Ein erschütternder Bericht - und ein eindrucksvolles Dokument.
Als der junge Deutschtürke Murat Kurnaz, in Bremen geboren und aufgewachsen, Anfang Oktober 2001 nach Pakistan reist, um eine Koranschule zu besuchen, ahnt er nicht, welches Martyrium ihn erwartet - und dass er seine Familie viereinhalb Jahre nicht wiedersehen wird.
Bei einer Sicherheitskontrolle wird er wenige Wochen nach seiner Ankunft festgenommen und von der pakistanischen Polizei gegen 3000 Dollar Kopfgeld an die US-Streitkräfte verkauft. Er wird ins afghanische Kandahar gebracht, dort schwer gefoltert, und kurz darauf ins Häftlingslager Guantanamo geflogen. Bald finden die Amerikaner heraus, dass der junge Türke aus Bremen unschuldig ist - dennoch muss Murat Kurnaz mehr als 1600 Tage die Hölle von Guantanamo ertragen: Verhöre, Folter, Isolationshaft, Käfighaltung, viereinhalb Jahre fast ohne Schlaf. Erst 2006 wird Kurnaz entlassen. Er ist von den Torturen der Haft schwer gezeichnet.
Was er nach seiner Rückkehr nach Deutschland erfährt: Die deutschen Behörden wussten schon seit 2002, dass er unschuldig ist und in Guantanamo misshandelt wurde. Doch obwohl die Amerikaner zu diesem Zeitpunkt schon bereit waren, den für sie wertlosen Deutschtürken freizulassen, weigerten sich deutsche Behörden, den Gefangenen aufzunehmen - und überließen ihn weitere vier Jahre in Guantanamo seinem Schicksal.
In diesem Buch erzählt Murat Kurnaz seine unglaubliche Geschichte - ohne Hass, aber sehr klar und detailliert.
Im Mittelpunkt stehen die schrecklichen Erlebnisse in Kandahar und vor allem im Lager Guantanamo: Er schildert, wie er an Ketten stundenlang aufgehängt wurde, wie er beißender Kälte und brütender Hitze ausgesetzt wurde - und man ihn über sieben Wochen lang alle zwei Stunden verlegte, damit er nicht schlafen konnte. Er berichtet über das Vegetieren in Maschendrahtkäfigen, über Elektroschocks und Isolationshaft.
Neben diesen erschütternden Beschreibungen der unglaublichen Brutalität im Lager, die von Rückblenden zu Murats Leben in Deutschland unterbrochen werden, gibt Kurnaz auch ein genaues Bild des "Systems Guantanamo": einer Welt der Rechtlosigkeit und Willkür, in der Gefangene wie Tiere behandelt werden.
Als der junge Deutschtürke Murat Kurnaz, in Bremen geboren und aufgewachsen, Anfang Oktober 2001 nach Pakistan reist, um eine Koranschule zu besuchen, ahnt er nicht, welches Martyrium ihn erwartet - und dass er seine Familie viereinhalb Jahre nicht wiedersehen wird.
Bei einer Sicherheitskontrolle wird er wenige Wochen nach seiner Ankunft festgenommen und von der pakistanischen Polizei gegen 3000 Dollar Kopfgeld an die US-Streitkräfte verkauft. Er wird ins afghanische Kandahar gebracht, dort schwer gefoltert, und kurz darauf ins Häftlingslager Guantanamo geflogen. Bald finden die Amerikaner heraus, dass der junge Türke aus Bremen unschuldig ist - dennoch muss Murat Kurnaz mehr als 1600 Tage die Hölle von Guantanamo ertragen: Verhöre, Folter, Isolationshaft, Käfighaltung, viereinhalb Jahre fast ohne Schlaf. Erst 2006 wird Kurnaz entlassen. Er ist von den Torturen der Haft schwer gezeichnet.
Was er nach seiner Rückkehr nach Deutschland erfährt: Die deutschen Behörden wussten schon seit 2002, dass er unschuldig ist und in Guantanamo misshandelt wurde. Doch obwohl die Amerikaner zu diesem Zeitpunkt schon bereit waren, den für sie wertlosen Deutschtürken freizulassen, weigerten sich deutsche Behörden, den Gefangenen aufzunehmen - und überließen ihn weitere vier Jahre in Guantanamo seinem Schicksal.
In diesem Buch erzählt Murat Kurnaz seine unglaubliche Geschichte - ohne Hass, aber sehr klar und detailliert.
Im Mittelpunkt stehen die schrecklichen Erlebnisse in Kandahar und vor allem im Lager Guantanamo: Er schildert, wie er an Ketten stundenlang aufgehängt wurde, wie er beißender Kälte und brütender Hitze ausgesetzt wurde - und man ihn über sieben Wochen lang alle zwei Stunden verlegte, damit er nicht schlafen konnte. Er berichtet über das Vegetieren in Maschendrahtkäfigen, über Elektroschocks und Isolationshaft.
