Ein sensibler und intimer Roman, der über den Sinn des Lebens, die Sehnsucht nach Normalität und über gesellschaftliche Normen unserer verrückt gewordenen Welt reflektiert.
Manchmal ist Daniele alles zu viel. Manchmal fühlt es sich so an, als ob die Welt auf ihn hereinprasseln würde, solange bis er es nicht mehr aushält. Gestern war so ein Tag, und heute wacht er in der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie auf. Nach einem Wutausbruch wird Daniele sieben Tage lang zwangsweise eingewiesen. Er hat fünf Bettgenossen, mit denen er von Tag zu Tag, wenn auch zaghaft, mehr ins Gespräch kommt. Oft schämt er sich für das, was er tut, und das, was er fühlt, und würde am liebsten »normal« sein. Aber was heißt das schon, normal zu sein?
Zärtlich und kraftvoll zugleich schreibt Daniele Mencarelli von der erstickenden Hitze der Junisonne, der Euphorie der Europameisterschaft, der Gleichgültigkeit von Ärzten und Krankenpersonal und von einem ganz besonderen Band, das sich zwischen sechs Patienten entwickelt.
»Es ist, als würde er in Versen schreiben, selbst wenn er in Prosa schreibt. Es erinnert mich an die Worte dieses englischen Kritikers John Berger, der von der Poesie als der einzigen Stimme sprach, die man auf einem Schlachtfeld verwenden kann.«
Enrico Morteo, Radio Tre
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Manchmal ist Daniele alles zu viel. Manchmal fühlt es sich so an, als ob die Welt auf ihn hereinprasseln würde, solange bis er es nicht mehr aushält. Gestern war so ein Tag, und heute wacht er in der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie auf. Nach einem Wutausbruch wird Daniele sieben Tage lang zwangsweise eingewiesen. Er hat fünf Bettgenossen, mit denen er von Tag zu Tag, wenn auch zaghaft, mehr ins Gespräch kommt. Oft schämt er sich für das, was er tut, und das, was er fühlt, und würde am liebsten »normal« sein. Aber was heißt das schon, normal zu sein?
Zärtlich und kraftvoll zugleich schreibt Daniele Mencarelli von der erstickenden Hitze der Junisonne, der Euphorie der Europameisterschaft, der Gleichgültigkeit von Ärzten und Krankenpersonal und von einem ganz besonderen Band, das sich zwischen sechs Patienten entwickelt.
»Es ist, als würde er in Versen schreiben, selbst wenn er in Prosa schreibt. Es erinnert mich an die Worte dieses englischen Kritikers John Berger, der von der Poesie als der einzigen Stimme sprach, die man auf einem Schlachtfeld verwenden kann.«
Enrico Morteo, Radio Tre
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Der Gewalttäter und sein Schatz an Menschlichkeit
Daniele Mencarellis Psychiatrie-Roman
Romane, die von der Psychiatrie erzählen, wandeln auf einem schmalen Grat: Wie beschreibt man diesen geschlossenen Raum und seine Patienten, ohne dabei in gängige Klischees zu verfallen? In "Für die Kämpfer, für die Verrückten" versucht Daniele Mencarelli, geboren 1974 in Rom, genau das. Es gelingt ihm nicht immer.
Die Handlung des autobiographisch inspirierten Romans spielt während einer Woche im Sommer 1994. Der zwanzigjährige Daniele Mencarelli, der Namen und biographische Eckdaten mit dem Verfasser teilt, wird für sieben Tage zur "obligatorischen therapeutischen Unterbringung" (OTU) in die Psychiatrie eingeliefert, nachdem einer seiner Wutanfälle bei seinem Vater einen Herzanfall ausgelöst hat. Sein Zimmer teilt er mit fünf weiteren Männern, deren Persönlichkeiten und Erkrankungen einen Großteil der Geschichte ausmachen. Die Protagonisten sind unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher sozialer Herkunft, was sich auch in ihrer Sprache ausdrückt. Große Teile des italienischen Originals sind in römischem Dialekt verfasst, dessen grobe Schnodderigkeit die Übersetzerin Annette Kopetzki durch Umgangssprache und gezielte sprachliche Unsauberkeiten ins Deutsche überträgt.
