Die Frühschriften von Norbert Elias umfassen die Dissertation und eine Reihe kleinerer Texte, die bislang meist nicht wieder neu publiziert wurden. Ihr Spektrum reicht von den ersten Texten wie Sehen in der Natur und Idee und Individuum bis hin zu seinen Stellungnahmen auf dem Züricher Soziologentag zu den Themen Anfänge der Kunst und Konkurrenz auf dem Gebiet des Geistigen, die ihn als jungen Heidelberger Dozenten zeigen, der zwischen seinem Lehrer Alfred Weber und seinem Kollegen Karl Mannheim steht. Der Beitrag zur Soziologie des Antisemitismus und zwei Aufsätze für Klaus Manns Zeitschrift Die Sammlung, die er in seiner Pariser Exilzeit schrieb, werfen ein Licht auf seine Auseinandersetzung mit den Fragen des Assimilationsprozesses.
Die Frühschriften lassen einen klaren Denkweg erkennen, geprägt von einer humanistischen Ausbildung und weitgefächerten Interessen von der Kunstwissenschaft bis hin zur Wissenschaft der Natur.
Die Frühschriften lassen einen klaren Denkweg erkennen, geprägt von einer humanistischen Ausbildung und weitgefächerten Interessen von der Kunstwissenschaft bis hin zur Wissenschaft der Natur.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.2002Riesengebirge als Rarität
Wer reist, schwärmt: Unbekannte Frühschriften von Norbert Elias
Nicht nur seine brillante Präsentation einer neuen Disziplin - der Wissenssoziologie, die eine Revolution in der Analyse von Denk- und Weltbildstrukturen versprach - machte Karl Mannheim in den zwanziger Jahren zum Faszinosum für die akademische Jugend. Auch seine blauen Seidenhemden und sein eleganter ungarischer Akzent trugen, wie sich sein Schüler Kurt H.Wolff erinnert, ihren Teil dazu bei. 1928 machte er, noch als Heidelberger Privatdozent, auf dem Soziologentag in Zürich Furore, da er offen seinen Ordinarius Alfred Weber herausforderte. Gerade ihn wählte er als Paradebeispiel für die inneren Begrenzungen einer liberalistischen Position. Weber fühlte sich unmanierlich relativiert und reagierte gereizt. Dann meldete sich ein junger Habilitand Webers zu Wort, den Mannheim bereits als informellen Assistenten an sich gezogen hatte: Norbert Elias.
Ohne Scheu vor Loyalitätskonflikten legte dieser in knappen Worten ebenso bedächtig wie unabhängig seine eigenen Schlußfolgerungen aus der Debatte dar, die auch eine zentrale Thematik seines Denkens bleiben sollte: das unauflösliche Ineinander von übergreifender "historischer Bewegung der menschlichen Gesellschaft" und individuellem Entscheidungsspielraum, von "immanenter Notwendigkeit" der Geschichte und ihrer Offenheit als einem "unendlichen Strom". Auch der andere Diskussionsbeitrag von Elias auf dieser Veranstaltung, zu Richard Thurnwalds Vortrag über "Die Anfänge der Kunst", läßt bereits Grundmotive seines Denkens erkennen, die später in seiner Zivilisationstheorie fruchtbar werden sollten, wie etwa seine Habitustheorie. Dabei ist nicht nur eine Nähe zur Wissenssoziologie Mannheims zu spüren, der nach seiner Berufung auf den Frankfurter Oppenheimer-Lehrstuhl für Soziologie im Jahre 1929 Elias sofort als Assistenten und Habilitanden zu sich holte. Es gibt auch eine bemerkenswerte Nähe zum Strukturalismus in Andeutungen zu einer "Theorie des Verstehens", die eine prinzipielle "Fremdheit" des Verstehensobjektes zur Voraussetzung seiner wirklichen inneren Erschließung macht. Zwingt sie doch zum Zerreißen des Schleiers vertrauter, alltäglich gewordener Schematisierungen.
Elias' Plädoyer für das Verstehen sogenannter primitiver Kulturen als Voraussetzung für das der eigenen könnte auch aus dem Munde von Lévi-Strauss stammen, etwa aus dessen "Traurigen Tropen": "Das Menschliche" würde "nur verständlich, wenn man es in seiner Ganzheit ergreift", und es ist "notwendig, um sich selbst zu verstehen, so weit zurückzugehen in der Erforschung des Menschen, als es irgend möglich ist. In diesem Sinne glaube ich, daß jede Periode des Menschlichen für uns in gleichem Maße aktuell ist."
