Produktdetails
- Verlag: Engeler
- Seitenzahl: 446
- Deutsch
- Abmessung: 195mm
- Gewicht: 796g
- ISBN-13: 9783952125885
- ISBN-10: 3952125881
- Artikelnr.: 10465587
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.09.2003Ene mene mu, und Klang bist du
Eine Anthologie versucht die Lautpoesie zu kategorisieren
Die Provinz ist im Kopf, behauptete Elias Canetti. Im Kopf ist alles. In vielen Köpfen ist keine Lautpoesie. Die auch im Körper ist. Ist etwas im Körper, ist es früher oder später auch im Kopf. Wahrnehmung ist eine Rückkopplungsschleife. Lautpoesie: auditives Irritations- und (Selbst-)Wahrnehmungsexperiment in einem. Lautpoesie? Ach ja, Dada und Jandl, nicht wahr?! So was zum Lachen ist das doch, oder? Mittlerweile ist der Begriff ein Inbegriff inflationären Sprachgebrauchs. Ist die Rede von "Poesie" und "Klang", heißt es schon "Lautpoesie". Ist die herkömmliche Dichterlesung langweilig, hilft nur alles andere. Und das heißt dann unbedingt Lautpoesie, nicht wahr. Kurz: Alles andere ist Lautpoesie. So kann dann plötzlich auch ein etwas anders gestrickter Prosatext schon Lautpoesie sein. Bleibt also die Frage, was die Differenzqualitäten von Lautpoesie gegenüber anderer Poesie oder Musik sind.
"Fümms bö wö tää zää Uu" heißt eine jüngst erschienene Anthologie, die weiteres Licht in das unübersichtliche Feld dieses Genres zwischen Poesie und Musik hätte bringen können. Schon mit dem recht unglücklichen (Unter-)Titel des Bandes fangen die Fragen an. Warum nicht "Stimmen und Geräusche", oder allgemeiner und der auch Musikinstrumentelles einbegreifenden Geschichte dieser Grenzkunst entsprechend, "Klänge und Geräusche der Lautpoesie"? Der sperrige Titel, Kurt Schwitters' bei Raoul Hausmann angeliehener Ursonatensplitter, fungiert als ein Abwehrsignal, allenfalls wiedererkennbar von Insidern und die Geschichte nach guter Tradition festlegend auf einen Klassiker.
Sowenig Wissenschaftsjargon wie nötig, soviel Verallgemeinerung wie möglich, könnte die Maxime der beiden Herausgeber Christian Scholz und Urs Engeler gewesen sein. Autorenpoetologische Kommentare als Ersatzformen einer ausformulierten Ästhetik nehmen innerhalb der Anthologie einen breiten Raum ein. Dies mag zum einen einer gewissen Hilflosigkeit angesichts der scheinbar wilden, jedenfalls wildernden Genres der Lautpoesie geschuldet sein. Bei aller Fülle dieser Selbstzeugnisse zu einzelnen Lautgedichten läßt die Anthologie einen konzisen, abgrenzungstauglichen Zugriff auf das präsentierte Material allerdings vermissen.
Mit Sten Hanson oder etwa Bengt Emil Johnson fehlen nicht nur die wichtigen schwedischen Lautpoeten und Text-Sound-Komponisten - allein ihr Fehlen unterläuft schon die selbstgestellte Maxime, die wichtigsten Zeitgenossen dieser Kunst zu versammeln -, von den Lautpoeten der jüngeren und jüngsten Generation ist überhaupt nichts zu hören beziehungsweise zu sehen.
