14 Erzählungen vom ersten russischen Literaturnobelpreisträger auf der Höhe seines Schaffens
1913 ist eines der produktivsten Jahre in Iwan Bunins Schriftstellerleben. In den Erzählungen dieses Jahres nimmt er voller Empathie die russische Seele in den Blick. Mit seiner ganzen Erzählgewalt zeichnet Iwan Bunin präzise, anrührende Skizzen einer Welt, die zwischen boomenden Großstädten und den Strapazen der aufbegehrenden Landbevölkerung zu zerreißen droht. Klarheit und nebliges Verwischen, Zuneigung und Befremden lösen sich ab, und am Horizont beginnt die Ankündigung existentieller Umbrüche heraufzuziehen.
Mit einem Nachwort des Herausgebers Thomas Grob und Anmerkungen der Übersetzerin Dorothea Trottenberg.
1913 ist eines der produktivsten Jahre in Iwan Bunins Schriftstellerleben. In den Erzählungen dieses Jahres nimmt er voller Empathie die russische Seele in den Blick. Mit seiner ganzen Erzählgewalt zeichnet Iwan Bunin präzise, anrührende Skizzen einer Welt, die zwischen boomenden Großstädten und den Strapazen der aufbegehrenden Landbevölkerung zu zerreißen droht. Klarheit und nebliges Verwischen, Zuneigung und Befremden lösen sich ab, und am Horizont beginnt die Ankündigung existentieller Umbrüche heraufzuziehen.
Mit einem Nachwort des Herausgebers Thomas Grob und Anmerkungen der Übersetzerin Dorothea Trottenberg.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.05.2019NEUE TASCHENBÜCHER
Versunkene Welt –
Iwan Bunins Erzählungen 1913
Nichts, aber rein gar nichts deutet in den menschlich allzumenschlichen Erzählungen, die Iwan Bunin 1913 zu Papier gebracht hat, darauf hin, dass die Welt, die er dort zum Leben erweckt, bald nicht mehr existieren würde. Es ist die russische Provinz. Ein paar Katen bilden ein Dorf, drum herum Roggenfelder. „Dürres Gras“ heißt eine dieser Geschichten, eine andere „An der Landstraße“, und wenn ein Steppendorf, wie das in der Legende vom seligen Narr in Christo Ioann Rydalez über eine neue Bahnstation verfügt, dann hält trotzdem nicht die große Welt und mit ihr die Säkularisierung Einzug: „An der Bahnstation Greschnoje wird es still und ausgestorben, wenn der Zug in der Steppe verschwindet.“
Iwan Bunin, und das macht die Meisterschaft des späteren Nobelpreisträgers aus, genügen wenige Sätze von großer Klarheit, um dem Leser die Landschaft vor Augen zu führen. „Nach Norden hin war es schon vollkommen finster. Dort senkte sich eine Wolke herab. Der leichte Wind, der von allen Seiten her blies, frischte mitunter auf, fegte ungestüm über Roggen und Hafer, und das Korn raschelte trocken und unruhig“, heißt es in „Der Prophet Elias“. Aus dieser Landschaft schält Bunin einzelne Menschen heraus, scharf gestellt, als hätte er ein Fernrohr im Anschlag. Einen eingeschüchterten Seminaristen hier, einen buckligen Kleinbürger dort. Und immer wieder Bauern, arme wie reiche. Wer je gelesen hat, wie sich Awdej Sabota in der gleichnamigen Prosaminiatur mit seinem Hammel in die Stadt schleppt, wird diesen kummergebeugten Alten wohl nie mehr vergessen. Ebenso wenig wie den Fürsten in der titelgebenden Erzählung „Frühling“. Mit der aufblühenden Natur erwacht auch dieser wieder zum Leben – er hatte den Winter vertrunken – und macht sich auf zur Familiengruft, wo ihn der Gedanke an die Vergänglichkeit alles Irdischen eiskalt erwischt: „Um nicht wieder das Trinken anzufangen, fuhr der Fürst am nächsten Tag in aller Frühe mit dem alten Pankrat nach Sadonsk. Das Sommergetreide säte man ohne ihn aus.“ FLORIAN WELLE
Iwan Bunin: Frühling. Erzählungen 1913. Hrsg. u. Nw. v. Thomas Grob. A. d. Russ. v. Dorothea Trottenberg. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2019. 288 Seiten, 14 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Versunkene Welt –