Der therapeutische Aspekt der OTU kommt während Danieles Aufenthalt eher zu kurz. Mencarelli beschreibt eine Art der Psychiatrie, die hoffentlich auch in den Neunzigerjahren nicht mehr die Norm gewesen ist: Gesprächstherapien gibt es nicht, nur Psychiater, denen das Schicksal ihrer Patienten egal ist, die vergessen, wer vor ihnen sitzt, oder sogar einschlafen.
In der Nachbarabteilung, so wird den Patienten vom Pflegepersonal erzählt, liegen "die Bösen". Natürlich stellt sich im Verlauf der Handlung heraus, dass das nicht stimmt, dass diese Geschichte nur ein Versuch ist, die Patienten dazu zu bringen, in ihrer eigenen Abteilung zu bleiben. Schließlich möchte der Roman genau das Gegenteil vermitteln: dass es die "bösen" psychisch Kranken gar nicht gibt. Mit dem Klischee spielt er trotzdem. Wenn Schreie aus der anderen Abteilung hinüberdringen und Daniele sich fragt, was vor sich geht, greift Mencarelli genau den alten Topos aus Schauerromanen auf, gegen den er ja eigentlich anschreibt.
In "Für die Kämpfer, für die Verrückten" stellt der Autor Fragen, die durchaus relevant sind: Wer gilt in unserer Gesellschaft als gesund, wer als krank? Wie gehen wir mit den Menschen um, die wir als krank bezeichnen? Doch ist seine Art zu fragen wenig subtil: "Diese Verrohung, das ist Wissenschaft?", heißt es dann etwa. Oder: "Inzwischen ist alles Krankheit, habt ihr euch jemals gefragt, warum?" Auch die Schlüsse, die der Erzähler aus den Erkrankungen seiner Mitpatienten zieht, sind oft simpel: Da trägt ein Patient im Sommer einen dicken Morgenmantel, denn: "Dort, wo er jetzt ist, herrscht Eiseskälte."
Daniele kann dieses Leid kaum ertragen. Er wünscht sich "Erlösung", für sich und für die anderen. Der italienische Titel des Romans und auch der Serie, die im Oktober auf Netflix erschienen ist, lautet: "Tutto chiede salvezza" - "Alles bittet um Erlösung". Es ist ein religiöser Wunsch, den er, der in einem religionsfernen Haushalt aufgewachsen ist, hegt. Dazu passen sein Bettnachbar, der ständig die Madonna anruft, Danieles Verehrung der eigenen Mutter und auch sein Nachdenken über Gut und Böse.
Gut sind bei Mencarelli eigentlich alle Patienten. Gibt es am Anfang noch Konflikte, so sind die zum Ende der Woche weitestgehend ausgeräumt. Nun überwiegt die Barmherzigkeit - durchaus dick aufgetragen: "Da sind sie, jeder in seiner Zimmerecke, jeder seinem Zustand wehrlos ausgeliefert, den Elementen ausgesetzt, nackt ans Leben geklammert, erdrückt von einem Leiden, das ihnen gegeben wurde. Meine Brüder."
Dass eine psychische Erkrankung einen zu einem guten Menschen macht und zu irgendeiner Form von Erleuchtung führt, wie das Buch es nahelegt, ist aber ebenfalls ein, wenn auch wohlwollendes Klischee, das der Komplexität der Realität kaum gerecht wird. Das gilt besonders für die Beschreibung von Mario, einem der Mitpatienten. Über ihn heißt es am Ende des Romans: "Er und sein Schatz an Menschlichkeit, den er für alle Welt bereithält." Nun ist Mario in der Psychiatrie, weil er versucht hat, Frau und Tochter umzubringen. Zumindest dieser Teil der Welt scheint von seinem Schatz an Menschlichkeit eher weniger profitiert zu haben. Das heißt zwar nicht, dass Mario nicht gute Seiten haben und seine Taten bereuen kann. Zu dem Heiligen, den der Roman aus ihm macht, wird er dadurch aber nicht.
