Beim Golfen werden viele Bälle verschossen. 55.555 davon muss Laurent eigenhändig einsammeln, um eine alte Schuld bei NO, seinem Jugendfreund, zu begleichen. Dieser hatte Laurents Vater vor der Gestapo gerettet. Was zunächst wie ein harmloser Scherz aussieht, ist ein grausames Spiel. Ein heiter-trauriger Roman, in dem Sportliches und Mathematisches, Historisches und Philosophisches aufs Eleganteste verwoben sind.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.01.2004Es waren Golfbälle in der Luft
Mit dem Papierschiff unterwegs: Jacques Roubauds literarisches Vexierbild über Rasensportler, Agenten und Kollaborateure
Hätte Herman Melvilles Bartleby - kaum vorstellbar - Nachfahren gehabt, wäre Roubauds Romanheld Laurent Akapo gewiß ein entfernter Enkel von ihm: Seine Geburt 1933 bedeutet eine zeitliche Koinzidenz mit dem Machtantritt eines sattsam bekannten Diktators, die Laurents Vater John Akapo gar nicht schätzte. Aufgewachsen ist Laurent in einer schottisch-baskisch-französischen Bürgerfamilie am Meer unweit der spanischen Grenze in einer stattlichen Villa mit zwei symmetrischen Flügeln, die vom ersten Besitzer zu Ehren von Königin Victoria und Prinz Albert mit den Großbuchstaben V und A der Voici- und der Voilà-Flügel genannt wurden. Und da haben wir's: Für den kargen Weltverweigerungssatz "Ich möchte lieber nicht" eines Bartleby ist der Erzählfaden hier viel zu weit geknüpft.
Der Mathematiker und Romanautor Jacques Roubaud, der mit Georges Perec und Italo Calvino in der heiter experimentellen Literatengruppe Oulipo heranreifte, braucht historischen, anekdotischen und metaphorischen Spielraum, um seine Kombinatorik zur Entfaltung zu bringen. Statt in der abweisenden Negativform des parabolischen Neinsagens übt sich sein Held im kumulativen Jasagen des permanenten Einsammelns: Ja, auch diesen verschossenen Golfball will er und jenen und auch jenen schon weit drüben im Nachbargrundstück. Es sind enorm viele Bälle, laut Romantitel "fünfundfünfzigtausendfünfhundertfünfundfünfzig", die Laurent Akapo einsammelt - ein Lebenswerk wie das Lieber-nicht-Wollen Bartlebys, nur eben positiv auf- und abzählbar. Daß die wunderbare deutsche Übersetzung schon im Romantitel schlichtweg die Summe nennt, kommt wohl daher, daß die Bedeutungsfülle des französischen Originals "La dernière balle perdue", wo verspielte Bälle, verlorene Kugeln, verschossene Munition, Blindgänger und letzte Chancen frei durcheinanderwirbeln, schlichtweg unübertragbar ist.
Denn hinter der scherzhaft daherkommenden Geschichte eines Sonderlings, in der wir unter anderem auch im Detail erfahren, wie man Papierschiffe faltet oder sich in den Ausgängen des Bahnhofs Lyon-Perrache zielsicher verfehlt, erzählt Roubaud Zeitgeschichte und Daseinsschicksale von unwiderstehlicher Eindringlichkeit. Historische Ereignisse gleiten meist leicht auf einem "übrigens . . ." daher oder werden in flüchtigen Gesprächsfetzen präsentiert, wenn Laurents Vater, ein Résistance-Kämpfer, und sein Onkel etwa die Abenteuer von "that Mr Hitler" erwähnen. Laurents Kindheit geht im Juni 1945 im Pariser Hotel Lutetia zu Ende, wo der Junge und seine Mutter erfahren, daß der Vater aus Buchenwald nicht zurückkehren wird.