Iwan Bunins Erzählungen 1913
Nichts, aber rein gar nichts deutet in den menschlich allzumenschlichen Erzählungen, die Iwan Bunin 1913 zu Papier gebracht hat, darauf hin, dass die Welt, die er dort zum Leben erweckt, bald nicht mehr existieren würde. Es ist die russische Provinz. Ein paar Katen bilden ein Dorf, drum herum Roggenfelder. „Dürres Gras“ heißt eine dieser Geschichten, eine andere „An der Landstraße“, und wenn ein Steppendorf, wie das in der Legende vom seligen Narr in Christo Ioann Rydalez über eine neue Bahnstation verfügt, dann hält trotzdem nicht die große Welt und mit ihr die Säkularisierung Einzug: „An der Bahnstation Greschnoje wird es still und ausgestorben, wenn der Zug in der Steppe verschwindet.“
Iwan Bunin, und das macht die Meisterschaft des späteren Nobelpreisträgers aus, genügen wenige Sätze von großer Klarheit, um dem Leser die Landschaft vor Augen zu führen. „Nach Norden hin war es schon vollkommen finster. Dort senkte sich eine Wolke herab. Der leichte Wind, der von allen Seiten her blies, frischte mitunter auf, fegte ungestüm über Roggen und Hafer, und das Korn raschelte trocken und unruhig“, heißt es in „Der Prophet Elias“. Aus dieser Landschaft schält Bunin einzelne Menschen heraus, scharf gestellt, als hätte er ein Fernrohr im Anschlag. Einen eingeschüchterten Seminaristen hier, einen buckligen Kleinbürger dort. Und immer wieder Bauern, arme wie reiche. Wer je gelesen hat, wie sich Awdej Sabota in der gleichnamigen Prosaminiatur mit seinem Hammel in die Stadt schleppt, wird diesen kummergebeugten Alten wohl nie mehr vergessen. Ebenso wenig wie den Fürsten in der titelgebenden Erzählung „Frühling“. Mit der aufblühenden Natur erwacht auch dieser wieder zum Leben – er hatte den Winter vertrunken – und macht sich auf zur Familiengruft, wo ihn der Gedanke an die Vergänglichkeit alles Irdischen eiskalt erwischt: „Um nicht wieder das Trinken anzufangen, fuhr der Fürst am nächsten Tag in aller Frühe mit dem alten Pankrat nach Sadonsk. Das Sommergetreide säte man ohne ihn aus.“ FLORIAN WELLE
Iwan Bunin: Frühling. Erzählungen 1913. Hrsg. u. Nw. v. Thomas Grob. A. d. Russ. v. Dorothea Trottenberg. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2019. 288 Seiten, 14 Euro.
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Iwan Bunin [...] genügen wenige Sätze von großer Klarheit, um dem Leser die Landschaft vor Augen zu führen. Florian Welle Süddeutsche Zeitung 20190507
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.11.2016Wir schlafen sämtlich auf Vulkanen
Iwan Bunin kennt alle Register des russischen Erzählens. Seine Geschichten von 1913 führen in ein letztes glückliches Jahr, ehe Bunins Welt kurz darauf in Krieg und Revolution untergehen wird.
Im Jahr 1913 geht es dem russischen Schriftsteller Iwan Bunin glänzend. Er ist berühmt, mehrfach preisgekrönt und bereitet mit 43 Jahren seine erste Werkausgabe vor. Gern verbringt er den Winter auf Capri, wo sich auch andere russische Künstler aufhalten, Maxim Gorki zum Beispiel oder der Sänger Schaljapin, ein Halbgott der Opernwelt. Auf den Fotos erscheint Bunin auffällig elegant. Während Tschechow immer etwas verstrubbelt wirkt und Tolstoi mit seinem Mosesbart wie ein Prophet oder einer, der den Propheten spielt - Bunin hat beide persönlich gekannt -, könnte man sich ihn in jedem Pariser Salon denken. Nichts scheint ihn vom reichen russischen Bürgertum zu trennen, das alljährlich in feudalen Eisenbahncoupés zu den Metropolen und warmen Küsten des westlichen Europas reist.