Zwar lässt Daniele Mencarelli Widersprüche in seinen Figuren in Ansätzen zu - dass Mario ein Gewalttäter ist, würde sonst nicht erwähnt werden. Doch im Großen und Ganzen ist die Aufteilung recht eindeutig: Kälte auf Seiten der Ärzte, Menschlichkeit unter den Patienten. Das ist schon erzählerisch langweilig, vermittelt aber auch eine problematische Botschaft: Menschen mit psychischen Erkrankungen sollten wir nicht deshalb mit mehr Mitgefühl begegnen, weil sie besonders herzensgut oder klug sind. Sondern ganz einfach, weil eine solche Behandlung jedem zusteht, der sie benötigt - unabhängig vom Charakter.
Interessant wird der Roman immer dann, wenn er den seltsamen Mikrokosmos eines Sechsbettzimmers in der Psychiatrie beschreibt: Wie man dort mit fünf Unbekannten zusammenlebt, die mitunter schnarchen und stinken, mit denen man aber in kürzester Zeit Intimstes teilt, sich so entblößt, wie man es vielleicht vor Freunden nicht tun würde.
Nur um sich dann, nach dem Aufenthalt, nie wieder zu sehen. Allein die Beschreibung dieser Momente, dieses Zusammenlebens würde vermutlich reichen, um genau das Mitgefühl zu erzielen, das der Erzähler und sein Autor (in der Widmung, in der Danksagung) so explizit einfordern. So viel darf man seinen Lesern schon zutrauen. ANNA VOLLMER
Daniele Mencarelli: "Für die Kämpfer, für die Verrückten". Roman.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2022. 224 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Daniele Mencarellis Psychiatrie-Roman
Romane, die von der Psychiatrie erzählen, wandeln auf einem schmalen Grat: Wie beschreibt man diesen geschlossenen Raum und seine Patienten, ohne dabei in gängige Klischees zu verfallen? In "Für die Kämpfer, für die Verrückten" versucht Daniele Mencarelli, geboren 1974 in Rom, genau das. Es gelingt ihm nicht immer.
Die Handlung des autobiographisch inspirierten Romans spielt während einer Woche im Sommer 1994. Der zwanzigjährige Daniele Mencarelli, der Namen und biographische Eckdaten mit dem Verfasser teilt, wird für sieben Tage zur "obligatorischen therapeutischen Unterbringung" (OTU) in die Psychiatrie eingeliefert, nachdem einer seiner Wutanfälle bei seinem Vater einen Herzanfall ausgelöst hat. Sein Zimmer teilt er mit fünf weiteren Männern, deren Persönlichkeiten und Erkrankungen einen Großteil der Geschichte ausmachen. Die Protagonisten sind unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher sozialer Herkunft, was sich auch in ihrer Sprache ausdrückt. Große Teile des italienischen Originals sind in römischem Dialekt verfasst, dessen grobe Schnodderigkeit die Übersetzerin Annette Kopetzki durch Umgangssprache und gezielte sprachliche Unsauberkeiten ins Deutsche überträgt.
Der therapeutische Aspekt der OTU kommt während Danieles Aufenthalt eher zu kurz. Mencarelli beschreibt eine Art der Psychiatrie, die hoffentlich auch in den Neunzigerjahren nicht mehr die Norm gewesen ist: Gesprächstherapien gibt es nicht, nur Psychiater, denen das Schicksal ihrer Patienten egal ist, die vergessen, wer vor ihnen sitzt, oder sogar einschlafen.
In der Nachbarabteilung, so wird den Patienten vom Pflegepersonal erzählt, liegen "die Bösen". Natürlich stellt sich im Verlauf der Handlung heraus, dass das nicht stimmt, dass diese Geschichte nur ein Versuch ist, die Patienten dazu zu bringen, in ihrer eigenen Abteilung zu bleiben. Schließlich möchte der Roman genau das Gegenteil vermitteln: dass es die "bösen" psychisch Kranken gar nicht gibt. Mit dem Klischee spielt er trotzdem. Wenn Schreie aus der anderen Abteilung hinüberdringen und Daniele sich fragt, was vor sich geht, greift Mencarelli genau den alten Topos aus Schauerromanen auf, gegen den er ja eigentlich anschreibt.