Das Leben aber geht weiter. Nun beginnt das Sammeln der besagten Anzahl ins Out geschossener Golfbälle, die Laurent in der Kindheit seinem Freund Norbert für einen geleisteten Dienst versprochen hat. "A gentleman always keeps his word", hatte ihm der Vater beigebracht. Der junge Mann verdingt sich als Caddie und gehört bald zum lokalen Golfplatz wie das Gras. Das absurde Worthalten mit den im Voilà-Flügel der Villa sich häufenden Bällen dauert über ein halbes Jahrhundert, bis 1996. Ein Jahr später erschien dann Roubauds Roman im Original.
Am treffendsten ist die Erzählkunst dieses Autors wohl beschrieben mit der Feststellung, daß uns nach diesen gut hundertvierzig Seiten ist, als hätten wir eine tausendseitige Lebensgeschichte hinter uns und das Buch keinen Augenblick aus der Hand gelegt: So leicht und doch ernst wirkt sie nach. Mit Ellipsen und Fokussierungseffekten versteht Roubaud die narrative Großräumigkeit eines Flaubert oder Balzac auf ein paar Seiten zu bündeln und dazwischen auch noch seine Literaturspiele zu treiben. Die Papierflotten der beiden Jugendfreunde schnellen beim Regenwetter hinterm Haus munter den Bach hinab zum Ozean, bis bei den Kriegsspielen im Schulhof keiner mehr Hitler und nicht einmal Pétain sein will. Während des Sommeraufenthalts bei der Tante in Lyon vertilgen die ausgehungerten Knaben frische Landeier, Erdbeeren, Radieschen und Hühnerkeulen, als gäbe es keinen Krieg mehr, und spielen auf dem Feldweg zwischen Tomaten und Maulbeerbäumen mit Pingpongbällen Golf. Dann bricht die Nachkriegszeit an. Der lustige Jugendfreund Norbert wird Student und dann vernünftig und übernimmt die Schokoladefabrik des einst kollaborierenden Vaters.
Laurent derweil versteift sich auf den existentiellen Dauerlauf nach dem "Danach", der hypothetischen Zeit nach Erfüllung seiner Aufgabe. Im Frühjahr 1953 weint er nach einem Wiedersehen mit der platonischen Jugendgeliebten Marie-Ange seine letzte Träne, reist mit einem der letzten noch verkehrenden Schiffe im Mai 1968 besuchsweise zu dem nach Buchenwald verschollenen, wiedergefundenen Onkel nach Schottland und wird dann später im Zug von Lyon nach Bordeaux inmitten einer lachenden und lärmenden Jugend gesehen unterwegs an die Strände, die angeblich unter den Pflastersteinen lagen. In Laurents Träumen ziehen, "so wie Blitze einen Gewitterhimmel durchzucken, Golfbälle und immer mehr Golfbälle vorüber, weiß, einer nach dem anderen, in ungewöhnlichen Flugbahnen, mal winzig klein, dann wieder riesengroß".
Was sich so je nach Belieben als historischer Roman, als Parabel, Thriller, literarisches Impromptu oder als alles zugleich liest, ergibt ein reizvolles Vexierbild, das mit jedem Satz vom Scherz zur Tragik, von da weiter zum absurden Zufall und sogleich zurück zum subtilen Humor schnellt. Nur auf den Schlußsatz des rätselhaften Mitspielers Norbert hätten wir gerne verzichtet: Daß da fünfundfünfzigtausendfünfhundertvierundfünfzig Bälle zuviel eingesammelt wurden, weil ein Doppelagent im Spiel war, hat uns schon lange gedämmert. Wie Norbert den letzten Ball gäben wir diesen letzten Satz bedenkenlos dran.
Jacques Roubaud: "Fünfundfünfzigtausendfünfhundertfünfundfünfzig Bälle". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Edl. Hanser Verlag, München, 2003. 144 S., geb., 14,90 [Euro].