"Wir schlafen sämtlich auf Vulkanen", hat Goethe einmal geschrieben. Auf kein Jahr trifft der Satz so dramatisch zu wie auf dieses 1913, das Bunin später wie eine ferne Fata Morgana vorgekommen sein muss. Ein Jahr darauf brach der Weltkrieg aus mit schweren Niederlagen für das Zarenreich, noch einmal drei Jahre später die Russische Revolution, die in einen furchtbaren Bürgerkrieg überging und 1922 zur Gründung der Sowjetunion führte, der ersten "Diktatur des Proletariats". Bunin, der sich auf Seiten der Gegner Lenins engagiert und mit Gorki gebrochen hatte, konnte 1920 mit dem letzten Schiff, das Odessa verließ, nach Istanbul fliehen und wenig später weiter nach Paris. Hier und im Hinterland von Cannes, hoch über Grasse, lebte er von nun an als Staatenloser, im Zweiten Weltkrieg und unter der deutschen Besatzung abermals gefährdet - aber immerzu schreibend. Er beneide den alten Noah, meinte er einmal in vorgerückten Jahren, dieser habe nur eine einzige Sintflut überstehen müssen.
Der neue Band der Bunin-Werkausgabe im Zürcher Dörlemann-Verlag enthält vierzehn Erzählungen von 1913, diesem letzten glücklichen Jahr. Wenn die Schriftsteller, wie man gelegentlich hören kann, die Seismographen der Weltgeschichte sind, müsste sich das kommende Unheil in diesem Buch ankündigen. Das ist nicht der Fall. Niemand schüttelt hier heimlich die revolutionäre Faust. Aber aus der Tatsache, dass der Band "Frühling" heißt und ein idyllisches Bild auf dem Deckel trägt, darf man nun auch wieder nicht auf einen wonnevollen Inhalt schließen.
Die Geschichten sind bald ergreifend, bald verstörend. Eine groteske Komik kann sich mit scharfer Satire verbinden. Es ist gar nicht möglich, Bunins Schreiben übergreifend zu charakterisieren. Er verfügt über alle Register des russischen Geschichtenerzählens, das sich seit Gogol so vielseitig ausgebildet hat, geschult zuerst an E. T. A. Hoffmann, dann an den Franzosen. Weil sein künstlerischer Aufstieg zusammenfällt mit der Zeit der Avantgarden und ikonoklastischen Manifeste, die auch in Russland blühten - bei den Suprematisten zum Beispiel -, Bunin aber davon so unberührt blieb wie in Deutschland der fünf Jahre jüngere Thomas Mann, gilt er bei vielen, die nicht so genau zusehen, als ein Autor, der den bürgerlichen Realismus des neunzehnten Jahrhunderts im zwanzigsten fortsetzte. Das ist so falsch, wie es Thomas Mann gegenüber falsch wäre. Beide verkörpern eine je eigene Form der Moderne. So wie beide auf je eigene Weise die elegante Erscheinung pflegten, die italienischen Seebäder liebten und von ihren Vaterländern verstoßen wurden.
Dass alle Geschichten dieser Sammlung in kleinen Städten und armen bis armseligen Dörfern spielen, unter Bauern und Kleinbürgern - da und dort zeigt sich auch ein heruntergekommener Adliger oder ein Student mit der tschechowschen Sehnsucht nach Moskau -, ist ebenfalls kein Grund, sie der literarischen Nachhut zuzuschlagen. Bunin wechselt die Register schroff und willkürlich. Er hat den naturalistischen Blick von Zola und Strindberg, erfasst die winzigsten Einzelheiten einer zerfallenden Scheune, eines sterbenden Tiers, eines Menschengesichts und rückt sie in unheimlicher Vergrößerung vor die lesenden Augen, aber gleichzeitig arbeitet er mit den ungebrochenen Farben der Impressionisten. Sie können so unwirklich leuchten wie die Farben in den Romanen, die Eduard von Keyserling nach seiner Erblindung geschrieben hat.