In "Für die Kämpfer, für die Verrückten" stellt der Autor Fragen, die durchaus relevant sind: Wer gilt in unserer Gesellschaft als gesund, wer als krank? Wie gehen wir mit den Menschen um, die wir als krank bezeichnen? Doch ist seine Art zu fragen wenig subtil: "Diese Verrohung, das ist Wissenschaft?", heißt es dann etwa. Oder: "Inzwischen ist alles Krankheit, habt ihr euch jemals gefragt, warum?" Auch die Schlüsse, die der Erzähler aus den Erkrankungen seiner Mitpatienten zieht, sind oft simpel: Da trägt ein Patient im Sommer einen dicken Morgenmantel, denn: "Dort, wo er jetzt ist, herrscht Eiseskälte."
Daniele kann dieses Leid kaum ertragen. Er wünscht sich "Erlösung", für sich und für die anderen. Der italienische Titel des Romans und auch der Serie, die im Oktober auf Netflix erschienen ist, lautet: "Tutto chiede salvezza" - "Alles bittet um Erlösung". Es ist ein religiöser Wunsch, den er, der in einem religionsfernen Haushalt aufgewachsen ist, hegt. Dazu passen sein Bettnachbar, der ständig die Madonna anruft, Danieles Verehrung der eigenen Mutter und auch sein Nachdenken über Gut und Böse.
Gut sind bei Mencarelli eigentlich alle Patienten. Gibt es am Anfang noch Konflikte, so sind die zum Ende der Woche weitestgehend ausgeräumt. Nun überwiegt die Barmherzigkeit - durchaus dick aufgetragen: "Da sind sie, jeder in seiner Zimmerecke, jeder seinem Zustand wehrlos ausgeliefert, den Elementen ausgesetzt, nackt ans Leben geklammert, erdrückt von einem Leiden, das ihnen gegeben wurde. Meine Brüder."
Dass eine psychische Erkrankung einen zu einem guten Menschen macht und zu irgendeiner Form von Erleuchtung führt, wie das Buch es nahelegt, ist aber ebenfalls ein, wenn auch wohlwollendes Klischee, das der Komplexität der Realität kaum gerecht wird. Das gilt besonders für die Beschreibung von Mario, einem der Mitpatienten. Über ihn heißt es am Ende des Romans: "Er und sein Schatz an Menschlichkeit, den er für alle Welt bereithält." Nun ist Mario in der Psychiatrie, weil er versucht hat, Frau und Tochter umzubringen. Zumindest dieser Teil der Welt scheint von seinem Schatz an Menschlichkeit eher weniger profitiert zu haben. Das heißt zwar nicht, dass Mario nicht gute Seiten haben und seine Taten bereuen kann. Zu dem Heiligen, den der Roman aus ihm macht, wird er dadurch aber nicht.
Zwar lässt Daniele Mencarelli Widersprüche in seinen Figuren in Ansätzen zu - dass Mario ein Gewalttäter ist, würde sonst nicht erwähnt werden. Doch im Großen und Ganzen ist die Aufteilung recht eindeutig: Kälte auf Seiten der Ärzte, Menschlichkeit unter den Patienten. Das ist schon erzählerisch langweilig, vermittelt aber auch eine problematische Botschaft: Menschen mit psychischen Erkrankungen sollten wir nicht deshalb mit mehr Mitgefühl begegnen, weil sie besonders herzensgut oder klug sind. Sondern ganz einfach, weil eine solche Behandlung jedem zusteht, der sie benötigt - unabhängig vom Charakter.
Interessant wird der Roman immer dann, wenn er den seltsamen Mikrokosmos eines Sechsbettzimmers in der Psychiatrie beschreibt: Wie man dort mit fünf Unbekannten zusammenlebt, die mitunter schnarchen und stinken, mit denen man aber in kürzester Zeit Intimstes teilt, sich so entblößt, wie man es vielleicht vor Freunden nicht tun würde.