Unter den zehn Kapitelrubrizierungen (wie "Abzählverse, Zungenbrecher, Kindersprache", "Tierstimmen", "Konstruktivismus, Futurismus, Dadaismus, Merz", "Visuelle Poesie" "Laut und Musik", "Simultangedichte", "Semantik und Klang") finden sich neben bekannten Autoren wie Velimir Chlebnikov, Marinetti, Christian Morgenstern, John Cage, Henri Chopin, Carlfriedrich Claus, Ernst Jandl, Franz Mon, Oskar Pastior, Gerhard Rühm, dem im letzten Jahr verstorbenen englischen Lautkönig Bob Cobbing oder der großartigen Amanda Stewart auch Gelegenheitslautpoeten oder zu solchen stilisierte wie Wolfgang Amadeus Mozart, Victor Hugo oder Karl Valentin. Selbstsingend fehlen auch die Scat-Virtuosen Louis Armstrong und Dizzy Gillespie nicht. Plausibel ist auch der Einbezug von Komponisten wie John Cage, György Ligeti, Josef Anton Riedl, Dieter Schnebel oder Karlheinz Stockhausen, die der Stimme in der zeitgenössischen Lautmusik eine andere Richtung gegeben haben. Bei anderen Namen fragt man sich aber, ob mit ihnen schlicht die Nomenklatura aufgepeppt oder der Anspruch des Grenzüberschreitenden (auch hin zur Bildenden Kunst) legitimiert werden sollte.
Paradox genug, trotz der zehn Kapitel ist das präsentierte Material im Ergebnis zu wenig vorgeordnet. Teilweise wird das Buntscheckige des Gegenstandsbereichs an Disparatheit noch überboten. So pendelt die Anthologie zwischen historisierenden Chronologisierungen, Filiationen und Strömungen, in ihrer Relevanz überschätzten historischen Ordnungsversuchen und zaghaften semitheoretischen Verallgemeinerungen. Zuviel Raum nimmt zudem die lautpoetische Prähistorie ein: Abzählreime, Zaubersprüche, Geheimsprachen und so weiter. Der Leser (und auch der Hörer) verliert jede Orientierung, wird zum lautpoetischen Buchbinder Wanninger.
Die Herausgeber reflektieren zuwenig den von ihnen extensiv verwendeten Begriff des "Materials", ohne auch einmal wahrnehmungspsychologische Gesichtspunkte der Rezeption mitzubedenken. Sie gehen ganz und gar vom Geschriebenen, von der visuellen Zeichenkomponente der Lautpoesie aus, anstatt den gehörten Laut als zentrales Ordnungskriterium zu lancieren. Hier erweist sich dann auch die Subsumierung einzelner lautpoetischer Partituren unter den vagen Oberbegriff "visuelle Poesie" als problematisch und beliebig.
Im Detail findet sich eine Reihe von fragwürdigen Befunden. "Gesang, Gebärde, Tanz, Bewegung und Aktion" finden entgegen der Meinung der Herausgeber nicht erst "in heutigen Performances von Lautpoeten" Verwendung - man denke an Pierre Albert-Birots "Poèmes à crier et à danser", "Gedichte zum Schreien und Tanzen" von 1917/18, an Hugo Ball, die Simultangedichte von Huelsenbeck, Janco und Tzara oder an den "lautpoetischen Ausdruckstanz" von Raoul Hausmann. Ebenso ist fraglich, ob die Zürcher Dadaisten tatsächlich "über die italienischen und russischen Futuristen bestens informiert" waren. Basierte vieles im Bereich der Avantgarden-Osmose nicht auf Hörensagen, Vermutungen, Unterstellungen? Von Isidore Isou wissen wir, daß er über die dadaistische Lautpoesie und gegen Raoul Hausmann und Kurt Schwitters schon Pamphlete schrieb, als er noch kaum etwas von Dada zu Gesicht bekommen, geschweige denn, einen einzigen Laut dieser Bewegung vernommen hatte. In seiner "Introduction à une nouvelle poésie et à une nouvelle musique" (1947), in der er immerhin den Begründungsanspruch der phonetischen Poesie erhebt, ist von Dada und Konsorten noch gar keine Rede; von einer fundiert recherchierten Quellenlage kann bei Isou also nicht im Ansatz gesprochen werden. Sein nicht weniger monomanischer Gewährsmann war ausgerechnet Tristan Tzara, der Isou über den vermeintlich wahren Dadaismus infiltrierte. Jener Tristan Tzara, der Dada verließ, um sich André Bretons surrealistischer Bewegung anzuschließen, nicht ohne seine vermeintlichen Verdienste um die Inauguration von Dada in die Pariser Kulturwelt hinauszuposaunen.
