Gegenstand der chinesischen Malerei ist die Schöpfung eines Mikrokosmos, der "wahrer ist als die Natur selbst" (Zong Bing). Gelingen kann dies nur durch die Nachempfindung des Lebenshauchs, der das Universum durchwirkt. Zugleich strebt der Maler danach, die den Dingen immanenten Linien nachzuzeichnen und ihre Beziehungen untereinander festzuhalten; daher die besondere Betonung des Strichs. Gestalt nehmen diese Kraftlinien jedoch nur vor dem Hintergrund der Leere an. Sie ist es, die auf der Leinwand zwischen den einzelnen Elementen und dem Strich selbst Wirklichkeit werden muss.Um diese Leere herum sind alle anderen Begriffe der chinesischen Malerei gebildet worden. Das Bezugssystem, das sich aus ihnen ergibt, wird von François Cheng hier erstmals einer zeichentheoretischen Analyse unterzogen. Zahlreiche Zitate und Abbildungen bereichern seinen Kommentar.François Cheng, geboren 1929 in China, ist der Autor bedeutender Arbeiten zur chinesischen Kunst und Dichtung. Zu nennen sind insbesondere L'écriture poétique chinoise (1977) und Souffle-Esprit (1989). Zu seinen weiteren Werken zählen der Roman Le dit de Tianyi (1998, dt. Regenbogen überm Jangtse, Berlin 2001), für den er mit dem Prix Femina ausgezeichnet wurde, sowie eine Reihe von Gedichtbänden. 2001 wurde er in die Academie française gewählt. François Cheng gilt als privilegierter Gesprächspartner von Jacques Lacan, Roland Barthes und Juli Kristeva.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.08.2004Jullien und Cheng erfahren Kunst
Bei der Flut von Lebenshilfe-Büchern, die "Zen" oder "Tao" im Titel tragen und deren Zweck ein eher therapeutischer, wenigstens kompensatorischer zu sein scheint, vergißt man leicht, wie stark das frühe chinesische Denken immer wieder auch die ästhetischen Avantgarden des letzten Jahrhunderts inspiriert hat. Bezeichnenderweise waren es meist Außenseiter des akademischen Betriebs, die in verschiedenen Phasen westliche Künstler und Schriftsteller zu entzünden vermochten. Eine überwältigende Wirkung hatten etwa die Übersetzungen von Laotse, Zhuangzi und Liezi, die der deutsche China-Missionar Richard Wilhelm von 1910 bis 1912 bei Diederichs herausgab. Der Einfluß war um so weniger mit geschmäcklerischer Chinoiserie zu verwechseln, als er Stile und Autoren erfaßte, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten: eben nicht nur Hermann Hesse, sondern auch Döblin, Brecht und Kafka ("im Grunde bin ich ja Chinese und fahre nach Hause", schrieb dieser damals an Felice). Eine andere Phase setzte Anfang der fünfziger Jahre ein, als der hochbetagte japanische Zen-Mönch Daisetz Teitaro Suzuki an der Columbia University lehrte und dort den Komponisten John Cage, den Schriftsteller Jack Kerouac und die gesamte Beat-Generation mit Zen und Daoismus in Berührung brachte. Das Bewußtsein für die Tragweite dieser Begegnung nahm solche Ausmaße an, daß John Cage in einem Vortrag sagte: "Die Bewegung mit dem Wind des Orients und die Bewegung gegen den Wind des Okzidents treffen sich in Amerika."
Nunmehr, weitere fünfzig Jahre später, scheinen sie sich eher in Frankreich zu treffen. Wieder liegen in den Kunstbuchhandlungen und Museumsshops Abhandlungen über zweitausendvierhundert Jahre alte chinesische Texte aus, von denen man sich offenbar einen Ausweg aus ästhetischen Sackgassen erhofft. Im Zentrum der Bewegung steht diesmal der Pariser Sinologe und Philosoph François Jullien. Die meisten seiner Bücher gibt in Deutschland der Berliner Merve Verlag heraus. Julliens weitgespanntes Unternehmen, der westlichen Rationalität durch einen "Umweg über China" wieder die nötige Spannung zu geben (siehe F.A.Z. vom 13. 11. 2002), hatte immer schon einen ästhetischen Subtext - vor allem in seinem Lob der "Fadheit", durch die die chinesische Kunst in der Lage sei, einen allen Unterscheidungen und Ausgrenzungen vorausliegenden "Immanenzgrund" der Wirklichkeit zu evozieren.