Neben diesen erschütternden Beschreibungen der unglaublichen Brutalität im Lager, die von Rückblenden zu Murats Leben in Deutschland unterbrochen werden, gibt Kurnaz auch ein genaues Bild des "Systems Guantanamo": einer Welt der Rechtlosigkeit und Willkür, in der Gefangene wie Tiere behandelt werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.04.2007Sie konnten mit uns machen, was sie wollten
Ein Folterbericht: Murat Kurnaz beschreibt seine Haft in Guantánamo - was er in Pakistan wollte, bleibt aber sein Geheimnis
Wenn sie Glück haben, und das haben sie nicht oft, werfen ihnen die Bewacher eine "Emarie" über den Zaun. "Emarie" nennen die Gefangenen in Guantánamo das MRP, das meal ready to eat, eine in Plastik verschweißte Einmannration, in der nicht selten Schweinefleisch steckt. Das ist eine der harmlosen Demütigungen, von denen der in Bremen lebende Murat Kurnaz in seinem Buch "Fünf Jahre meines Lebens" berichtet. Das "Apfelessen" ist etwas anderes: mit dem Kopf so lange unter Wasser getaucht werden, bis man fast ertrinkt. Oder der "Kühlschrank": Isolation in einem auf Nulltemperatur gebrachten Blechcontainer ohne Licht und fast ohne Sauerstoff; Schlafentzug, Elektroschocks, Aufhängen an Metallketten, sexuelle Demütigung, Schläge.
Was Murat Kurnaz über seine fünfjährige Haftzeit im afghanischen Kandahar und dann auf Guantánamo beschreibt, gleicht den Auswüchsen, die aus dem amerikanischen Militärgefängnis von Abu Ghraib im Irak bekanntgeworden sind. Es ist ein Dokument systematischer Folter und Barbarei. Man will es nicht fassen, doch gibt es wenig Grund, anzunehmen, dass Kurnaz übertreibt. Zweifelsfrei verifizieren lassen sich seine Angaben freilich auch nicht. Das liegt gleichsam in der Natur der Sache seines Buches. Es handelt von einer Dunkelkammer, in die vollständig Einsicht zu nehmen der internationalen Öffentlichkeit bis heute verwehrt ist. Er handelt von einem Ort, an dem es keine Rechtsstaatlichkeit gibt. "Ich hatte längst verstanden", schreibt Kurnaz, "worum es in diesem Gefangenenlager ging: Sie konnten mit uns machen, was sie wollten. Ich konnte der Nächste sein."
Er ist der Nächste, immer wieder wird er zum Verhör geführt, mit den immer gleichen Fragen konfrontiert, gedrängt, zu gestehen, dass er ein Al-Qaida-Terrorist ist oder mit den Taliban kämpfen wollte, oder zu verraten, wo Usama Bin Ladin steckt. Immer wieder wird er in jeder erdenklichen Weise schikaniert, gequält und geschlagen. "Ich denke, ich verbrachte insgesamt über ein Jahr allein in absoluter Dunkelheit, entweder in einem Kühlschrank oder in einem Ofen, bei wenig Nahrung. Einmal drei Monate hintereinander."
Kurnaz größte Angst ist, den Ärzten im Lager in die Hände zu fallen; einem widerspenstigen Gefangenen, der einen gebrochenen Finger hatte, werden acht Finger an beiden Händen amputiert. Kurnaz berichtet von Verstümmelungen, ein junger Häftling, der beide Beine verloren hat, wird von den Wachen noch daran gehindert, auf die Latrine zu kriechen, einige werden - so legt Kurnaz es nahe - schließlich sogar von den Wächtern ermordet.
Die Episode aus Kurnaz' Gefangenschaft, die bei uns für einen politischen Skandal gesorgt hat, nimmt sich vergleichsweise gering aus: sein Zusammentreffen mit zwei Soldaten der Bundeswehr-Spezialtruppe KSK in Kandahar - "wir sind die deutsche Kraft" -, die ihn geschlagen haben sollen. Sogar die Zielübung eines weiteren deutschen Soldaten, der seine Laserzielvorrichtung auf die Köpfe der Gefangenen richtet, nimmt man ungerührt zur Kenntnis angesichts des Martyriums, das Kurnaz beschreibt.
Politisch schwerer wiegt das Verhör, dem zwei Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes und einer des Verfassungsschutzes Kurnaz im September 2002 unterzogen und das mit dem Befund endete, dass die Vereinigten Staaten selbst den Eindruck hatten, er sei kein Terrorist und könne bald freikommen. Bei einem weiteren Treffen wird er gefragt, ob er für die deutschen Behörden nicht als V-Mann arbeiten wolle. Von der Folter, die Kurnaz schildert, wollen seine Gesprächspartner nichts hören. Und in Berlin wird zur selben Zeit daran gearbeitet, den Türken in sein Geburtsland abzuschieben. Dass er dort nicht erwünscht ist, wird Kurnaz im Verhör durch drei türkische Militärs klar. Er schildert ihren Auftritt in Guantánamo als peinliche Zirkusnummer, die zum Ziel hatte, ihn abzuwimmeln.
Dabei wird auch deutlich, warum Kurnaz auf den ersten und auch noch auf den zweiten Blick perfekt in das Schema eines Dschihadisten passte und dem Bild eines "Gefährders" entsprach, eines Mannes, der sich dem radikalen Islam zuwendet, der Gesellschaft, der er entstammt, den Rücken kehrt, und der Familie, in der er bis dato geborgen schien.
Murat Kurnaz reiste nämlich am 3. Oktober 2001 nach Pakistan. Drei Wochen nach den Attentaten auf das World Trade Center vom 11. September zog es ihn nach Karachi und dann in den Norden Pakistans, nach Peshawar, wo die Taliban den Ton angeben. Kurnaz beschreibt diese laute, bunte, drückend schwül heiße Vielvölkerstadt mit ihrem Basar, auf dem mit allem gehandelt wird, was sich verkaufen lässt, wie ein Paradies. Dort deckt er sich mit Geschenken für seine Familie ein; auf seiner Rückfahrt zum Flughafen wird er am 1. Dezember 2001 von einem Polizisten auf der Straße angehalten. Die Polizei reicht ihn weiter ans Militär, das ihn, wie ihm später in Guantánamo bei einem Verhör bestätigt wird, für 3000 Dollar an die Amerikaner verkauft.
