verständlich. Alle Sehnsucht im späteren Leben wird dadurch kontaminiert. Und wenn Franz Walter – so heißt der unglückliche Sohn – einer Frau begegnet, die er lieben möchte, schreckt er davor zurück, weil „eine Liebesbeziehung mit Nähe verbunden“ ist, und das erscheint ihm dann doch allzu problematisch. Andererseits sehnt er sich nach nichts so sehr wie nach Nähe, ja, Nähe ist ihm viel zu wenig. Am liebsten würde er ganz und gar und bis in jede einzelne Körperzelle hinein mit der geliebten Person verschmelzen, sodass jede Umarmung, die er erlebt, gleichzeitig viel zu viel und viel zu wenig ist.
Ähnlich wie in der Liebe ist es auch mit dem Beruf. Franz fristet sein Dasein als Autor von Reiseführern oder vielmehr eines einzigen Reiseführers: Fischland – Darß – Zingst. In den Jahren nach der Wende erleben derartige Broschüren einen gewissen Boom, solange die Westler den unbekannten Osten des neuen Deutschlands erkunden wollen. Aber damit ist es bald vorbei; der Besuch beim Verleger in einer riesigen Charlottenburger Wohnung gehört zu den komischen Höhepunkten des Romans. Prekäre Existenzformen, die sich vom Studentenleben nur unwesentlich unterscheiden, gab es in West-Berlin schon immer.
Wie Treichel das alles erzählt, ist gekonnt, sehr gekonnt, ja: routiniert. Er schreibt in kurzen, knappen, präzisen Sätzen, die sich zuverlässig ins Absurde hinein steigern. So verwandelt er das Tragische in etwas Komisches, auch wenn der Ich-Erzähler von sich selbst behauptet: „Humor interessiert mich überhaupt nicht“. Das stimmt wohl auch, denn Humor ist etwas anderes als Ironie. Ironie aber beherrscht Treichel im Schlaf, und es gibt wohl keinen Satz in diesem Buch, der nicht davon durchtränkt wäre. Und das ist das Problem: In dieser Ironie droht alles leerzulaufen. Da gibt es keine Widerstände mehr und keinen Schmerz, sondern nur noch ein sanftes Lächeln.
Es ist aber immer noch der Ich-Erzähler Franz Walter, der da spricht, und dessen Mutterprobleme offenbar keineswegs überwunden sind, auch wenn er auf sich selbst und seine Muttergeschichte im Vergangenheitstonfall zurückblickt. Die Anlage des Romans krankt daran, dass es keinen Unterschied gibt zwischen ihm als dem späteren Erzähler seiner Geschichte und ihm als Fall, den er darstellt. Deshalb gibt es eigentlich auch keinen Grund für seine Ironie, die ja ein Drüberstehen signalisiert. Er steht aber nicht drüber. Die Mutter hat ihn auch als Tote nicht verlassen. Ihre Rufe schallen immer noch durch seinen Kopf. Wäre dieser Franz tatsächlich sich selbst gegenüber so ironiefähig, wie es der Autor Hans-Ulrich Treichel ist, dann gäbe es diesen Roman gar nicht – jedenfalls nicht in diesem Tonfall. Ein allzu großer Verlust wäre das aber nicht. Treichel hat schon bessere Bücher geschrieben, die viel mehr unter die Haut gingen als dieses in ein heiteres Parlando verwandelte Muttersöhnchenseelenleid.
JÖRG MAGENAU
Hans-Ulrich Treichel: Frühe Störung. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014, 189 Seiten, 18,95 Euro.
Ein Therapeut wird fürs
Zuhören bezahlt, für einen
Leser gilt das leider nicht
Hans-Ulrich Treichel , 1952 in Versmold/Westfalen geboren, lebt als Schriftsteller in Berlin und Leipzig. Seit 1995 ist er Professor am Deutschen Literaturinstitut der Universität Leipzig.
Foto: Heike Steinweg / Suhrkamp Verlag
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eine Mutterferne
Hans-Ulrichs Treichels neuer Roman „Frühe Störung“
Wer sich jahrelang einer Psychoanalyse unterzogen hat, kann sich womöglich die Schreibschule sparen. Was man auf der Couch des Analytikers gelernt hat, ist auch am Schreibtisch von Vorteil: Aus Ich-Bezogenheit, Ausdauer, Erinnerungslust und vor allem dem Zutrauen in die eigene Formulierungsfähigkeit lässt sich bestimmt ein Text machen. Erinnern, wiederholen, durcharbeiten: So geht Literatur in der Folge von Sigmund Freud. Irgendwelche Kindheitstraumata trägt schließlich jeder mit sich herum und also auch einen potenziellen Roman.