Die zwei Diskussionsbeiträge vom Züricher Soziologentag sind nun zusammen mit zehn weiteren Arbeiten von Elias aus den Jahren 1914 bis 1935 als erster Band der im Auftrag der Amsterdamer "Norbert Elias Stichting" herausgegebenen "Gesammelten Schriften" erschienen. Bis auf drei Aufsätze waren sie fast alle vergessen, darunter auch die noch in Elias' Heimatstadt Breslau entstandene philosophische Dissertation mit dem Titel "Idee und Individuum. Eine kritische Untersuchung zum Begriff der Geschichte", die er bei dem Neukantianer Hönigswald verfertigte.
Eine wirkliche Rarität auch der kurze Reisebericht des Siebzehnjährigen "Die dreitägige Riesengebirgsfahrt", der 1914 in den "Mitteilungen des Jüdischen Wanderbundes Blau-Weiss" erschienen war. Wie der ebenfalls für die "Blau-Weiss-Blätter" geschriebene Artikel "Vom Sehen in der Natur" von 1921 läßt auch schon der frühe Reisebericht ein goetheanisches Verhältnis zur Erfahrungswelt durchscheinen, für das die physiognomische Betrachtung von Ausdruckskonstellationen im Mittelpunkt steht, unabhängig von der Differenz zwischen Natur und Kultur. Dies mag der habituelle Schnittpunkt sein für das vor der Hinwendung zur Philosophie begonnene Medizinstudium, das gänzlich unpositivistische Interesse an der Geschichte der Naturwissenschaften, den metamorphotischen Charakter von Gesellschaft und das Primärphänomen sozialer Figurationen.
Durch solche Einblicke bietet der Band mehr als nur eine nette Versammlung von Nebensächlichkeiten. Vielmehr liefert er mosaikartig Elias' geistige Biographie bis zur Schwelle seiner großen Zivilisationstheorie. Außerdem sind fast alle Beiträge verwoben mit zentralen Stationen seines Lebens. So etwa der Aufsatz "Die Vertreibung der Hugenotten aus Frankreich", den er 1935 in Paris geschrieben hat für die von Klaus Mann herausgegebene Emigrantenzeitschrift "Der Ausweg". Zwei Jahre zuvor war er nach Frankreich emigriert, um wenigstens Leib und Leben retten zu können, nachdem durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten schon seine vielversprechende Karriere brüsk zerstört worden war. Erst 1961 sollte er, vierundsechzig Jahre alt, eine Professur bekommen, in Accra an der Universität von Ghana.
Der Band dokumentiert auch auf eindrucksvolle Weise einen biographischen Zugang zur Soziologe in Zeiten, da sie sich noch nicht auf eine standardisierte Branche reduziert hatte. In der Forscherneugierde berührte sich dort wie selbstverständlich der Soziologe mit dem Künstler, dem Naturforscher, dem Philosophen und dem Historiker - ganz ohne schnittige Interdisziplinaritätsprogramme. In der 1968 seinem Buch über den "Prozeß der Zivilisation" hinzugefügten "Einleitung" rieb sich Elias verwundert die Augen über die Erstarrung des Faches, das seit seiner Zeit in zentralen Fragen wohl keinen Schritt weitergekommen sei, vor allem mit einem materialen Begriff historischer Transformation. Daran hat sich bis heute auch im Schatten der "big theories" von Habermas und Luhmann, in denen die Logifizierung und Formalisierung von Geschichte nur kategorial ausgetüftelter betrieben wird, nicht viel geändert. So berühren sich in der Vertreibung des soziologischen Geistes aus Deutschland biographische Schicksale mit dem des Faches. Ohne sie sähe es heute anders aus.
FERDINAND ZEHENTREITER.
Norbert Elias: "Gesammelte Schriften". Herausgegeben im Auftrag der Norbert Elias Stichting, Amsterdam, von Reinhard Blomert, Heike Hamer, Johan Heilbron, Annette Treibel, Nico Wilterdink. Band 1: Frühschriften. Herausgegeben von Reinhard Blomert. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 192 S., geb., 28,- [Euro].