Kurnaz wird zum Verhängnis, dass ihm niemand seine Geschichte glaubt. Wer fährt schon ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt ins Herzland der Taliban, nur der religiösen Erweckung wegen? Nur um den Koran zu studieren und der strenggläubigen türkischen Ehefrau, die Kurnaz kurz zuvor geheiratet hat, ein mit allen Geboten seines Glaubens vertrauter Gatte zu sein? Das klingt nicht nur unglaubwürdig, das ist es.
Kurnaz hatte die Moscheen der Jama'at al-Tablighi bereist. Die 1920 in Indien gegründete Jama'at al-Tablighi wird von Experten als unpolitische Missionsbewegung beschrieben, doch tritt sie für einen islamischen Staat ein, sie wirkt im Verborgenen, und das auch noch weltweit. Die radikalen Salafiten und Wahabiten lehnen sie zwar ab - weil sie die Gläubigen daran hindere, die Notwendigkeit des Dschihad, des Heiligen Krieges, zu erkennen. Doch sind durch die Jama'at al-Tablighi auch einige derjenigen gegangen, die sich tatsächlich Al Qaida oder den Taliban anschlossen. Für den amerikanischen Geheimdienst gilt sie als Tarnorganisation, in Dokumenten des Verteidigungsministeriums wird sie als "missionarische Bewegung" beschrieben, die "benutzt wird, um die Reisen und Aktivitäten von Terroristen und Al-Qaida-Mitgliedern zu verschleiern".
Der friedliche Pilger als potentieller Terrorist - in dieses Bild passt Murat Kurnaz. Und dann sagt der Bruder seines damaligen Freundes Seldzuk, der ursprünglich mit ihm nach Pakistan reisen wollte, der deutschen Polizei auch noch, dass man die beiden nicht außer Landes lassen solle, weil sie mit den Taliban in Afghanistan kämpfen wollten. Das sind die Indizien, die gegen Kurnaz sprechen. Die Amerikaner wissen nicht mehr, aber auch nicht weniger, als sie ihn in die Hände bekommen.
Je länger Kurnaz leugnet, desto verdächtiger erscheint er. Also bleibt er auch dann noch in Guantánamo, als etliche, die als Anhänger der Taliban eindeutig identifiziert worden sind, wieder freikommen. Dafür hat Kurnaz fast noch Verständnis, nicht aber für die Obstruktion der rot-grünen Bundesregierung, die seine Rückkehr nach Bremen um jeden Preis zu verhindern suchte. "Wenn das alles wahr ist, wenn man zuließ, dass ich gefoltert wurde, obwohl das zu verhindern gewesen wäre, fehlen mir die Worte."
Die Worte zu bezeugen, auf welch abschüssiger Bahn die Vereinigten Staaten unter George W. Bush im "Krieg gegen den Terror" gen Abgrund sausen, dazu verhilft Murat Kurnaz der Journalist Helmut Kuhn als Koautor. Was den beiden fehlt, ist naturgemäß jede Distanz zu dem Unrecht, das Kurnaz geschah. Aber leider flieht er auch an jeder Stelle, an der er als Mensch vor uns steht, vor dem persönlichen Bekenntnis ins Religiös-Erbauliche. Sein Glaube hat ihm geholfen, zu überleben, uns aber steht sein Schwärmen im Weg, um zu verstehen, wie aus dem ehemaligen Diskothekentürsteher und Kraftsportler ein strenggläubiger Muslim wurde, der einer Frau nicht mehr die Hand geben und ihr nicht einmal mehr ins Gesicht sehen will, weil die Religion es angeblich verlangt. Den reinen Tor, als der Kurnaz als Pilger in Peshawar vor uns tritt, will man ihm schwerlich abnehmen. Seine Erinnerung verklärt die insbesondere für Nichtmuslime gefährlichen Verhältnisse im Norden Pakistans, die er zur Läuterung suchte, bis zur Unkenntlichkeit.
Doch für sich genommen nimmt das Kurnaz' Anklage nichts. Er schildert die Amerikaner als wahre Barbaren, nur wenige treten ihm als Menschen gegenüber und sind in der Lage, auch in ihm das Individuum zu erkennen. Sie entsprechen dem Zerrbild, das der türkische Kinoschocker "Tal der Wölfe" an die Leinwand geworfen hat. Und sie züchten die nächste Generation von Gotteskriegern heran.
Als Murat Kurnaz im August 2006 wieder bei seiner Familie ist, fällt er seiner Mutter in die Arme; den Vater erkennt er nicht, er hält ihn für den geliebten Onkel, der inzwischen gestorben ist. Seinen jüngeren Bruder verwechselt Kurnaz mit dem älteren. Die Euro-Scheine sehen für ihn aus wie Spielgeld, er kommt sich vor wie ein Mann aus der Steinzeit, den langersehnten Kaffee zu trinken vergisst er, als er das erste Mal den Sternenhimmel sieht. Das grüne Plastikarmband, mit dem er in Guantánamo herumlief, hat er noch immer am Handgelenk, mit seinem Foto, der Gefangenennummer 061 und dem Namen: "Kunn, Murat". "Fünf Jahre haben sie mich beinahe täglich verhört, gequält und gefoltert. Aber meinen Namen konnten sie bis zuletzt nicht richtig schreiben." Murat Kurnaz reißt das Band ab.
MICHAEL HANFELD.