So beherrscht er auch die literarische Skizze, eine charakteristische Kunstform des damaligen Feuilletons. Ein Text, "Sabota", handelt nur davon, wie ein alter Bauer seinen Hammel in die nahe Stadt transportiert, um ihn zu verkaufen. Der Mann ist wohlhabend, aber immer in tiefen Sorgen. Die Angst, das ökonomisch Falsche zu machen, liegt als furchtbare Last auf ihm. Wir verfolgen, plötzlich unsererseits besorgt, alle Handbewegungen, die er macht, bis das Tier gebunden, aus dem Stall geschleppt, auf den Wagen geworfen ist, und wir glauben förmlich, jedes Haar zwischen den geschraubten Hörnern zählen zu können. Die Geschichte endet, bevor die Fuhre auf dem Markt ankommt - ohne Pointe, ohne Schlusseffekt. Und doch kann man den Alten nicht mehr vergessen, dessen Kummer mit ihm so verwachsen ist, als müsste er den Schafbock Tag und Nacht auf seinen Schultern tragen.
Ein Gegenstück in zwölf Kapiteln führt den feierlichen Titel "Der Kelch des Lebens", ist aber eine großartige Komödie. Die Dummköpfe Gogols überblenden sich hier mit jenen von Flaubert. Und während "Sabota" ein paar Stunden beschreibt, umfasst diese Geschichte das ganze lange Leben einer Frau und ihrer drei einstigen Verehrer. Gnadenlos wird das Altern der vier Menschen geschildert, ihr Erstarren in den Lebensrollen, ihre fixen Ideen und Animositäten. Man lacht, bis es einen schaudert.
Schließlich das Mädchen Paraschka ("An der Landstraße"). Sie lebt beim Vater in einem einsamen Haus, ist viel allein, weil dieser in Geschäften herumzieht. Kein Kind mehr und noch nicht erwachsen, wartet sie und weiß nicht, worauf. Es erwacht etwas in ihr, was sie nicht kennt, was aber ihr Handeln gegen ihren Willen lenkt. Ein zwielichtiger junger Mann mit schönen Augen macht Eindruck auf sie, und er merkt es. Nun schaut sie auch den Vater ganz anders an. Ihr Coming-of-age geschieht im Spannungsfeld zwischen den beiden Männern. Angezogen und abgestoßen, wollend und nichtwollend treibt sie auf das zu, was man Liebe nennt. Die widerlogische Psychologie Dostojewskis vibriert in dieser Geschichte, und hinter dem erschreckenden Finale erscheint der Umriss einer Tragödie.
Merkwürdig ist, dass Bunin, der das alte, ländliche, stagnierende Russland so eindringlich geschildert hat, etwas später einen jähen Welterfolg erzielte mit der Erzählung über den Tod eines schwerreichen Amerikaners auf einer luxuriösen Europareise, "Der Herr aus San Francisco". 1915 geschrieben, erregte sie nach dem Krieg insbesondere in der angelsächsischen Welt hohes Aufsehen. D. H. Lawrence hat sie übersetzt, Leonard und Virginia Woolf haben sie 1922 in London publiziert. Heute nimmt sie sich aus wie ein Stück Literatur aus den illusionslos-frechen zwanziger Jahren, ein Vorspiel zum "Großen Gatsby". Man könnte daraus schließen, dass in Bunins Schaffen doch seismographische Energien wirksam sind.
PETER VON MATT
Iwan Bunin: "Frühling". Erzählungen 1913.
Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg. Hrsg. und mit einem Nachwort von Thomas Grob. Dörlemann Verlag, Zürich 2016. 288 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Iwan Bunin kennt alle Register des russischen Erzählens. Seine Geschichten von 1913 führen in ein letztes glückliches Jahr, ehe Bunins Welt kurz darauf in Krieg und Revolution untergehen wird.