Hausmanns "frühe optophonetische Lautgedichte" unterscheiden sich "von den Klanggedichten Hugo Balls" keineswegs darin, "daß sie nicht aus unbekannten Wörtern, sondern aus Tönen, Geräuschen oder semantisch funktionslos gewordenen Phonemen bestehen". Wo sind bei Hausmann die Töne, wo die Geräusche? Was sind "unbekannte Wörter", abgesehen davon, dass Iliazd 1949 seine wichtige Anthologie "Poésie des mots inconnues" nannte, was sind "semantisch funktionslos gewordene Phoneme"? Und was ist "präsprachliches Material", auf das Hausmann angeblich zurückgegriffen habe? Mit der Behauptung, Hausmann habe "die totale Autonomisierung des Lautes durch dessen Isolierung von allen kommunikationssprachlichen Zusammenhängen" vollzogen, mutet man dem Dadasophen wohl entschieden zuviel zu - oder zuwenig. Allein sein im Band abgedrucktes, "B.T.B." betiteltes imaginäres Interview mit den Lettristen widerlegt diese Zuweisung. Zum einen simuliert Hausmann schon mit seinem Frage-und-Antwort-Schema ein rhetorisches Konversationsmodell mit den gängigen intonatorischen Mustern, zum anderen sind auf der textlichen oder lautlichen Ebene einzelne Wortgestalten identifizierbar wie "Woge", "der Feger", "quando", "Kruxifix", "Fehde", "et cetera", "Pferd", "Dada", "Farbe", "Gehülfe" oder "Müllgeräte".
Die in diesem "Interview" gestellten Fragen beantwortete Hausmann auch gleich selbst und reagierte damit auf die Anwürfe der Lettristen Isidore Isous und Maurice Lemaîtres, sie hätten das Buchstaben- beziehungsweise Lautgedicht erfunden, Hausmanns Arbeiten seien Hochstapelei und weiter nicht der Rede wert, seine Inanspruchnahme des Begriffs "lettristisch" eine Anmaßung.
Hinwiederum zählte nicht erst für Gerhard Rühm der einzelne Sprachlaut zum Material der Dichtung, für diesen interessierte sich schon besagter Isidore Isou explizit in seiner "Monolettrie", die den Einzellaut akustisch wie visuell "ausstellte". Schon in seiner erwähnten lettristischen Einführung, der bis heute opulentesten, gleichwohl nur Insidern bekannten Poetologie der Lautpoesiegeschichte, thematisierte Isou eine phonetische Einlautpoesie.
Insgesamt ist auch die fortwährende Rede vom "Sinnfreien" und der dahinter lauernden Kampfvokabel "asemantisch" wohl eher metaphorisch zu verstehen, abgesehen davon, daß Lautgedichte keineswegs "sinnfrei" sind und sein können, bezieht sich "Sinn" doch (auch) auf innersprachliche Relationen. So löste Rühm in seiner Entwicklung der Dialektdichtung der "Wiener Gruppe" "die Lautfolgen" keineswegs "von jeglichem Begriffsinhalt" - zumal viele seiner Lautgedichte genau vor einem referenzsemantischen Hintergrund mit verschiedenen Sprechhandlungstypen und ihren intonatorischen und klangfarblichen Schemata des Wichtigtuens, Imponierens, Heruntermachens operieren. Nicht die Unterscheidung zwischen semantisch und "asemantisch" taugt bei Lautgedichten zur Abgrenzung, sondern die Frage nach der Funktionalisierung von Stimme, nach der (instabilen) Beziehung von sprachlichen und stimmlichen Merkmalen, und zwar während der artikulatorischen Abtastung eines Einzellauts bis hin zu einem Textganzen.
Zu Recht stellen die Herausgeber die Ahnenreihe Raoul Hausmann - Franz Mon - Carlfriedrich Claus auf. Beruht aber diese allein, wie die Anthologie suggeriert, auf dem von den genannten Autoren anvisierten nachsprechenden Rezipieren von Lautgedichten, das "physische und psychische Vorgänge" bedinge und "Bewußtseinsveränderungen" hervorrufe? Das ist hinsichtlich ihrer poetologischen und ästhetischen Implikationen zu kurz gedacht und berücksichtigt nicht die Paradigmenwechsel, die gerade auch von diesen für die Geschichte der Lautpoesie so wichtigen Künstlern ausgegangen sind.