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Wer reist, schwärmt: Unbekannte Frühschriften von Norbert Elias
Nicht nur seine brillante Präsentation einer neuen Disziplin - der Wissenssoziologie, die eine Revolution in der Analyse von Denk- und Weltbildstrukturen versprach - machte Karl Mannheim in den zwanziger Jahren zum Faszinosum für die akademische Jugend. Auch seine blauen Seidenhemden und sein eleganter ungarischer Akzent trugen, wie sich sein Schüler Kurt H.Wolff erinnert, ihren Teil dazu bei. 1928 machte er, noch als Heidelberger Privatdozent, auf dem Soziologentag in Zürich Furore, da er offen seinen Ordinarius Alfred Weber herausforderte. Gerade ihn wählte er als Paradebeispiel für die inneren Begrenzungen einer liberalistischen Position. Weber fühlte sich unmanierlich relativiert und reagierte gereizt. Dann meldete sich ein junger Habilitand Webers zu Wort, den Mannheim bereits als informellen Assistenten an sich gezogen hatte: Norbert Elias.
Ohne Scheu vor Loyalitätskonflikten legte dieser in knappen Worten ebenso bedächtig wie unabhängig seine eigenen Schlußfolgerungen aus der Debatte dar, die auch eine zentrale Thematik seines Denkens bleiben sollte: das unauflösliche Ineinander von übergreifender "historischer Bewegung der menschlichen Gesellschaft" und individuellem Entscheidungsspielraum, von "immanenter Notwendigkeit" der Geschichte und ihrer Offenheit als einem "unendlichen Strom". Auch der andere Diskussionsbeitrag von Elias auf dieser Veranstaltung, zu Richard Thurnwalds Vortrag über "Die Anfänge der Kunst", läßt bereits Grundmotive seines Denkens erkennen, die später in seiner Zivilisationstheorie fruchtbar werden sollten, wie etwa seine Habitustheorie. Dabei ist nicht nur eine Nähe zur Wissenssoziologie Mannheims zu spüren, der nach seiner Berufung auf den Frankfurter Oppenheimer-Lehrstuhl für Soziologie im Jahre 1929 Elias sofort als Assistenten und Habilitanden zu sich holte. Es gibt auch eine bemerkenswerte Nähe zum Strukturalismus in Andeutungen zu einer "Theorie des Verstehens", die eine prinzipielle "Fremdheit" des Verstehensobjektes zur Voraussetzung seiner wirklichen inneren Erschließung macht. Zwingt sie doch zum Zerreißen des Schleiers vertrauter, alltäglich gewordener Schematisierungen.
Elias' Plädoyer für das Verstehen sogenannter primitiver Kulturen als Voraussetzung für das der eigenen könnte auch aus dem Munde von Lévi-Strauss stammen, etwa aus dessen "Traurigen Tropen": "Das Menschliche" würde "nur verständlich, wenn man es in seiner Ganzheit ergreift", und es ist "notwendig, um sich selbst zu verstehen, so weit zurückzugehen in der Erforschung des Menschen, als es irgend möglich ist. In diesem Sinne glaube ich, daß jede Periode des Menschlichen für uns in gleichem Maße aktuell ist."
Die zwei Diskussionsbeiträge vom Züricher Soziologentag sind nun zusammen mit zehn weiteren Arbeiten von Elias aus den Jahren 1914 bis 1935 als erster Band der im Auftrag der Amsterdamer "Norbert Elias Stichting" herausgegebenen "Gesammelten Schriften" erschienen. Bis auf drei Aufsätze waren sie fast alle vergessen, darunter auch die noch in Elias' Heimatstadt Breslau entstandene philosophische Dissertation mit dem Titel "Idee und Individuum. Eine kritische Untersuchung zum Begriff der Geschichte", die er bei dem Neukantianer Hönigswald verfertigte.
Eine wirkliche Rarität auch der kurze Reisebericht des Siebzehnjährigen "Die dreitägige Riesengebirgsfahrt", der 1914 in den "Mitteilungen des Jüdischen Wanderbundes Blau-Weiss" erschienen war. Wie der ebenfalls für die "Blau-Weiss-Blätter" geschriebene Artikel "Vom Sehen in der Natur" von 1921 läßt auch schon der frühe Reisebericht ein goetheanisches Verhältnis zur Erfahrungswelt durchscheinen, für das die physiognomische Betrachtung von Ausdruckskonstellationen im Mittelpunkt steht, unabhängig von der Differenz zwischen Natur und Kultur. Dies mag der habituelle Schnittpunkt sein für das vor der Hinwendung zur Philosophie begonnene Medizinstudium, das gänzlich unpositivistische Interesse an der Geschichte der Naturwissenschaften, den metamorphotischen Charakter von Gesellschaft und das Primärphänomen sozialer Figurationen.