Im Jahr 1913 geht es dem russischen Schriftsteller Iwan Bunin glänzend. Er ist berühmt, mehrfach preisgekrönt und bereitet mit 43 Jahren seine erste Werkausgabe vor. Gern verbringt er den Winter auf Capri, wo sich auch andere russische Künstler aufhalten, Maxim Gorki zum Beispiel oder der Sänger Schaljapin, ein Halbgott der Opernwelt. Auf den Fotos erscheint Bunin auffällig elegant. Während Tschechow immer etwas verstrubbelt wirkt und Tolstoi mit seinem Mosesbart wie ein Prophet oder einer, der den Propheten spielt - Bunin hat beide persönlich gekannt -, könnte man sich ihn in jedem Pariser Salon denken. Nichts scheint ihn vom reichen russischen Bürgertum zu trennen, das alljährlich in feudalen Eisenbahncoupés zu den Metropolen und warmen Küsten des westlichen Europas reist.
"Wir schlafen sämtlich auf Vulkanen", hat Goethe einmal geschrieben. Auf kein Jahr trifft der Satz so dramatisch zu wie auf dieses 1913, das Bunin später wie eine ferne Fata Morgana vorgekommen sein muss. Ein Jahr darauf brach der Weltkrieg aus mit schweren Niederlagen für das Zarenreich, noch einmal drei Jahre später die Russische Revolution, die in einen furchtbaren Bürgerkrieg überging und 1922 zur Gründung der Sowjetunion führte, der ersten "Diktatur des Proletariats". Bunin, der sich auf Seiten der Gegner Lenins engagiert und mit Gorki gebrochen hatte, konnte 1920 mit dem letzten Schiff, das Odessa verließ, nach Istanbul fliehen und wenig später weiter nach Paris. Hier und im Hinterland von Cannes, hoch über Grasse, lebte er von nun an als Staatenloser, im Zweiten Weltkrieg und unter der deutschen Besatzung abermals gefährdet - aber immerzu schreibend. Er beneide den alten Noah, meinte er einmal in vorgerückten Jahren, dieser habe nur eine einzige Sintflut überstehen müssen.
Der neue Band der Bunin-Werkausgabe im Zürcher Dörlemann-Verlag enthält vierzehn Erzählungen von 1913, diesem letzten glücklichen Jahr. Wenn die Schriftsteller, wie man gelegentlich hören kann, die Seismographen der Weltgeschichte sind, müsste sich das kommende Unheil in diesem Buch ankündigen. Das ist nicht der Fall. Niemand schüttelt hier heimlich die revolutionäre Faust. Aber aus der Tatsache, dass der Band "Frühling" heißt und ein idyllisches Bild auf dem Deckel trägt, darf man nun auch wieder nicht auf einen wonnevollen Inhalt schließen.
Die Geschichten sind bald ergreifend, bald verstörend. Eine groteske Komik kann sich mit scharfer Satire verbinden. Es ist gar nicht möglich, Bunins Schreiben übergreifend zu charakterisieren. Er verfügt über alle Register des russischen Geschichtenerzählens, das sich seit Gogol so vielseitig ausgebildet hat, geschult zuerst an E. T. A. Hoffmann, dann an den Franzosen. Weil sein künstlerischer Aufstieg zusammenfällt mit der Zeit der Avantgarden und ikonoklastischen Manifeste, die auch in Russland blühten - bei den Suprematisten zum Beispiel -, Bunin aber davon so unberührt blieb wie in Deutschland der fünf Jahre jüngere Thomas Mann, gilt er bei vielen, die nicht so genau zusehen, als ein Autor, der den bürgerlichen Realismus des neunzehnten Jahrhunderts im zwanzigsten fortsetzte. Das ist so falsch, wie es Thomas Mann gegenüber falsch wäre. Beide verkörpern eine je eigene Form der Moderne. So wie beide auf je eigene Weise die elegante Erscheinung pflegten, die italienischen Seebäder liebten und von ihren Vaterländern verstoßen wurden.