Die dem Band beigegebene CD versammelt Stücke für improvisierende oder eine Textvorlage akustisch realisierende Solostimme, für Stimmen und Instrumente und solche, die stimmliche Artikulationen elektronisch oder mit Computer verarbeiten. Zu den meisten der achtzehn Stücke, von denen sechzehn erstveröffentlichte Originalbeiträge sind, vermißt man die visuell komplementäre Partitur.
Hervorzuheben sind die Arbeiten von Amanda Stewart und Chris Mann, den australischen Linguisten unter den Lautpoeten, das wummernde und zugleich schrille "Broodje Ei met Ui" des holländischen Stimmkünstlers Jaap Blonk und insbesondere das lautmusikalische Duo Hartmut Geerken und Valeri Scherstjanoi. Ihr Stück "ahoupva" ist ein Glücksfall an Frische und Entdeckerfreudigkeit. "Faltung 2" von Elke Schipper wirkt artikulatorisch zwar arg akademisch, ist aber im stimmlich entfalteten Textprozeß, der Auflösung eines Sprachkorpus, der dann in Fragmenten reprisenhaft wieder aufleuchtet, so markant wie nachhallig.
Das unübersichtliche Feld der Lautpoesie ist mit dieser Anthologie unübersichtlich geblieben. Gleichwohl ist es ein Verdienst der Herausgeber, diese in vielerlei Hinsicht subversive Kunst der Stimmenverschriftung und -entäußerung greifbarer zu machen. Man täte diesem notwendigen, aufwendig schön gestalteten Hör- und Sehbuch Uunrecht, wollte man es nur nach seinen Mängeln im Detail beurteilen.
MICHAEL LENTZ
Christian Scholz/Urs Engeler (Hrsg.): "Fümms bö wö tää zää Uu". Stimmen und Klänge der Lautpoesie. Verlag Urs Engeler, Basel 2003. 448 S., mit CD 57 Min., geb., 48,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine Anthologie versucht die Lautpoesie zu kategorisieren
Die Provinz ist im Kopf, behauptete Elias Canetti. Im Kopf ist alles. In vielen Köpfen ist keine Lautpoesie. Die auch im Körper ist. Ist etwas im Körper, ist es früher oder später auch im Kopf. Wahrnehmung ist eine Rückkopplungsschleife. Lautpoesie: auditives Irritations- und (Selbst-)Wahrnehmungsexperiment in einem. Lautpoesie? Ach ja, Dada und Jandl, nicht wahr?! So was zum Lachen ist das doch, oder? Mittlerweile ist der Begriff ein Inbegriff inflationären Sprachgebrauchs. Ist die Rede von "Poesie" und "Klang", heißt es schon "Lautpoesie". Ist die herkömmliche Dichterlesung langweilig, hilft nur alles andere. Und das heißt dann unbedingt Lautpoesie, nicht wahr. Kurz: Alles andere ist Lautpoesie. So kann dann plötzlich auch ein etwas anders gestrickter Prosatext schon Lautpoesie sein. Bleibt also die Frage, was die Differenzqualitäten von Lautpoesie gegenüber anderer Poesie oder Musik sind.
"Fümms bö wö tää zää Uu" heißt eine jüngst erschienene Anthologie, die weiteres Licht in das unübersichtliche Feld dieses Genres zwischen Poesie und Musik hätte bringen können. Schon mit dem recht unglücklichen (Unter-)Titel des Bandes fangen die Fragen an. Warum nicht "Stimmen und Geräusche", oder allgemeiner und der auch Musikinstrumentelles einbegreifenden Geschichte dieser Grenzkunst entsprechend, "Klänge und Geräusche der Lautpoesie"? Der sperrige Titel, Kurt Schwitters' bei Raoul Hausmann angeliehener Ursonatensplitter, fungiert als ein Abwehrsignal, allenfalls wiedererkennbar von Insidern und die Geschichte nach guter Tradition festlegend auf einen Klassiker.
Sowenig Wissenschaftsjargon wie nötig, soviel Verallgemeinerung wie möglich, könnte die Maxime der beiden Herausgeber Christian Scholz und Urs Engeler gewesen sein. Autorenpoetologische Kommentare als Ersatzformen einer ausformulierten Ästhetik nehmen innerhalb der Anthologie einen breiten Raum ein. Dies mag zum einen einer gewissen Hilflosigkeit angesichts der scheinbar wilden, jedenfalls wildernden Genres der Lautpoesie geschuldet sein. Bei aller Fülle dieser Selbstzeugnisse zu einzelnen Lautgedichten läßt die Anthologie einen konzisen, abgrenzungstauglichen Zugriff auf das präsentierte Material allerdings vermissen.