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Mit dem Papierschiff unterwegs: Jacques Roubauds literarisches Vexierbild über Rasensportler, Agenten und Kollaborateure
Hätte Herman Melvilles Bartleby - kaum vorstellbar - Nachfahren gehabt, wäre Roubauds Romanheld Laurent Akapo gewiß ein entfernter Enkel von ihm: Seine Geburt 1933 bedeutet eine zeitliche Koinzidenz mit dem Machtantritt eines sattsam bekannten Diktators, die Laurents Vater John Akapo gar nicht schätzte. Aufgewachsen ist Laurent in einer schottisch-baskisch-französischen Bürgerfamilie am Meer unweit der spanischen Grenze in einer stattlichen Villa mit zwei symmetrischen Flügeln, die vom ersten Besitzer zu Ehren von Königin Victoria und Prinz Albert mit den Großbuchstaben V und A der Voici- und der Voilà-Flügel genannt wurden. Und da haben wir's: Für den kargen Weltverweigerungssatz "Ich möchte lieber nicht" eines Bartleby ist der Erzählfaden hier viel zu weit geknüpft.
Der Mathematiker und Romanautor Jacques Roubaud, der mit Georges Perec und Italo Calvino in der heiter experimentellen Literatengruppe Oulipo heranreifte, braucht historischen, anekdotischen und metaphorischen Spielraum, um seine Kombinatorik zur Entfaltung zu bringen. Statt in der abweisenden Negativform des parabolischen Neinsagens übt sich sein Held im kumulativen Jasagen des permanenten Einsammelns: Ja, auch diesen verschossenen Golfball will er und jenen und auch jenen schon weit drüben im Nachbargrundstück. Es sind enorm viele Bälle, laut Romantitel "fünfundfünfzigtausendfünfhundertfünfundfünfzig", die Laurent Akapo einsammelt - ein Lebenswerk wie das Lieber-nicht-Wollen Bartlebys, nur eben positiv auf- und abzählbar. Daß die wunderbare deutsche Übersetzung schon im Romantitel schlichtweg die Summe nennt, kommt wohl daher, daß die Bedeutungsfülle des französischen Originals "La dernière balle perdue", wo verspielte Bälle, verlorene Kugeln, verschossene Munition, Blindgänger und letzte Chancen frei durcheinanderwirbeln, schlichtweg unübertragbar ist.
Denn hinter der scherzhaft daherkommenden Geschichte eines Sonderlings, in der wir unter anderem auch im Detail erfahren, wie man Papierschiffe faltet oder sich in den Ausgängen des Bahnhofs Lyon-Perrache zielsicher verfehlt, erzählt Roubaud Zeitgeschichte und Daseinsschicksale von unwiderstehlicher Eindringlichkeit. Historische Ereignisse gleiten meist leicht auf einem "übrigens . . ." daher oder werden in flüchtigen Gesprächsfetzen präsentiert, wenn Laurents Vater, ein Résistance-Kämpfer, und sein Onkel etwa die Abenteuer von "that Mr Hitler" erwähnen. Laurents Kindheit geht im Juni 1945 im Pariser Hotel Lutetia zu Ende, wo der Junge und seine Mutter erfahren, daß der Vater aus Buchenwald nicht zurückkehren wird.
Das Leben aber geht weiter. Nun beginnt das Sammeln der besagten Anzahl ins Out geschossener Golfbälle, die Laurent in der Kindheit seinem Freund Norbert für einen geleisteten Dienst versprochen hat. "A gentleman always keeps his word", hatte ihm der Vater beigebracht. Der junge Mann verdingt sich als Caddie und gehört bald zum lokalen Golfplatz wie das Gras. Das absurde Worthalten mit den im Voilà-Flügel der Villa sich häufenden Bällen dauert über ein halbes Jahrhundert, bis 1996. Ein Jahr später erschien dann Roubauds Roman im Original.