Dass alle Geschichten dieser Sammlung in kleinen Städten und armen bis armseligen Dörfern spielen, unter Bauern und Kleinbürgern - da und dort zeigt sich auch ein heruntergekommener Adliger oder ein Student mit der tschechowschen Sehnsucht nach Moskau -, ist ebenfalls kein Grund, sie der literarischen Nachhut zuzuschlagen. Bunin wechselt die Register schroff und willkürlich. Er hat den naturalistischen Blick von Zola und Strindberg, erfasst die winzigsten Einzelheiten einer zerfallenden Scheune, eines sterbenden Tiers, eines Menschengesichts und rückt sie in unheimlicher Vergrößerung vor die lesenden Augen, aber gleichzeitig arbeitet er mit den ungebrochenen Farben der Impressionisten. Sie können so unwirklich leuchten wie die Farben in den Romanen, die Eduard von Keyserling nach seiner Erblindung geschrieben hat.
So beherrscht er auch die literarische Skizze, eine charakteristische Kunstform des damaligen Feuilletons. Ein Text, "Sabota", handelt nur davon, wie ein alter Bauer seinen Hammel in die nahe Stadt transportiert, um ihn zu verkaufen. Der Mann ist wohlhabend, aber immer in tiefen Sorgen. Die Angst, das ökonomisch Falsche zu machen, liegt als furchtbare Last auf ihm. Wir verfolgen, plötzlich unsererseits besorgt, alle Handbewegungen, die er macht, bis das Tier gebunden, aus dem Stall geschleppt, auf den Wagen geworfen ist, und wir glauben förmlich, jedes Haar zwischen den geschraubten Hörnern zählen zu können. Die Geschichte endet, bevor die Fuhre auf dem Markt ankommt - ohne Pointe, ohne Schlusseffekt. Und doch kann man den Alten nicht mehr vergessen, dessen Kummer mit ihm so verwachsen ist, als müsste er den Schafbock Tag und Nacht auf seinen Schultern tragen.
Ein Gegenstück in zwölf Kapiteln führt den feierlichen Titel "Der Kelch des Lebens", ist aber eine großartige Komödie. Die Dummköpfe Gogols überblenden sich hier mit jenen von Flaubert. Und während "Sabota" ein paar Stunden beschreibt, umfasst diese Geschichte das ganze lange Leben einer Frau und ihrer drei einstigen Verehrer. Gnadenlos wird das Altern der vier Menschen geschildert, ihr Erstarren in den Lebensrollen, ihre fixen Ideen und Animositäten. Man lacht, bis es einen schaudert.
Schließlich das Mädchen Paraschka ("An der Landstraße"). Sie lebt beim Vater in einem einsamen Haus, ist viel allein, weil dieser in Geschäften herumzieht. Kein Kind mehr und noch nicht erwachsen, wartet sie und weiß nicht, worauf. Es erwacht etwas in ihr, was sie nicht kennt, was aber ihr Handeln gegen ihren Willen lenkt. Ein zwielichtiger junger Mann mit schönen Augen macht Eindruck auf sie, und er merkt es. Nun schaut sie auch den Vater ganz anders an. Ihr Coming-of-age geschieht im Spannungsfeld zwischen den beiden Männern. Angezogen und abgestoßen, wollend und nichtwollend treibt sie auf das zu, was man Liebe nennt. Die widerlogische Psychologie Dostojewskis vibriert in dieser Geschichte, und hinter dem erschreckenden Finale erscheint der Umriss einer Tragödie.
Merkwürdig ist, dass Bunin, der das alte, ländliche, stagnierende Russland so eindringlich geschildert hat, etwas später einen jähen Welterfolg erzielte mit der Erzählung über den Tod eines schwerreichen Amerikaners auf einer luxuriösen Europareise, "Der Herr aus San Francisco". 1915 geschrieben, erregte sie nach dem Krieg insbesondere in der angelsächsischen Welt hohes Aufsehen. D. H. Lawrence hat sie übersetzt, Leonard und Virginia Woolf haben sie 1922 in London publiziert. Heute nimmt sie sich aus wie ein Stück Literatur aus den illusionslos-frechen zwanziger Jahren, ein Vorspiel zum "Großen Gatsby". Man könnte daraus schließen, dass in Bunins Schaffen doch seismographische Energien wirksam sind.