Ein verblüffendes Beispiel für eine solche hart am Rande der Unauffälligkeit balancierende Fadheit präsentiert Jullien nun mit der "Kunst, Listen zu erstellen" (aus dem Französischen von Ronald Voullié. Merve Verlag Berlin 2004. 121 S., br., 9,80 [Euro]). Das Thema kann auch dem mit Asien völlig unvertrauten Konsumenten von Zeitschriften auf Anhieb einleuchten, insofern das Prinzip der Liste dort seit langem ein beliebtes Mittel ist, ob es nun Objektivität suggeriert oder ironisch mit Subjektivem spielt. Es liegt auf der Hand, daß die immer neue Zusammenstellung von zuvor zerschlagenen Ganzheiten heute endlose Anschlußmöglichkeiten eröffnet. In diesem Sinn präsentiert auch Jacqueline Pigeot in dem von Jullien herausgegebenen Band das berühmte "Kopfkissenbuch", das um das Jahr tausend herum eine japanische Hofdame namens Sei Shonagon geschrieben hat. Das Buch besteht aus lauter Listen von Dingen, die nur das sehr persönliche, durch ebensoviel Poesie wie Humor gebrochene Empfinden ihrer Autorin zusammenhält, ob es nun um Insekten ("die Zikade des Abends") oder um "Beunruhigendes" ("die Mutter eines Mönches, der für zwölf Jahre fortgegangen ist, um zurückgezogen im Gebirge zu leben") geht. Pigeot interpretiert dieses Spiel mit Fragmenten als "eine Art Maschine zur Rauscherzeugung". Jullien selber analysiert keine Kunstwerke, sondern höchst praktische Anweisungen der chinesischen Tradition für Kalligraphie und Schattenboxen, Zitherspielen und Poesie. Überall werden die Anordnungen in Listen zusammengestellt, die schon dadurch irritieren, daß sie kein Kriterium für die beanspruchte Vollständigkeit angeben; sie genügen sich selbst ohne jede weitere Erklärung. Jullien deutet diese Listen als "komplexe Magnetfelder", deren innere Spannung die Spannung spiegele, die gemäß chinesischem Denken in der Struktur der Wirklichkeit selbst zu finden ist. Die Aufgabe der Liste sei, diese Spannung im Sinne einer größtmöglichen Dynamisierung und Selbsterneuerung auszunutzen. Man merkt schon, wie sich auch dieser kleine Mosaikstein in das Gewebe von Julliens Gesamtentwurf der chinesischen "Heterotopie" fügt, wo eines das andere erklärt und der bisweilen sich einstellende Eindruck von Wiederholung gern in Kauf genommen wird.
Bodenständiger kommen da François Chengs Betrachtungen über "Fülle und Leere" in der chinesischen Malerei daher, die ebenfalls Merve herausgibt (aus dem Französischen von Joachim Kurtz. Merve Verlag Berlin 2004. 184 S., br., 20,- [Euro]). Der Autor, ein in Paris lebender Dichter, Kunstkritiker und Kalligraph, der 2002 als erster Asiate in die Académie Française aufgenommen wurde, bietet mit zahlreichen Zitaten von frühen Theoretikern und Malern eine sehr ergiebige Materialsammlung zur chinesischen Ästhetik. Cheng zeigt, wie die unbemalte Fläche - in der Song- und Yuan-Zeit hat sie oft zwei Drittel der Gemälde eingenommen - die einzelnen Elemente des Bildes miteinander in Beziehung setzt, ja ineinander übergehen läßt und am Ende auch den Betrachter einbezieht. Das Malen erscheint als ein "Denken in Aktion", durch das der Mensch seine Lebenseinheit suchen kann. Cheng bleibt so nah an den Quellen, daß die Verbindung zur gegenwärtigen Ästhetik der lesende Künstler schon selber herstellen muß - was im ganzen wohl auch kein Nachteil ist.