Der Ich-Erzähler in Hans-Ulrich Treichels „Frühe Störung“ ist so eine Figur, und er beginnt auch gleich mit dem Satz: „Ich hatte mich auf die Couch gelegt und über meine Mutter geredet.“ Damit hört er dann gar nicht mehr auf, auch wenn die Analyse längst beendet ist und dem „Damals“ der erzählten Zeit angehört, die kurz nach der Wende, Anfang der Neunzigerjahre in Berlin anzusiedeln ist. Unklar bleibt, von welcher Gegenwart aus der Ich-Erzähler sich erinnert, aber das ist eigentlich auch egal, denn seither scheint sich nicht viel verändert zu haben. Er spricht ja immer noch über sich und seine Mutter, über das unablässige „Mutter Mutter Mutter“ in seinem Kopf, und so wird Literatur, was einmal Analyse war. Die Rolle des Analytikers, der ja vor allem ein Zuhörer ist, übernimmt der Leser – bloß dass Leser fürs Zuhören nicht bezahlt werden. Ganz im Gegenteil.
Treichels Held ist, wie alle Treichel-Helden, eine bedauernswerte Gestalt. Ein verklemmter Weichling, ein Angsthase, ein Erfolgloser. Er ist – man kann es nicht anders sagen – der Prototyp des Muttersöhnchens. Aufgewachsen in der Charlottenburger Mommsenstraße und rund um den Savignyplatz, wohnt er nun in einer kleinen, billigen Wohnung in Moabit und lebt von den Mieteinnahmen der Wohnung, die er von der Mutter geerbt hat. Denn die Mutter ist an Krebs gestorben. Abwesend ist sie deshalb noch lange nicht, zumal der Sohn mit Schuldgefühlen zu kämpfen hat, weil er, als ihr die Brust amputiert wurde, in Rom weilte und später, als sie den finalen Krankenhausaufenthalt antrat, zu einer kurzen Indienreise aufbrach. Auch wenn diese Reise nur ein paar Tage dauerte: Jede Abwesenheit von der Mutter erfüllt ihn mit Schuld. Jede Ferne ist eine Mutterferne, ein vergeblicher Versuch, aus dem Mutterschatten herauszukommen.
Psychoanalyse und Indien: Das hat in der deutschen Literatur schon einmal Ernst Augustin vorbildhaft komisch geschrieben. Mutter und Sohn: Da ist natürlich Loriots „Ödipussi“ nicht weit. Psychoanalyse, West-Berlin und immer wieder Reisen nach Italien: Das sind Treichel-Sujets seit seinen frühen Erzählungen in den Achtzigerjahren. Als Experte für Schuld- und Schamgefühle und Kindheitstraumata hat er sich spätestens mit seinem Bestseller „Der Verlorene“ etabliert. Erfolglose Helden, die sich nach Liebe ebenso sehnen, wie sie unfähig dazu sind, finden sich in all seinen Büchern. „Frühe Störung“ setzt auf das Bewährte und arbeitet es ein weiteres Mal durch. Die Motive sind schon auf den ersten Seiten versammelt, was folgt, sind Wiederholungen. Die gehören zwar zwingend zur Psychoanalyse, für die Literatur sind sie aber nicht unbedingt vorteilhaft.
Die Urszene, die alles Weitere enthält, ist der gemeinsame Mittagsschlaf, den der Held in seiner Kindheit täglich im Bett der Mutter zu absolvieren hatte. Und während sie, bekleidet mit einem transparenten Nachthemd, sich an den Sohn drängte, versuchte er Zentimeterweise zu entkommen bis an den Rand des Bettes, war aber zur Nähe verurteilt, ohne dass es ihm gelang, wenigstens ein bisschen Luft zwischen sich und ihren schweißnassen Körper zu bekommen. Diese Szene ist wirklich stark, und sie scheint auch dem Autor selbst so sehr gefallen zu haben, dass er sie mehrmals wiederholt, ohne ihr aber mehr Gewicht verleihen zu können. Es war ja schon beim ersten Mal alles da.