Nur um sich dann, nach dem Aufenthalt, nie wieder zu sehen. Allein die Beschreibung dieser Momente, dieses Zusammenlebens würde vermutlich reichen, um genau das Mitgefühl zu erzielen, das der Erzähler und sein Autor (in der Widmung, in der Danksagung) so explizit einfordern. So viel darf man seinen Lesern schon zutrauen. ANNA VOLLMER
Daniele Mencarelli: "Für die Kämpfer, für die Verrückten". Roman.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2022. 224 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mencarelli schreibt mit großer Vorsicht, wie auf Zehenspitzen [...] und so wird das Buch poetisch und leicht [...]. Elke Heidenreich Kölner Stadt-Anzeiger 20221203
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.01.2023Der Gewalttäter und sein Schatz an Menschlichkeit
Daniele Mencarellis Psychiatrie-Roman
Romane, die von der Psychiatrie erzählen, wandeln auf einem schmalen Grat: Wie beschreibt man diesen geschlossenen Raum und seine Patienten, ohne dabei in gängige Klischees zu verfallen? In "Für die Kämpfer, für die Verrückten" versucht Daniele Mencarelli, geboren 1974 in Rom, genau das. Es gelingt ihm nicht immer.
Die Handlung des autobiographisch inspirierten Romans spielt während einer Woche im Sommer 1994. Der zwanzigjährige Daniele Mencarelli, der Namen und biographische Eckdaten mit dem Verfasser teilt, wird für sieben Tage zur "obligatorischen therapeutischen Unterbringung" (OTU) in die Psychiatrie eingeliefert, nachdem einer seiner Wutanfälle bei seinem Vater einen Herzanfall ausgelöst hat. Sein Zimmer teilt er mit fünf weiteren Männern, deren Persönlichkeiten und Erkrankungen einen Großteil der Geschichte ausmachen. Die Protagonisten sind unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher sozialer Herkunft, was sich auch in ihrer Sprache ausdrückt. Große Teile des italienischen Originals sind in römischem Dialekt verfasst, dessen grobe Schnodderigkeit die Übersetzerin Annette Kopetzki durch Umgangssprache und gezielte sprachliche Unsauberkeiten ins Deutsche überträgt.
Der therapeutische Aspekt der OTU kommt während Danieles Aufenthalt eher zu kurz. Mencarelli beschreibt eine Art der Psychiatrie, die hoffentlich auch in den Neunzigerjahren nicht mehr die Norm gewesen ist: Gesprächstherapien gibt es nicht, nur Psychiater, denen das Schicksal ihrer Patienten egal ist, die vergessen, wer vor ihnen sitzt, oder sogar einschlafen.
In der Nachbarabteilung, so wird den Patienten vom Pflegepersonal erzählt, liegen "die Bösen". Natürlich stellt sich im Verlauf der Handlung heraus, dass das nicht stimmt, dass diese Geschichte nur ein Versuch ist, die Patienten dazu zu bringen, in ihrer eigenen Abteilung zu bleiben. Schließlich möchte der Roman genau das Gegenteil vermitteln: dass es die "bösen" psychisch Kranken gar nicht gibt. Mit dem Klischee spielt er trotzdem. Wenn Schreie aus der anderen Abteilung hinüberdringen und Daniele sich fragt, was vor sich geht, greift Mencarelli genau den alten Topos aus Schauerromanen auf, gegen den er ja eigentlich anschreibt.
In "Für die Kämpfer, für die Verrückten" stellt der Autor Fragen, die durchaus relevant sind: Wer gilt in unserer Gesellschaft als gesund, wer als krank? Wie gehen wir mit den Menschen um, die wir als krank bezeichnen? Doch ist seine Art zu fragen wenig subtil: "Diese Verrohung, das ist Wissenschaft?", heißt es dann etwa. Oder: "Inzwischen ist alles Krankheit, habt ihr euch jemals gefragt, warum?" Auch die Schlüsse, die der Erzähler aus den Erkrankungen seiner Mitpatienten zieht, sind oft simpel: Da trägt ein Patient im Sommer einen dicken Morgenmantel, denn: "Dort, wo er jetzt ist, herrscht Eiseskälte."
Daniele kann dieses Leid kaum ertragen. Er wünscht sich "Erlösung", für sich und für die anderen. Der italienische Titel des Romans und auch der Serie, die im Oktober auf Netflix erschienen ist, lautet: "Tutto chiede salvezza" - "Alles bittet um Erlösung". Es ist ein religiöser Wunsch, den er, der in einem religionsfernen Haushalt aufgewachsen ist, hegt. Dazu passen sein Bettnachbar, der ständig die Madonna anruft, Danieles Verehrung der eigenen Mutter und auch sein Nachdenken über Gut und Böse.