MARK SIEMONS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bei der Flut von Lebenshilfe-Büchern, die "Zen" oder "Tao" im Titel tragen und deren Zweck ein eher therapeutischer, wenigstens kompensatorischer zu sein scheint, vergißt man leicht, wie stark das frühe chinesische Denken immer wieder auch die ästhetischen Avantgarden des letzten Jahrhunderts inspiriert hat. Bezeichnenderweise waren es meist Außenseiter des akademischen Betriebs, die in verschiedenen Phasen westliche Künstler und Schriftsteller zu entzünden vermochten. Eine überwältigende Wirkung hatten etwa die Übersetzungen von Laotse, Zhuangzi und Liezi, die der deutsche China-Missionar Richard Wilhelm von 1910 bis 1912 bei Diederichs herausgab. Der Einfluß war um so weniger mit geschmäcklerischer Chinoiserie zu verwechseln, als er Stile und Autoren erfaßte, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten: eben nicht nur Hermann Hesse, sondern auch Döblin, Brecht und Kafka ("im Grunde bin ich ja Chinese und fahre nach Hause", schrieb dieser damals an Felice). Eine andere Phase setzte Anfang der fünfziger Jahre ein, als der hochbetagte japanische Zen-Mönch Daisetz Teitaro Suzuki an der Columbia University lehrte und dort den Komponisten John Cage, den Schriftsteller Jack Kerouac und die gesamte Beat-Generation mit Zen und Daoismus in Berührung brachte. Das Bewußtsein für die Tragweite dieser Begegnung nahm solche Ausmaße an, daß John Cage in einem Vortrag sagte: "Die Bewegung mit dem Wind des Orients und die Bewegung gegen den Wind des Okzidents treffen sich in Amerika."
Nunmehr, weitere fünfzig Jahre später, scheinen sie sich eher in Frankreich zu treffen. Wieder liegen in den Kunstbuchhandlungen und Museumsshops Abhandlungen über zweitausendvierhundert Jahre alte chinesische Texte aus, von denen man sich offenbar einen Ausweg aus ästhetischen Sackgassen erhofft. Im Zentrum der Bewegung steht diesmal der Pariser Sinologe und Philosoph François Jullien. Die meisten seiner Bücher gibt in Deutschland der Berliner Merve Verlag heraus. Julliens weitgespanntes Unternehmen, der westlichen Rationalität durch einen "Umweg über China" wieder die nötige Spannung zu geben (siehe F.A.Z. vom 13. 11. 2002), hatte immer schon einen ästhetischen Subtext - vor allem in seinem Lob der "Fadheit", durch die die chinesische Kunst in der Lage sei, einen allen Unterscheidungen und Ausgrenzungen vorausliegenden "Immanenzgrund" der Wirklichkeit zu evozieren.