Murat Kurnaz: "Fünf Jahre meines Lebens". Ein Bericht aus Guantánamo. Rowohlt, Berlin 2007. 288 S., 16,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Folterbericht: Murat Kurnaz beschreibt seine Haft in Guantánamo - was er in Pakistan wollte, bleibt aber sein Geheimnis
Wenn sie Glück haben, und das haben sie nicht oft, werfen ihnen die Bewacher eine "Emarie" über den Zaun. "Emarie" nennen die Gefangenen in Guantánamo das MRP, das meal ready to eat, eine in Plastik verschweißte Einmannration, in der nicht selten Schweinefleisch steckt. Das ist eine der harmlosen Demütigungen, von denen der in Bremen lebende Murat Kurnaz in seinem Buch "Fünf Jahre meines Lebens" berichtet. Das "Apfelessen" ist etwas anderes: mit dem Kopf so lange unter Wasser getaucht werden, bis man fast ertrinkt. Oder der "Kühlschrank": Isolation in einem auf Nulltemperatur gebrachten Blechcontainer ohne Licht und fast ohne Sauerstoff; Schlafentzug, Elektroschocks, Aufhängen an Metallketten, sexuelle Demütigung, Schläge.
Was Murat Kurnaz über seine fünfjährige Haftzeit im afghanischen Kandahar und dann auf Guantánamo beschreibt, gleicht den Auswüchsen, die aus dem amerikanischen Militärgefängnis von Abu Ghraib im Irak bekanntgeworden sind. Es ist ein Dokument systematischer Folter und Barbarei. Man will es nicht fassen, doch gibt es wenig Grund, anzunehmen, dass Kurnaz übertreibt. Zweifelsfrei verifizieren lassen sich seine Angaben freilich auch nicht. Das liegt gleichsam in der Natur der Sache seines Buches. Es handelt von einer Dunkelkammer, in die vollständig Einsicht zu nehmen der internationalen Öffentlichkeit bis heute verwehrt ist. Er handelt von einem Ort, an dem es keine Rechtsstaatlichkeit gibt. "Ich hatte längst verstanden", schreibt Kurnaz, "worum es in diesem Gefangenenlager ging: Sie konnten mit uns machen, was sie wollten. Ich konnte der Nächste sein."
Er ist der Nächste, immer wieder wird er zum Verhör geführt, mit den immer gleichen Fragen konfrontiert, gedrängt, zu gestehen, dass er ein Al-Qaida-Terrorist ist oder mit den Taliban kämpfen wollte, oder zu verraten, wo Usama Bin Ladin steckt. Immer wieder wird er in jeder erdenklichen Weise schikaniert, gequält und geschlagen. "Ich denke, ich verbrachte insgesamt über ein Jahr allein in absoluter Dunkelheit, entweder in einem Kühlschrank oder in einem Ofen, bei wenig Nahrung. Einmal drei Monate hintereinander."
Kurnaz größte Angst ist, den Ärzten im Lager in die Hände zu fallen; einem widerspenstigen Gefangenen, der einen gebrochenen Finger hatte, werden acht Finger an beiden Händen amputiert. Kurnaz berichtet von Verstümmelungen, ein junger Häftling, der beide Beine verloren hat, wird von den Wachen noch daran gehindert, auf die Latrine zu kriechen, einige werden - so legt Kurnaz es nahe - schließlich sogar von den Wächtern ermordet.
Die Episode aus Kurnaz' Gefangenschaft, die bei uns für einen politischen Skandal gesorgt hat, nimmt sich vergleichsweise gering aus: sein Zusammentreffen mit zwei Soldaten der Bundeswehr-Spezialtruppe KSK in Kandahar - "wir sind die deutsche Kraft" -, die ihn geschlagen haben sollen. Sogar die Zielübung eines weiteren deutschen Soldaten, der seine Laserzielvorrichtung auf die Köpfe der Gefangenen richtet, nimmt man ungerührt zur Kenntnis angesichts des Martyriums, das Kurnaz beschreibt.
Politisch schwerer wiegt das Verhör, dem zwei Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes und einer des Verfassungsschutzes Kurnaz im September 2002 unterzogen und das mit dem Befund endete, dass die Vereinigten Staaten selbst den Eindruck hatten, er sei kein Terrorist und könne bald freikommen. Bei einem weiteren Treffen wird er gefragt, ob er für die deutschen Behörden nicht als V-Mann arbeiten wolle. Von der Folter, die Kurnaz schildert, wollen seine Gesprächspartner nichts hören. Und in Berlin wird zur selben Zeit daran gearbeitet, den Türken in sein Geburtsland abzuschieben. Dass er dort nicht erwünscht ist, wird Kurnaz im Verhör durch drei türkische Militärs klar. Er schildert ihren Auftritt in Guantánamo als peinliche Zirkusnummer, die zum Ziel hatte, ihn abzuwimmeln.
Dabei wird auch deutlich, warum Kurnaz auf den ersten und auch noch auf den zweiten Blick perfekt in das Schema eines Dschihadisten passte und dem Bild eines "Gefährders" entsprach, eines Mannes, der sich dem radikalen Islam zuwendet, der Gesellschaft, der er entstammt, den Rücken kehrt, und der Familie, in der er bis dato geborgen schien.