Mit Sten Hanson oder etwa Bengt Emil Johnson fehlen nicht nur die wichtigen schwedischen Lautpoeten und Text-Sound-Komponisten - allein ihr Fehlen unterläuft schon die selbstgestellte Maxime, die wichtigsten Zeitgenossen dieser Kunst zu versammeln -, von den Lautpoeten der jüngeren und jüngsten Generation ist überhaupt nichts zu hören beziehungsweise zu sehen.
Unter den zehn Kapitelrubrizierungen (wie "Abzählverse, Zungenbrecher, Kindersprache", "Tierstimmen", "Konstruktivismus, Futurismus, Dadaismus, Merz", "Visuelle Poesie" "Laut und Musik", "Simultangedichte", "Semantik und Klang") finden sich neben bekannten Autoren wie Velimir Chlebnikov, Marinetti, Christian Morgenstern, John Cage, Henri Chopin, Carlfriedrich Claus, Ernst Jandl, Franz Mon, Oskar Pastior, Gerhard Rühm, dem im letzten Jahr verstorbenen englischen Lautkönig Bob Cobbing oder der großartigen Amanda Stewart auch Gelegenheitslautpoeten oder zu solchen stilisierte wie Wolfgang Amadeus Mozart, Victor Hugo oder Karl Valentin. Selbstsingend fehlen auch die Scat-Virtuosen Louis Armstrong und Dizzy Gillespie nicht. Plausibel ist auch der Einbezug von Komponisten wie John Cage, György Ligeti, Josef Anton Riedl, Dieter Schnebel oder Karlheinz Stockhausen, die der Stimme in der zeitgenössischen Lautmusik eine andere Richtung gegeben haben. Bei anderen Namen fragt man sich aber, ob mit ihnen schlicht die Nomenklatura aufgepeppt oder der Anspruch des Grenzüberschreitenden (auch hin zur Bildenden Kunst) legitimiert werden sollte.
Paradox genug, trotz der zehn Kapitel ist das präsentierte Material im Ergebnis zu wenig vorgeordnet. Teilweise wird das Buntscheckige des Gegenstandsbereichs an Disparatheit noch überboten. So pendelt die Anthologie zwischen historisierenden Chronologisierungen, Filiationen und Strömungen, in ihrer Relevanz überschätzten historischen Ordnungsversuchen und zaghaften semitheoretischen Verallgemeinerungen. Zuviel Raum nimmt zudem die lautpoetische Prähistorie ein: Abzählreime, Zaubersprüche, Geheimsprachen und so weiter. Der Leser (und auch der Hörer) verliert jede Orientierung, wird zum lautpoetischen Buchbinder Wanninger.
Die Herausgeber reflektieren zuwenig den von ihnen extensiv verwendeten Begriff des "Materials", ohne auch einmal wahrnehmungspsychologische Gesichtspunkte der Rezeption mitzubedenken. Sie gehen ganz und gar vom Geschriebenen, von der visuellen Zeichenkomponente der Lautpoesie aus, anstatt den gehörten Laut als zentrales Ordnungskriterium zu lancieren. Hier erweist sich dann auch die Subsumierung einzelner lautpoetischer Partituren unter den vagen Oberbegriff "visuelle Poesie" als problematisch und beliebig.