Ein verblüffendes Beispiel für eine solche hart am Rande der Unauffälligkeit balancierende Fadheit präsentiert Jullien nun mit der "Kunst, Listen zu erstellen" (aus dem Französischen von Ronald Voullié. Merve Verlag Berlin 2004. 121 S., br., 9,80 [Euro]). Das Thema kann auch dem mit Asien völlig unvertrauten Konsumenten von Zeitschriften auf Anhieb einleuchten, insofern das Prinzip der Liste dort seit langem ein beliebtes Mittel ist, ob es nun Objektivität suggeriert oder ironisch mit Subjektivem spielt. Es liegt auf der Hand, daß die immer neue Zusammenstellung von zuvor zerschlagenen Ganzheiten heute endlose Anschlußmöglichkeiten eröffnet. In diesem Sinn präsentiert auch Jacqueline Pigeot in dem von Jullien herausgegebenen Band das berühmte "Kopfkissenbuch", das um das Jahr tausend herum eine japanische Hofdame namens Sei Shonagon geschrieben hat. Das Buch besteht aus lauter Listen von Dingen, die nur das sehr persönliche, durch ebensoviel Poesie wie Humor gebrochene Empfinden ihrer Autorin zusammenhält, ob es nun um Insekten ("die Zikade des Abends") oder um "Beunruhigendes" ("die Mutter eines Mönches, der für zwölf Jahre fortgegangen ist, um zurückgezogen im Gebirge zu leben") geht. Pigeot interpretiert dieses Spiel mit Fragmenten als "eine Art Maschine zur Rauscherzeugung". Jullien selber analysiert keine Kunstwerke, sondern höchst praktische Anweisungen der chinesischen Tradition für Kalligraphie und Schattenboxen, Zitherspielen und Poesie. Überall werden die Anordnungen in Listen zusammengestellt, die schon dadurch irritieren, daß sie kein Kriterium für die beanspruchte Vollständigkeit angeben; sie genügen sich selbst ohne jede weitere Erklärung. Jullien deutet diese Listen als "komplexe Magnetfelder", deren innere Spannung die Spannung spiegele, die gemäß chinesischem Denken in der Struktur der Wirklichkeit selbst zu finden ist. Die Aufgabe der Liste sei, diese Spannung im Sinne einer größtmöglichen Dynamisierung und Selbsterneuerung auszunutzen. Man merkt schon, wie sich auch dieser kleine Mosaikstein in das Gewebe von Julliens Gesamtentwurf der chinesischen "Heterotopie" fügt, wo eines das andere erklärt und der bisweilen sich einstellende Eindruck von Wiederholung gern in Kauf genommen wird.
Bodenständiger kommen da François Chengs Betrachtungen über "Fülle und Leere" in der chinesischen Malerei daher, die ebenfalls Merve herausgibt (aus dem Französischen von Joachim Kurtz. Merve Verlag Berlin 2004. 184 S., br., 20,- [Euro]). Der Autor, ein in Paris lebender Dichter, Kunstkritiker und Kalligraph, der 2002 als erster Asiate in die Académie Française aufgenommen wurde, bietet mit zahlreichen Zitaten von frühen Theoretikern und Malern eine sehr ergiebige Materialsammlung zur chinesischen Ästhetik. Cheng zeigt, wie die unbemalte Fläche - in der Song- und Yuan-Zeit hat sie oft zwei Drittel der Gemälde eingenommen - die einzelnen Elemente des Bildes miteinander in Beziehung setzt, ja ineinander übergehen läßt und am Ende auch den Betrachter einbezieht. Das Malen erscheint als ein "Denken in Aktion", durch das der Mensch seine Lebenseinheit suchen kann. Cheng bleibt so nah an den Quellen, daß die Verbindung zur gegenwärtigen Ästhetik der lesende Künstler schon selber herstellen muß - was im ganzen wohl auch kein Nachteil ist.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Der europäische Betrachter könne die traditionelle chinesische Malerei nicht ohne weiteres verstehen und wahrnehmen, erläutert Rezensent Arne Klawitter. Das Büchlein des in Frankreich lebenden Kunst- und Literaturkritikers Francois Cheng biete hier eine äußerst gelungene Hilfestellung. Schon an der technischen Beschreibung des richtigen Pinselstrichs mache der Autor beispielsweise deutlich, wie die außerordentlich wichtige Leere auf die Bildfläche gelange. Denn nicht auf der Nachahmung äußerer Realität beruhe die chinesische Malerei, vielmehr auf dem "Nachempfinden" des Mikrokosmos. Und die Leere, die bis zu zwei Drittel der Bildfläche einnehme, visualisiere den "Hauch des Atems", der eine Verbindung zum Makrokosmos schaffe, ohne ihn allerdings zu repräsentieren. Selbstverständlich, so der Rezensent, gebe Francois Cheng hier die bitter nötigen Hinweise zur taoistischen Philosophie.
© Perlentaucher Medien GmbH
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