Murat Kurnaz reiste nämlich am 3. Oktober 2001 nach Pakistan. Drei Wochen nach den Attentaten auf das World Trade Center vom 11. September zog es ihn nach Karachi und dann in den Norden Pakistans, nach Peshawar, wo die Taliban den Ton angeben. Kurnaz beschreibt diese laute, bunte, drückend schwül heiße Vielvölkerstadt mit ihrem Basar, auf dem mit allem gehandelt wird, was sich verkaufen lässt, wie ein Paradies. Dort deckt er sich mit Geschenken für seine Familie ein; auf seiner Rückfahrt zum Flughafen wird er am 1. Dezember 2001 von einem Polizisten auf der Straße angehalten. Die Polizei reicht ihn weiter ans Militär, das ihn, wie ihm später in Guantánamo bei einem Verhör bestätigt wird, für 3000 Dollar an die Amerikaner verkauft.
Kurnaz wird zum Verhängnis, dass ihm niemand seine Geschichte glaubt. Wer fährt schon ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt ins Herzland der Taliban, nur der religiösen Erweckung wegen? Nur um den Koran zu studieren und der strenggläubigen türkischen Ehefrau, die Kurnaz kurz zuvor geheiratet hat, ein mit allen Geboten seines Glaubens vertrauter Gatte zu sein? Das klingt nicht nur unglaubwürdig, das ist es.
Kurnaz hatte die Moscheen der Jama'at al-Tablighi bereist. Die 1920 in Indien gegründete Jama'at al-Tablighi wird von Experten als unpolitische Missionsbewegung beschrieben, doch tritt sie für einen islamischen Staat ein, sie wirkt im Verborgenen, und das auch noch weltweit. Die radikalen Salafiten und Wahabiten lehnen sie zwar ab - weil sie die Gläubigen daran hindere, die Notwendigkeit des Dschihad, des Heiligen Krieges, zu erkennen. Doch sind durch die Jama'at al-Tablighi auch einige derjenigen gegangen, die sich tatsächlich Al Qaida oder den Taliban anschlossen. Für den amerikanischen Geheimdienst gilt sie als Tarnorganisation, in Dokumenten des Verteidigungsministeriums wird sie als "missionarische Bewegung" beschrieben, die "benutzt wird, um die Reisen und Aktivitäten von Terroristen und Al-Qaida-Mitgliedern zu verschleiern".
Der friedliche Pilger als potentieller Terrorist - in dieses Bild passt Murat Kurnaz. Und dann sagt der Bruder seines damaligen Freundes Seldzuk, der ursprünglich mit ihm nach Pakistan reisen wollte, der deutschen Polizei auch noch, dass man die beiden nicht außer Landes lassen solle, weil sie mit den Taliban in Afghanistan kämpfen wollten. Das sind die Indizien, die gegen Kurnaz sprechen. Die Amerikaner wissen nicht mehr, aber auch nicht weniger, als sie ihn in die Hände bekommen.
Je länger Kurnaz leugnet, desto verdächtiger erscheint er. Also bleibt er auch dann noch in Guantánamo, als etliche, die als Anhänger der Taliban eindeutig identifiziert worden sind, wieder freikommen. Dafür hat Kurnaz fast noch Verständnis, nicht aber für die Obstruktion der rot-grünen Bundesregierung, die seine Rückkehr nach Bremen um jeden Preis zu verhindern suchte. "Wenn das alles wahr ist, wenn man zuließ, dass ich gefoltert wurde, obwohl das zu verhindern gewesen wäre, fehlen mir die Worte."
Die Worte zu bezeugen, auf welch abschüssiger Bahn die Vereinigten Staaten unter George W. Bush im "Krieg gegen den Terror" gen Abgrund sausen, dazu verhilft Murat Kurnaz der Journalist Helmut Kuhn als Koautor. Was den beiden fehlt, ist naturgemäß jede Distanz zu dem Unrecht, das Kurnaz geschah. Aber leider flieht er auch an jeder Stelle, an der er als Mensch vor uns steht, vor dem persönlichen Bekenntnis ins Religiös-Erbauliche. Sein Glaube hat ihm geholfen, zu überleben, uns aber steht sein Schwärmen im Weg, um zu verstehen, wie aus dem ehemaligen Diskothekentürsteher und Kraftsportler ein strenggläubiger Muslim wurde, der einer Frau nicht mehr die Hand geben und ihr nicht einmal mehr ins Gesicht sehen will, weil die Religion es angeblich verlangt. Den reinen Tor, als der Kurnaz als Pilger in Peshawar vor uns tritt, will man ihm schwerlich abnehmen. Seine Erinnerung verklärt die insbesondere für Nichtmuslime gefährlichen Verhältnisse im Norden Pakistans, die er zur Läuterung suchte, bis zur Unkenntlichkeit.
Doch für sich genommen nimmt das Kurnaz' Anklage nichts. Er schildert die Amerikaner als wahre Barbaren, nur wenige treten ihm als Menschen gegenüber und sind in der Lage, auch in ihm das Individuum zu erkennen. Sie entsprechen dem Zerrbild, das der türkische Kinoschocker "Tal der Wölfe" an die Leinwand geworfen hat. Und sie züchten die nächste Generation von Gotteskriegern heran.
Als Murat Kurnaz im August 2006 wieder bei seiner Familie ist, fällt er seiner Mutter in die Arme; den Vater erkennt er nicht, er hält ihn für den geliebten Onkel, der inzwischen gestorben ist. Seinen jüngeren Bruder verwechselt Kurnaz mit dem älteren. Die Euro-Scheine sehen für ihn aus wie Spielgeld, er kommt sich vor wie ein Mann aus der Steinzeit, den langersehnten Kaffee zu trinken vergisst er, als er das erste Mal den Sternenhimmel sieht. Das grüne Plastikarmband, mit dem er in Guantánamo herumlief, hat er noch immer am Handgelenk, mit seinem Foto, der Gefangenennummer 061 und dem Namen: "Kunn, Murat". "Fünf Jahre haben sie mich beinahe täglich verhört, gequält und gefoltert. Aber meinen Namen konnten sie bis zuletzt nicht richtig schreiben." Murat Kurnaz reißt das Band ab.