Durch solche Einblicke bietet der Band mehr als nur eine nette Versammlung von Nebensächlichkeiten. Vielmehr liefert er mosaikartig Elias' geistige Biographie bis zur Schwelle seiner großen Zivilisationstheorie. Außerdem sind fast alle Beiträge verwoben mit zentralen Stationen seines Lebens. So etwa der Aufsatz "Die Vertreibung der Hugenotten aus Frankreich", den er 1935 in Paris geschrieben hat für die von Klaus Mann herausgegebene Emigrantenzeitschrift "Der Ausweg". Zwei Jahre zuvor war er nach Frankreich emigriert, um wenigstens Leib und Leben retten zu können, nachdem durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten schon seine vielversprechende Karriere brüsk zerstört worden war. Erst 1961 sollte er, vierundsechzig Jahre alt, eine Professur bekommen, in Accra an der Universität von Ghana.
Der Band dokumentiert auch auf eindrucksvolle Weise einen biographischen Zugang zur Soziologe in Zeiten, da sie sich noch nicht auf eine standardisierte Branche reduziert hatte. In der Forscherneugierde berührte sich dort wie selbstverständlich der Soziologe mit dem Künstler, dem Naturforscher, dem Philosophen und dem Historiker - ganz ohne schnittige Interdisziplinaritätsprogramme. In der 1968 seinem Buch über den "Prozeß der Zivilisation" hinzugefügten "Einleitung" rieb sich Elias verwundert die Augen über die Erstarrung des Faches, das seit seiner Zeit in zentralen Fragen wohl keinen Schritt weitergekommen sei, vor allem mit einem materialen Begriff historischer Transformation. Daran hat sich bis heute auch im Schatten der "big theories" von Habermas und Luhmann, in denen die Logifizierung und Formalisierung von Geschichte nur kategorial ausgetüftelter betrieben wird, nicht viel geändert. So berühren sich in der Vertreibung des soziologischen Geistes aus Deutschland biographische Schicksale mit dem des Faches. Ohne sie sähe es heute anders aus.
FERDINAND ZEHENTREITER.
Norbert Elias: "Gesammelte Schriften". Herausgegeben im Auftrag der Norbert Elias Stichting, Amsterdam, von Reinhard Blomert, Heike Hamer, Johan Heilbron, Annette Treibel, Nico Wilterdink. Band 1: Frühschriften. Herausgegeben von Reinhard Blomert. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 192 S., geb., 28,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Schon in seiner Dissertation aus dem Jahre 1922, die unter dem Titel "Idee und Individuum" in Breslau erschien, war Elias späteres Denken vorgezeichnet, erklärt Rezensent Fritz Göttler. Wie Göttler ausführt, entzaubert Elias darin mit seiner Kritik am Allgemeinen eine der Grundfesten der Aufklärung. Ironischerweise reichte Elias seine Dissertation bei dem eingefleischten Kantianer Richard Hönigswald ein, der sogleich einige Kant kritische Seiten herausriss, berichtet Göttler. Nichtsdestoweniger kann man die Arbeit nach Ansicht des Rezensenten noch immer mit Vergnügen lesen, handelt es sich doch um ein leidenschaftliches Stück Wissenschaft. Laut Göttler entwickelt Elias hier seine dialektische Geschichtsbetrachtung und lässt keinen Zweifel daran, dass er mit der Philosophie "nichts am Hut hat", denn Geschichte habe für ihn mit Erfahren und Erleben zu tun. Wichtiger als seine Dissertation, dem Herzstück der Frühschriften, sind für den Rezensenten die Nebenstücke, in denen sich Elias verschiedensten Phänomenen widmet. Wie Benjamin versucht er sich zum Beispiel über den Kitsch, daneben übt er sich in verschiedensten Genres, zum Beispiel Naturbetrachtungen und Anekdoten in der Tradition des Plutarch. Elias ging es nie um die Sachen an sich, noch um die Ideen, sondern um das Verhältnis von Dingen und Menschen, fasst der Rezensent zusammen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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