Im Detail findet sich eine Reihe von fragwürdigen Befunden. "Gesang, Gebärde, Tanz, Bewegung und Aktion" finden entgegen der Meinung der Herausgeber nicht erst "in heutigen Performances von Lautpoeten" Verwendung - man denke an Pierre Albert-Birots "Poèmes à crier et à danser", "Gedichte zum Schreien und Tanzen" von 1917/18, an Hugo Ball, die Simultangedichte von Huelsenbeck, Janco und Tzara oder an den "lautpoetischen Ausdruckstanz" von Raoul Hausmann. Ebenso ist fraglich, ob die Zürcher Dadaisten tatsächlich "über die italienischen und russischen Futuristen bestens informiert" waren. Basierte vieles im Bereich der Avantgarden-Osmose nicht auf Hörensagen, Vermutungen, Unterstellungen? Von Isidore Isou wissen wir, daß er über die dadaistische Lautpoesie und gegen Raoul Hausmann und Kurt Schwitters schon Pamphlete schrieb, als er noch kaum etwas von Dada zu Gesicht bekommen, geschweige denn, einen einzigen Laut dieser Bewegung vernommen hatte. In seiner "Introduction à une nouvelle poésie et à une nouvelle musique" (1947), in der er immerhin den Begründungsanspruch der phonetischen Poesie erhebt, ist von Dada und Konsorten noch gar keine Rede; von einer fundiert recherchierten Quellenlage kann bei Isou also nicht im Ansatz gesprochen werden. Sein nicht weniger monomanischer Gewährsmann war ausgerechnet Tristan Tzara, der Isou über den vermeintlich wahren Dadaismus infiltrierte. Jener Tristan Tzara, der Dada verließ, um sich André Bretons surrealistischer Bewegung anzuschließen, nicht ohne seine vermeintlichen Verdienste um die Inauguration von Dada in die Pariser Kulturwelt hinauszuposaunen.
Hausmanns "frühe optophonetische Lautgedichte" unterscheiden sich "von den Klanggedichten Hugo Balls" keineswegs darin, "daß sie nicht aus unbekannten Wörtern, sondern aus Tönen, Geräuschen oder semantisch funktionslos gewordenen Phonemen bestehen". Wo sind bei Hausmann die Töne, wo die Geräusche? Was sind "unbekannte Wörter", abgesehen davon, dass Iliazd 1949 seine wichtige Anthologie "Poésie des mots inconnues" nannte, was sind "semantisch funktionslos gewordene Phoneme"? Und was ist "präsprachliches Material", auf das Hausmann angeblich zurückgegriffen habe? Mit der Behauptung, Hausmann habe "die totale Autonomisierung des Lautes durch dessen Isolierung von allen kommunikationssprachlichen Zusammenhängen" vollzogen, mutet man dem Dadasophen wohl entschieden zuviel zu - oder zuwenig. Allein sein im Band abgedrucktes, "B.T.B." betiteltes imaginäres Interview mit den Lettristen widerlegt diese Zuweisung. Zum einen simuliert Hausmann schon mit seinem Frage-und-Antwort-Schema ein rhetorisches Konversationsmodell mit den gängigen intonatorischen Mustern, zum anderen sind auf der textlichen oder lautlichen Ebene einzelne Wortgestalten identifizierbar wie "Woge", "der Feger", "quando", "Kruxifix", "Fehde", "et cetera", "Pferd", "Dada", "Farbe", "Gehülfe" oder "Müllgeräte".
Die in diesem "Interview" gestellten Fragen beantwortete Hausmann auch gleich selbst und reagierte damit auf die Anwürfe der Lettristen Isidore Isous und Maurice Lemaîtres, sie hätten das Buchstaben- beziehungsweise Lautgedicht erfunden, Hausmanns Arbeiten seien Hochstapelei und weiter nicht der Rede wert, seine Inanspruchnahme des Begriffs "lettristisch" eine Anmaßung.
Hinwiederum zählte nicht erst für Gerhard Rühm der einzelne Sprachlaut zum Material der Dichtung, für diesen interessierte sich schon besagter Isidore Isou explizit in seiner "Monolettrie", die den Einzellaut akustisch wie visuell "ausstellte". Schon in seiner erwähnten lettristischen Einführung, der bis heute opulentesten, gleichwohl nur Insidern bekannten Poetologie der Lautpoesiegeschichte, thematisierte Isou eine phonetische Einlautpoesie.