MICHAEL HANFELD.
Murat Kurnaz: "Fünf Jahre meines Lebens". Ein Bericht aus Guantánamo. Rowohlt, Berlin 2007. 288 S., 16,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.04.2007Der Mann aus dem Drahtkäfig
Murat Kurnaz über seine Gefangenschaft in Guantanamo – es bleiben offene Fragen
Folter durch Kälte, Hitze und Lärm, Isolationshaft, tagelanges Hängen an Eisenketten, sadistische „Wasserspiele” der Wärter, Schläge, Hunger und Krankheiten: Mit seinem „Bericht aus Guantanamo” gibt Murat Kurnaz dem Leser einen detaillierten, oft schwer erträglichen Einblick in die Hölle, durch die der junge Deutsch-Türke gegangen ist. Der heute 25-Jährige schildert mit Hilfe seines Ghostwriters Helmut Kuhn, was passiert, wenn man ins Netz von dumpfen Befehlsempfängern und Schlägern gerät, die im Namen eines Anti-Terror-Krieges zur Verteidigung von Demokratie und Freiheit die Menschenrechte mit Füßen treten.
„Weißt du, was die Deutschen mit den Juden gemacht haben? Genauso machen wir es jetzt mit euch.” Mit diesem Satz, so Kurnaz, sei er im „Camp X-Ray”, in Guantanamo Bay auf Kuba von einem Soldaten namens Gail Holford begrüßt worden. „X-Ray” (Röntgenstrahlen) das deutet auf die „Durchsichtigkeit” eines Lagers hin, in dem die Gefangenen noch heute – ohne Rückzugsmöglichkeit und den Launen der Wärter ausgesetzt – in ihren Drahtkäfigen leben. Murat Kurnaz kam im Februar 2002 dort an. Da war er 19 Jahre alt und hatte bereits zwei Monate völliger Rechtlosigkeit, Willkür und Folter in pakistanischen Gefängnissen und in einem US-Militärgefängnis bei Kandahar in Afghanistan hinter sich. Als er am 1. Dezember 2001 in der Nähe von Peschawar/Pakistan an einem Auto-Checkpoint festgenommen wurde, ahnte er nicht, dass er als mutmaßlicher Al-Qaida-Terrorist eine lange Odyssee vor sich hatte.
Nach Kurnaz‘ Schilderungen verliefen die Verhöre durch die Amerikaner, denen er in Guantanamo fast täglich ausgesetzt war, immer gleich ab. Er sollte seine Mitgliedschaft im weltweiten Terrornetzwerk zugeben und die Namen seiner „Komplizen” verraten. Weil er immer wieder seine Unschuld betonte und die sprachliche Verständigung schwierig war, endeten die Verhöre mit Schlägen und Folter; so wie an dem Tag, als ihm über Elektroden an seinen Füßen Strom durch den Körper gejagt wurde. „. . . Ich höre Schreie . . . es sind meine Schreie”, erinnert sich Kurnaz in seinem Buch.
Verdächtig gemacht hatte sich der 19-jährige Schiffbauer aus Bremen, weil er in Begleitung von Mitgliedern der Gruppe Jamaat Tablighi nach Pakistan gereist war – zum Koranstudium, wie er sagte, um sich auf die Ehe mit seiner strenggläubigen türkischen Ehefrau vorzubereiten. Die Motive für Kurnaz’ Reise nach Pakistan, so kurz nach dem 11. September 2001, in das Nachbarland der Taliban-Hochburg Afghanistan sind bis heute nicht eindeutig geklärt. War es wirklich nur eine „Pilgerfahrt” oder
hatte der 19-Jährige doch vor, sich in Pakistan dem Terrorkampf gegen die „Ungläubigen” anzuschließen? Bis jetzt ist das ein blinder Fleck im Leben von
Murat Kurnaz. Schließlich gelten die
Jamaat Tablighi bei Terrorismus-Experten als Verbindungsgruppe zu
al Qaida.
Kritikern, die die Glaubwürdigkeit seines Berichtes deshalb in Frage stellen, muss jedoch entgegengehalten werden, dass über 300 mittlerweile freigelassene Guantanamo-Häftlinge über ähnliche Erfahrungen berichten, dass der Terrorverdacht gegen Kurnaz auch nach jahrelanger Folter nicht bewiesen werden konnte und dass im Januar 2005 eine amerikanische Bundesrichterin die Inhaftierungen auf Guantanamo als „verfassungswidrig” beurteilte und im Fall Murat Kurnaz feststellte, dass die Informationen über ihn nicht ausreichten, um ihn einzusperren.
Dennoch gibt es Passagen in dem Buch, die stutzig machen, etwa die, in dem der Verfasser von einem deutschen Vertreter des Internationalen Roten Kreuzes erzählt, dem er aus dem Lager in Kandahar einen Brief an seine Familie mitgibt, der ihm bei einem späteren Verhör von den Amerikanern um die Ohren gehauen wird. Warum sollte der Repräsentant einer neutralen Hilfsorganisation mit den Peinigern eines offensichtlich schwer malträtierten Gefangenen kollaborieren? Diese Frage lässt das Buch offen.
Warum Kurnaz erst im Sommer 2006 freikam, obwohl die Amerikaner bereits 2002 signalisiert hatten, ihn zu entlassen, und welche möglicherweise unrühmliche Rolle die damalige Bundesregierung und der heutige Außenminister Frank-Walter Steinmeier dabei hatten, soll im BND-Untersuchungsausschuss geklärt werden.