Gut sind bei Mencarelli eigentlich alle Patienten. Gibt es am Anfang noch Konflikte, so sind die zum Ende der Woche weitestgehend ausgeräumt. Nun überwiegt die Barmherzigkeit - durchaus dick aufgetragen: "Da sind sie, jeder in seiner Zimmerecke, jeder seinem Zustand wehrlos ausgeliefert, den Elementen ausgesetzt, nackt ans Leben geklammert, erdrückt von einem Leiden, das ihnen gegeben wurde. Meine Brüder."
Dass eine psychische Erkrankung einen zu einem guten Menschen macht und zu irgendeiner Form von Erleuchtung führt, wie das Buch es nahelegt, ist aber ebenfalls ein, wenn auch wohlwollendes Klischee, das der Komplexität der Realität kaum gerecht wird. Das gilt besonders für die Beschreibung von Mario, einem der Mitpatienten. Über ihn heißt es am Ende des Romans: "Er und sein Schatz an Menschlichkeit, den er für alle Welt bereithält." Nun ist Mario in der Psychiatrie, weil er versucht hat, Frau und Tochter umzubringen. Zumindest dieser Teil der Welt scheint von seinem Schatz an Menschlichkeit eher weniger profitiert zu haben. Das heißt zwar nicht, dass Mario nicht gute Seiten haben und seine Taten bereuen kann. Zu dem Heiligen, den der Roman aus ihm macht, wird er dadurch aber nicht.
Zwar lässt Daniele Mencarelli Widersprüche in seinen Figuren in Ansätzen zu - dass Mario ein Gewalttäter ist, würde sonst nicht erwähnt werden. Doch im Großen und Ganzen ist die Aufteilung recht eindeutig: Kälte auf Seiten der Ärzte, Menschlichkeit unter den Patienten. Das ist schon erzählerisch langweilig, vermittelt aber auch eine problematische Botschaft: Menschen mit psychischen Erkrankungen sollten wir nicht deshalb mit mehr Mitgefühl begegnen, weil sie besonders herzensgut oder klug sind. Sondern ganz einfach, weil eine solche Behandlung jedem zusteht, der sie benötigt - unabhängig vom Charakter.
Interessant wird der Roman immer dann, wenn er den seltsamen Mikrokosmos eines Sechsbettzimmers in der Psychiatrie beschreibt: Wie man dort mit fünf Unbekannten zusammenlebt, die mitunter schnarchen und stinken, mit denen man aber in kürzester Zeit Intimstes teilt, sich so entblößt, wie man es vielleicht vor Freunden nicht tun würde.
Nur um sich dann, nach dem Aufenthalt, nie wieder zu sehen. Allein die Beschreibung dieser Momente, dieses Zusammenlebens würde vermutlich reichen, um genau das Mitgefühl zu erzielen, das der Erzähler und sein Autor (in der Widmung, in der Danksagung) so explizit einfordern. So viel darf man seinen Lesern schon zutrauen. ANNA VOLLMER
Daniele Mencarelli: "Für die Kämpfer, für die Verrückten". Roman.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2022. 224 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Daniele Mencarellis Psychiatrie-Roman
Romane, die von der Psychiatrie erzählen, wandeln auf einem schmalen Grat: Wie beschreibt man diesen geschlossenen Raum und seine Patienten, ohne dabei in gängige Klischees zu verfallen? In "Für die Kämpfer, für die Verrückten" versucht Daniele Mencarelli, geboren 1974 in Rom, genau das. Es gelingt ihm nicht immer.