Dass so ein Erlebnis nachhaltig verstört, ist verständlich. Alle Sehnsucht im späteren Leben wird dadurch kontaminiert. Und wenn Franz Walter – so heißt der unglückliche Sohn – einer Frau begegnet, die er lieben möchte, schreckt er davor zurück, weil „eine Liebesbeziehung mit Nähe verbunden“ ist, und das erscheint ihm dann doch allzu problematisch. Andererseits sehnt er sich nach nichts so sehr wie nach Nähe, ja, Nähe ist ihm viel zu wenig. Am liebsten würde er ganz und gar und bis in jede einzelne Körperzelle hinein mit der geliebten Person verschmelzen, sodass jede Umarmung, die er erlebt, gleichzeitig viel zu viel und viel zu wenig ist.
Ähnlich wie in der Liebe ist es auch mit dem Beruf. Franz fristet sein Dasein als Autor von Reiseführern oder vielmehr eines einzigen Reiseführers: Fischland – Darß – Zingst. In den Jahren nach der Wende erleben derartige Broschüren einen gewissen Boom, solange die Westler den unbekannten Osten des neuen Deutschlands erkunden wollen. Aber damit ist es bald vorbei; der Besuch beim Verleger in einer riesigen Charlottenburger Wohnung gehört zu den komischen Höhepunkten des Romans. Prekäre Existenzformen, die sich vom Studentenleben nur unwesentlich unterscheiden, gab es in West-Berlin schon immer.
Wie Treichel das alles erzählt, ist gekonnt, sehr gekonnt, ja: routiniert. Er schreibt in kurzen, knappen, präzisen Sätzen, die sich zuverlässig ins Absurde hinein steigern. So verwandelt er das Tragische in etwas Komisches, auch wenn der Ich-Erzähler von sich selbst behauptet: „Humor interessiert mich überhaupt nicht“. Das stimmt wohl auch, denn Humor ist etwas anderes als Ironie. Ironie aber beherrscht Treichel im Schlaf, und es gibt wohl keinen Satz in diesem Buch, der nicht davon durchtränkt wäre. Und das ist das Problem: In dieser Ironie droht alles leerzulaufen. Da gibt es keine Widerstände mehr und keinen Schmerz, sondern nur noch ein sanftes Lächeln.
Es ist aber immer noch der Ich-Erzähler Franz Walter, der da spricht, und dessen Mutterprobleme offenbar keineswegs überwunden sind, auch wenn er auf sich selbst und seine Muttergeschichte im Vergangenheitstonfall zurückblickt. Die Anlage des Romans krankt daran, dass es keinen Unterschied gibt zwischen ihm als dem späteren Erzähler seiner Geschichte und ihm als Fall, den er darstellt. Deshalb gibt es eigentlich auch keinen Grund für seine Ironie, die ja ein Drüberstehen signalisiert. Er steht aber nicht drüber. Die Mutter hat ihn auch als Tote nicht verlassen. Ihre Rufe schallen immer noch durch seinen Kopf. Wäre dieser Franz tatsächlich sich selbst gegenüber so ironiefähig, wie es der Autor Hans-Ulrich Treichel ist, dann gäbe es diesen Roman gar nicht – jedenfalls nicht in diesem Tonfall. Ein allzu großer Verlust wäre das aber nicht. Treichel hat schon bessere Bücher geschrieben, die viel mehr unter die Haut gingen als dieses in ein heiteres Parlando verwandelte Muttersöhnchenseelenleid.
JÖRG MAGENAU
Hans-Ulrich Treichel: Frühe Störung. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014, 189 Seiten, 18,95 Euro.
Ein Therapeut wird fürs
Zuhören bezahlt, für einen
Leser gilt das leider nicht
Hans-Ulrich Treichel , 1952 in Versmold/Westfalen geboren, lebt als Schriftsteller in Berlin und Leipzig. Seit 1995 ist er Professor am Deutschen Literaturinstitut der Universität Leipzig.
Foto: Heike Steinweg / Suhrkamp Verlag
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»Es gibt in dieser erstaunlichen Prosa ... böse Tiefen unter einer scheinbar dahinplätschernden Oberfläche...« Angelika Overath Neue Zürcher Zeitung 20140819