Klar ist jedoch bereits jetzt, dass die damalige Bundesregierung kein Interesse an Kurnaz’ Rückkehr nach Deutschland hatte und durch ihr Zögern und den Wunsch, ihn in die Türkei abzuschieben, die Chance auf eine Freilassung vorübergehen ließ. Für den jungen Mann bedeutete das vier weitere Jahre in der Hölle von Guantanamo. Dort sei er sogar von deutschen Soldaten der Elite-Einheit KSK misshandelt worden, von denen er Hilfe erwartet hatte. Nachdem sie ihn blutig geschlagen hätten, richteten sie, so Kurnaz, zur Unterhaltung ihrer amerikanischen Kollegen, ihre Maschinenpistolen auf die Gefangenen und taten so, als ob sie sie erschießen würden.
„Fünf Jahre meines Lebens” ist – seinem schwerwiegenden Inhalt zum Trotz – ein leises, zurückhaltend geschriebenes Buch. Es ist in jenem sachlichen Ton
verfasst, mit dem Murat Kurnaz bereits vor dem BND-Untersuchungsausschuss manchen beeindruckte. Aber nicht nur als Schilderung eines tragischen Einzelschicksals ist es unbedingt lesenswert. Es ist vor allem ein Dokument, das die USA – zumindest in ihrem Anti-Terror-Kampf – als ein Land entlarvt, das gegen die Genfer Konventionen verstößt und sich völkerrechtswidrig verhält. Es ist auch eine Mahnung an die westliche Welt, die viel zu viele Augen zudrückt; die Bundesregierung – deren Kanzlerin allerdings andererseits die Freilassung Kurnaz’ bewirkt hat – eingeschlossen. Schließlich ist das Buch eine Erinnerung daran, dass das, worüber Murat Kurnaz berichtet auch heute noch möglich ist. Denn leider ist „Guantanamo” auch im Jahr 2007 längst nicht Vergangenheit.
AGNES STEINBAUER
MURAT KURNAZ/HELMUT KUHN: Fünf Jahre meines Lebens. Ein Bericht aus Guantanamo. Rowohlt, Berlin 2007. 285 Seiten, 16,90 Euro.
Hörte seine eigenen Schreie: Guantanamo-Häftling Murat Kurnaz. Foto: dpa
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Murat Kurnaz über seine Gefangenschaft in Guantanamo – es bleiben offene Fragen
Folter durch Kälte, Hitze und Lärm, Isolationshaft, tagelanges Hängen an Eisenketten, sadistische „Wasserspiele” der Wärter, Schläge, Hunger und Krankheiten: Mit seinem „Bericht aus Guantanamo” gibt Murat Kurnaz dem Leser einen detaillierten, oft schwer erträglichen Einblick in die Hölle, durch die der junge Deutsch-Türke gegangen ist. Der heute 25-Jährige schildert mit Hilfe seines Ghostwriters Helmut Kuhn, was passiert, wenn man ins Netz von dumpfen Befehlsempfängern und Schlägern gerät, die im Namen eines Anti-Terror-Krieges zur Verteidigung von Demokratie und Freiheit die Menschenrechte mit Füßen treten.
„Weißt du, was die Deutschen mit den Juden gemacht haben? Genauso machen wir es jetzt mit euch.” Mit diesem Satz, so Kurnaz, sei er im „Camp X-Ray”, in Guantanamo Bay auf Kuba von einem Soldaten namens Gail Holford begrüßt worden. „X-Ray” (Röntgenstrahlen) das deutet auf die „Durchsichtigkeit” eines Lagers hin, in dem die Gefangenen noch heute – ohne Rückzugsmöglichkeit und den Launen der Wärter ausgesetzt – in ihren Drahtkäfigen leben. Murat Kurnaz kam im Februar 2002 dort an. Da war er 19 Jahre alt und hatte bereits zwei Monate völliger Rechtlosigkeit, Willkür und Folter in pakistanischen Gefängnissen und in einem US-Militärgefängnis bei Kandahar in Afghanistan hinter sich. Als er am 1. Dezember 2001 in der Nähe von Peschawar/Pakistan an einem Auto-Checkpoint festgenommen wurde, ahnte er nicht, dass er als mutmaßlicher Al-Qaida-Terrorist eine lange Odyssee vor sich hatte.
Nach Kurnaz‘ Schilderungen verliefen die Verhöre durch die Amerikaner, denen er in Guantanamo fast täglich ausgesetzt war, immer gleich ab. Er sollte seine Mitgliedschaft im weltweiten Terrornetzwerk zugeben und die Namen seiner „Komplizen” verraten. Weil er immer wieder seine Unschuld betonte und die sprachliche Verständigung schwierig war, endeten die Verhöre mit Schlägen und Folter; so wie an dem Tag, als ihm über Elektroden an seinen Füßen Strom durch den Körper gejagt wurde. „. . . Ich höre Schreie . . . es sind meine Schreie”, erinnert sich Kurnaz in seinem Buch.
Verdächtig gemacht hatte sich der 19-jährige Schiffbauer aus Bremen, weil er in Begleitung von Mitgliedern der Gruppe Jamaat Tablighi nach Pakistan gereist war – zum Koranstudium, wie er sagte, um sich auf die Ehe mit seiner strenggläubigen türkischen Ehefrau vorzubereiten. Die Motive für Kurnaz’ Reise nach Pakistan, so kurz nach dem 11. September 2001, in das Nachbarland der Taliban-Hochburg Afghanistan sind bis heute nicht eindeutig geklärt. War es wirklich nur eine „Pilgerfahrt” oder
hatte der 19-Jährige doch vor, sich in Pakistan dem Terrorkampf gegen die „Ungläubigen” anzuschließen? Bis jetzt ist das ein blinder Fleck im Leben von
Murat Kurnaz. Schließlich gelten die
Jamaat Tablighi bei Terrorismus-Experten als Verbindungsgruppe zu
al Qaida.