Am treffendsten ist die Erzählkunst dieses Autors wohl beschrieben mit der Feststellung, daß uns nach diesen gut hundertvierzig Seiten ist, als hätten wir eine tausendseitige Lebensgeschichte hinter uns und das Buch keinen Augenblick aus der Hand gelegt: So leicht und doch ernst wirkt sie nach. Mit Ellipsen und Fokussierungseffekten versteht Roubaud die narrative Großräumigkeit eines Flaubert oder Balzac auf ein paar Seiten zu bündeln und dazwischen auch noch seine Literaturspiele zu treiben. Die Papierflotten der beiden Jugendfreunde schnellen beim Regenwetter hinterm Haus munter den Bach hinab zum Ozean, bis bei den Kriegsspielen im Schulhof keiner mehr Hitler und nicht einmal Pétain sein will. Während des Sommeraufenthalts bei der Tante in Lyon vertilgen die ausgehungerten Knaben frische Landeier, Erdbeeren, Radieschen und Hühnerkeulen, als gäbe es keinen Krieg mehr, und spielen auf dem Feldweg zwischen Tomaten und Maulbeerbäumen mit Pingpongbällen Golf. Dann bricht die Nachkriegszeit an. Der lustige Jugendfreund Norbert wird Student und dann vernünftig und übernimmt die Schokoladefabrik des einst kollaborierenden Vaters.
Laurent derweil versteift sich auf den existentiellen Dauerlauf nach dem "Danach", der hypothetischen Zeit nach Erfüllung seiner Aufgabe. Im Frühjahr 1953 weint er nach einem Wiedersehen mit der platonischen Jugendgeliebten Marie-Ange seine letzte Träne, reist mit einem der letzten noch verkehrenden Schiffe im Mai 1968 besuchsweise zu dem nach Buchenwald verschollenen, wiedergefundenen Onkel nach Schottland und wird dann später im Zug von Lyon nach Bordeaux inmitten einer lachenden und lärmenden Jugend gesehen unterwegs an die Strände, die angeblich unter den Pflastersteinen lagen. In Laurents Träumen ziehen, "so wie Blitze einen Gewitterhimmel durchzucken, Golfbälle und immer mehr Golfbälle vorüber, weiß, einer nach dem anderen, in ungewöhnlichen Flugbahnen, mal winzig klein, dann wieder riesengroß".
Was sich so je nach Belieben als historischer Roman, als Parabel, Thriller, literarisches Impromptu oder als alles zugleich liest, ergibt ein reizvolles Vexierbild, das mit jedem Satz vom Scherz zur Tragik, von da weiter zum absurden Zufall und sogleich zurück zum subtilen Humor schnellt. Nur auf den Schlußsatz des rätselhaften Mitspielers Norbert hätten wir gerne verzichtet: Daß da fünfundfünfzigtausendfünfhundertvierundfünfzig Bälle zuviel eingesammelt wurden, weil ein Doppelagent im Spiel war, hat uns schon lange gedämmert. Wie Norbert den letzten Ball gäben wir diesen letzten Satz bedenkenlos dran.
Jacques Roubaud: "Fünfundfünfzigtausendfünfhundertfünfundfünfzig Bälle". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Edl. Hanser Verlag, München, 2003. 144 S., geb., 14,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Die Einzelheiten der Handlung mag Jörg Drews lieber für sich behalten - "unmöglich zu verraten, was es mit den 55.555 Golfbällen auf sich hat" -, doch sein Qualitätsurteil ist eindeutig: ein meisterhafter Roman. Jacques Roubaud gelinge es, in seiner "fast tänzelnden Prosa" wahrhaft "herzzerreißend" von einer Jugendfreundschaft zu erzählen und zugleich durch tiefe Abgründe zu gehen - dem Leser vom "Gift" der Kollaboration probieren zu lassen, das die französische Gesellschaft bis heute nicht abgebaut hat, und zu zeigen, dass Menschen wahrhaftig und unabhängig von psychologischer Prägung "böse" sein können. Böse wie Norbert, oder NO, der seinen besten Freund Laurent lebenslang leiden lässt, der "Ball für Ball" die Existenz des Nächsten zerstört, um sich für einen winzigen Verrat, begangen mit sieben Jahren, zu rächen. "Es ist heillos vielschichtig, was Jacques Roubaud hier karg und ohne je die Stimme zu heben erzählt", schreibt Drews merklich ergriffen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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