Insgesamt ist auch die fortwährende Rede vom "Sinnfreien" und der dahinter lauernden Kampfvokabel "asemantisch" wohl eher metaphorisch zu verstehen, abgesehen davon, daß Lautgedichte keineswegs "sinnfrei" sind und sein können, bezieht sich "Sinn" doch (auch) auf innersprachliche Relationen. So löste Rühm in seiner Entwicklung der Dialektdichtung der "Wiener Gruppe" "die Lautfolgen" keineswegs "von jeglichem Begriffsinhalt" - zumal viele seiner Lautgedichte genau vor einem referenzsemantischen Hintergrund mit verschiedenen Sprechhandlungstypen und ihren intonatorischen und klangfarblichen Schemata des Wichtigtuens, Imponierens, Heruntermachens operieren. Nicht die Unterscheidung zwischen semantisch und "asemantisch" taugt bei Lautgedichten zur Abgrenzung, sondern die Frage nach der Funktionalisierung von Stimme, nach der (instabilen) Beziehung von sprachlichen und stimmlichen Merkmalen, und zwar während der artikulatorischen Abtastung eines Einzellauts bis hin zu einem Textganzen.
Zu Recht stellen die Herausgeber die Ahnenreihe Raoul Hausmann - Franz Mon - Carlfriedrich Claus auf. Beruht aber diese allein, wie die Anthologie suggeriert, auf dem von den genannten Autoren anvisierten nachsprechenden Rezipieren von Lautgedichten, das "physische und psychische Vorgänge" bedinge und "Bewußtseinsveränderungen" hervorrufe? Das ist hinsichtlich ihrer poetologischen und ästhetischen Implikationen zu kurz gedacht und berücksichtigt nicht die Paradigmenwechsel, die gerade auch von diesen für die Geschichte der Lautpoesie so wichtigen Künstlern ausgegangen sind.
Die dem Band beigegebene CD versammelt Stücke für improvisierende oder eine Textvorlage akustisch realisierende Solostimme, für Stimmen und Instrumente und solche, die stimmliche Artikulationen elektronisch oder mit Computer verarbeiten. Zu den meisten der achtzehn Stücke, von denen sechzehn erstveröffentlichte Originalbeiträge sind, vermißt man die visuell komplementäre Partitur.
Hervorzuheben sind die Arbeiten von Amanda Stewart und Chris Mann, den australischen Linguisten unter den Lautpoeten, das wummernde und zugleich schrille "Broodje Ei met Ui" des holländischen Stimmkünstlers Jaap Blonk und insbesondere das lautmusikalische Duo Hartmut Geerken und Valeri Scherstjanoi. Ihr Stück "ahoupva" ist ein Glücksfall an Frische und Entdeckerfreudigkeit. "Faltung 2" von Elke Schipper wirkt artikulatorisch zwar arg akademisch, ist aber im stimmlich entfalteten Textprozeß, der Auflösung eines Sprachkorpus, der dann in Fragmenten reprisenhaft wieder aufleuchtet, so markant wie nachhallig.
Das unübersichtliche Feld der Lautpoesie ist mit dieser Anthologie unübersichtlich geblieben. Gleichwohl ist es ein Verdienst der Herausgeber, diese in vielerlei Hinsicht subversive Kunst der Stimmenverschriftung und -entäußerung greifbarer zu machen. Man täte diesem notwendigen, aufwendig schön gestalteten Hör- und Sehbuch Uunrecht, wollte man es nur nach seinen Mängeln im Detail beurteilen.
MICHAEL LENTZ
Christian Scholz/Urs Engeler (Hrsg.): "Fümms bö wö tää zää Uu". Stimmen und Klänge der Lautpoesie. Verlag Urs Engeler, Basel 2003. 448 S., mit CD 57 Min., geb., 48,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Martin Zingg ist überaus entzückt von dem, was Martin Scholz und Urs Engeler da zusammengestellt haben: eine Anthologie der Lautpoesie "quer durch die Zeiten und Sprachen" - prima ausgewählt, überraschend kombiniert und informativ kommentiert. Ob bei Rabelais oder Ringelnatz, bei Swift oder Schwitters - Sprachlaute werden vom Diktat der Bedeutung erlöst und dürfen einfach nur "Zeichenkörper" sein, einfach nur klingen. Klingen? Aber dann ... Richtig, ruft Zingg, dem Buch liegt eine CD bei und rundet die wunderbare Sammlung geradezu sensationell ab: Vertreter der aktuellen Lautpoesie haben gelesen, und die Herausgeber sind mit dem Deutschen Hörbuchpreis für die "Beste Innovation" ausgezeichnet worden. Was sagt man da? Ta-daaa!
© Perlentaucher Medien GmbH
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