Kritikern, die die Glaubwürdigkeit seines Berichtes deshalb in Frage stellen, muss jedoch entgegengehalten werden, dass über 300 mittlerweile freigelassene Guantanamo-Häftlinge über ähnliche Erfahrungen berichten, dass der Terrorverdacht gegen Kurnaz auch nach jahrelanger Folter nicht bewiesen werden konnte und dass im Januar 2005 eine amerikanische Bundesrichterin die Inhaftierungen auf Guantanamo als „verfassungswidrig” beurteilte und im Fall Murat Kurnaz feststellte, dass die Informationen über ihn nicht ausreichten, um ihn einzusperren.
Dennoch gibt es Passagen in dem Buch, die stutzig machen, etwa die, in dem der Verfasser von einem deutschen Vertreter des Internationalen Roten Kreuzes erzählt, dem er aus dem Lager in Kandahar einen Brief an seine Familie mitgibt, der ihm bei einem späteren Verhör von den Amerikanern um die Ohren gehauen wird. Warum sollte der Repräsentant einer neutralen Hilfsorganisation mit den Peinigern eines offensichtlich schwer malträtierten Gefangenen kollaborieren? Diese Frage lässt das Buch offen.
Warum Kurnaz erst im Sommer 2006 freikam, obwohl die Amerikaner bereits 2002 signalisiert hatten, ihn zu entlassen, und welche möglicherweise unrühmliche Rolle die damalige Bundesregierung und der heutige Außenminister Frank-Walter Steinmeier dabei hatten, soll im BND-Untersuchungsausschuss geklärt werden.
Klar ist jedoch bereits jetzt, dass die damalige Bundesregierung kein Interesse an Kurnaz’ Rückkehr nach Deutschland hatte und durch ihr Zögern und den Wunsch, ihn in die Türkei abzuschieben, die Chance auf eine Freilassung vorübergehen ließ. Für den jungen Mann bedeutete das vier weitere Jahre in der Hölle von Guantanamo. Dort sei er sogar von deutschen Soldaten der Elite-Einheit KSK misshandelt worden, von denen er Hilfe erwartet hatte. Nachdem sie ihn blutig geschlagen hätten, richteten sie, so Kurnaz, zur Unterhaltung ihrer amerikanischen Kollegen, ihre Maschinenpistolen auf die Gefangenen und taten so, als ob sie sie erschießen würden.
„Fünf Jahre meines Lebens” ist – seinem schwerwiegenden Inhalt zum Trotz – ein leises, zurückhaltend geschriebenes Buch. Es ist in jenem sachlichen Ton
verfasst, mit dem Murat Kurnaz bereits vor dem BND-Untersuchungsausschuss manchen beeindruckte. Aber nicht nur als Schilderung eines tragischen Einzelschicksals ist es unbedingt lesenswert. Es ist vor allem ein Dokument, das die USA – zumindest in ihrem Anti-Terror-Kampf – als ein Land entlarvt, das gegen die Genfer Konventionen verstößt und sich völkerrechtswidrig verhält. Es ist auch eine Mahnung an die westliche Welt, die viel zu viele Augen zudrückt; die Bundesregierung – deren Kanzlerin allerdings andererseits die Freilassung Kurnaz’ bewirkt hat – eingeschlossen. Schließlich ist das Buch eine Erinnerung daran, dass das, worüber Murat Kurnaz berichtet auch heute noch möglich ist. Denn leider ist „Guantanamo” auch im Jahr 2007 längst nicht Vergangenheit.
AGNES STEINBAUER
MURAT KURNAZ/HELMUT KUHN: Fünf Jahre meines Lebens. Ein Bericht aus Guantanamo. Rowohlt, Berlin 2007. 285 Seiten, 16,90 Euro.
Hörte seine eigenen Schreie: Guantanamo-Häftling Murat Kurnaz. Foto: dpa
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Ein wichtiges Dokument sieht Agnes Steinbauer in Murat Kurnaz' Bericht über seine Gefangenschaft in pakistanischen Gefängnissen und dann in Guantanamo, der einen "oft schwer erträglichen Einblick in die Hölle" gibt. An der Glaubwürdigkeit der Schilderungen über die Zustände in Guantanamo, über brutale Verhörmethoden, Folter und sadistische Wärter hat sie keine Zweifel. Allerdings bleiben in anderer Hinsicht für sie Fragen offen, etwa die Motive des damals 19-jährigen Deutsch-Türken, zwei Wochen nach dem 11. September 2001 nach Pakistan zu reisen - in Begleitung von Mitgliedern einer Gruppe, die Verbindungen zu al-Qaida unterhält. Steinbauer hebt besonders den "sachlichen Ton" hervor, den Kurnaz und sein Coautor Helmut Kuhn anschlagen. So ist in ihren Augen ein "leises, zurückhaltendes" Buch entstanden, trotz des "schwerwiegenden" Inhalts. Nicht nur als Schilderung eines Einzelschicksals hält sie das Buch für "unbedingt lesenswert", sondern auch als Bericht, der die Verstöße der USA gegen die Genfer Konventionen und das Völkerrecht dokumentiert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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