PETER VON MATT
Iwan Bunin: "Frühling". Erzählungen 1913.
Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg. Hrsg. und mit einem Nachwort von Thomas Grob. Dörlemann Verlag, Zürich 2016. 288 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Es ist gar nicht möglich, Bunins Schreiben übergreifend zu charakterisieren. Er verfügt über alle Register des russischen Geschichtenerzählens.« Peter von Matt / Frankfurter Allgemeine Zeitung
»Die 14 Texte in diesem Band gehören mit zu seinen schönsten Prosaarbeiten. Bunin war ein klassischer Erzähler, der sich vom Modernismus der Zeit abwandte. Vielleicht ist das auch gerade ein Grund dafür, dass diese Prosa die Jahrzehnte so gut überstanden hat.« Jochen Kürten / Deutsche Welle
»Bunin ist ein großartiger Schilderer von Landschaften und Wetter. Seine Stücke schwelgen in den Farben, die die von Sonne und Mond beschienene Landschaft und über ihr die Wolken annehmen.« Bernhard Schulz / Der Tagesspiegel
»In den 14 Erzählungen des vorliegenden Bandes, von denen mehrere von Dorothea Trottenberg gewohnt präzise zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt wurden, ist seine Absicht, wie er selbst es ausdrückt, Züge unserer Seele - der russischen Seele - in ihrer Eigenart zu zeichnen. Er tut das aber eben nicht in dem sentimental-verkitschten Sinne des Begriffs, sondern mit kritischer Schärfe und Schonungslosigkeit.« Karla Hielscher / Deutschlandfunk
»[Der jüngste Band] einer Werkausgabe, die im Schweizer Dörlemann-Verlag kontinuierlich in großartig übersetzten und prächtig aufgemachten Bänden erscheint« Anton Thuswaldner / Stuttgarter Zeitung
»Wie zart, verzeihend und doch unerbittlich genau Iwan Bunin die Welt sah: Wenn der Frühling ausbricht, spielt das alte Russland in diesen meisterlichen Geschichten von 1913 hilflos verrückt.« Nürnberger Zeitung
»Ein sehr tiefes Buch. Wunderbar.« Harald Loch / Die Rheinpfalz
»Die 14 Texte in diesem Band gehören mit zu seinen schönsten Prosaarbeiten. Bunin war ein klassischer Erzähler, der sich vom Modernismus der Zeit abwandte. Vielleicht ist das auch gerade ein Grund dafür, dass diese Prosa die Jahrzehnte so gut überstanden hat.« Jochen Kürten / Deutsche Welle
»Bunin ist ein großartiger Schilderer von Landschaften und Wetter. Seine Stücke schwelgen in den Farben, die die von Sonne und Mond beschienene Landschaft und über ihr die Wolken annehmen.« Bernhard Schulz / Der Tagesspiegel
»In den 14 Erzählungen des vorliegenden Bandes, von denen mehrere von Dorothea Trottenberg gewohnt präzise zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt wurden, ist seine Absicht, wie er selbst es ausdrückt, Züge unserer Seele - der russischen Seele - in ihrer Eigenart zu zeichnen. Er tut das aber eben nicht in dem sentimental-verkitschten Sinne des Begriffs, sondern mit kritischer Schärfe und Schonungslosigkeit.« Karla Hielscher / Deutschlandfunk
»[Der jüngste Band] einer Werkausgabe, die im Schweizer Dörlemann-Verlag kontinuierlich in großartig übersetzten und prächtig aufgemachten Bänden erscheint« Anton Thuswaldner / Stuttgarter Zeitung
»Wie zart, verzeihend und doch unerbittlich genau Iwan Bunin die Welt sah: Wenn der Frühling ausbricht, spielt das alte Russland in diesen meisterlichen Geschichten von 1913 hilflos verrückt.« Nürnberger Zeitung
»Ein sehr tiefes Buch. Wunderbar.« Harald Loch / Die Rheinpfalz