Die Handlung des autobiographisch inspirierten Romans spielt während einer Woche im Sommer 1994. Der zwanzigjährige Daniele Mencarelli, der Namen und biographische Eckdaten mit dem Verfasser teilt, wird für sieben Tage zur "obligatorischen therapeutischen Unterbringung" (OTU) in die Psychiatrie eingeliefert, nachdem einer seiner Wutanfälle bei seinem Vater einen Herzanfall ausgelöst hat. Sein Zimmer teilt er mit fünf weiteren Männern, deren Persönlichkeiten und Erkrankungen einen Großteil der Geschichte ausmachen. Die Protagonisten sind unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher sozialer Herkunft, was sich auch in ihrer Sprache ausdrückt. Große Teile des italienischen Originals sind in römischem Dialekt verfasst, dessen grobe Schnodderigkeit die Übersetzerin Annette Kopetzki durch Umgangssprache und gezielte sprachliche Unsauberkeiten ins Deutsche überträgt.
Der therapeutische Aspekt der OTU kommt während Danieles Aufenthalt eher zu kurz. Mencarelli beschreibt eine Art der Psychiatrie, die hoffentlich auch in den Neunzigerjahren nicht mehr die Norm gewesen ist: Gesprächstherapien gibt es nicht, nur Psychiater, denen das Schicksal ihrer Patienten egal ist, die vergessen, wer vor ihnen sitzt, oder sogar einschlafen.
In der Nachbarabteilung, so wird den Patienten vom Pflegepersonal erzählt, liegen "die Bösen". Natürlich stellt sich im Verlauf der Handlung heraus, dass das nicht stimmt, dass diese Geschichte nur ein Versuch ist, die Patienten dazu zu bringen, in ihrer eigenen Abteilung zu bleiben. Schließlich möchte der Roman genau das Gegenteil vermitteln: dass es die "bösen" psychisch Kranken gar nicht gibt. Mit dem Klischee spielt er trotzdem. Wenn Schreie aus der anderen Abteilung hinüberdringen und Daniele sich fragt, was vor sich geht, greift Mencarelli genau den alten Topos aus Schauerromanen auf, gegen den er ja eigentlich anschreibt.
In "Für die Kämpfer, für die Verrückten" stellt der Autor Fragen, die durchaus relevant sind: Wer gilt in unserer Gesellschaft als gesund, wer als krank? Wie gehen wir mit den Menschen um, die wir als krank bezeichnen? Doch ist seine Art zu fragen wenig subtil: "Diese Verrohung, das ist Wissenschaft?", heißt es dann etwa. Oder: "Inzwischen ist alles Krankheit, habt ihr euch jemals gefragt, warum?" Auch die Schlüsse, die der Erzähler aus den Erkrankungen seiner Mitpatienten zieht, sind oft simpel: Da trägt ein Patient im Sommer einen dicken Morgenmantel, denn: "Dort, wo er jetzt ist, herrscht Eiseskälte."
Daniele kann dieses Leid kaum ertragen. Er wünscht sich "Erlösung", für sich und für die anderen. Der italienische Titel des Romans und auch der Serie, die im Oktober auf Netflix erschienen ist, lautet: "Tutto chiede salvezza" - "Alles bittet um Erlösung". Es ist ein religiöser Wunsch, den er, der in einem religionsfernen Haushalt aufgewachsen ist, hegt. Dazu passen sein Bettnachbar, der ständig die Madonna anruft, Danieles Verehrung der eigenen Mutter und auch sein Nachdenken über Gut und Böse.
Gut sind bei Mencarelli eigentlich alle Patienten. Gibt es am Anfang noch Konflikte, so sind die zum Ende der Woche weitestgehend ausgeräumt. Nun überwiegt die Barmherzigkeit - durchaus dick aufgetragen: "Da sind sie, jeder in seiner Zimmerecke, jeder seinem Zustand wehrlos ausgeliefert, den Elementen ausgesetzt, nackt ans Leben geklammert, erdrückt von einem Leiden, das ihnen gegeben wurde. Meine Brüder."
Dass eine psychische Erkrankung einen zu einem guten Menschen macht und zu irgendeiner Form von Erleuchtung führt, wie das Buch es nahelegt, ist aber ebenfalls ein, wenn auch wohlwollendes Klischee, das der Komplexität der Realität kaum gerecht wird. Das gilt besonders für die Beschreibung von Mario, einem der Mitpatienten. Über ihn heißt es am Ende des Romans: "Er und sein Schatz an Menschlichkeit, den er für alle Welt bereithält." Nun ist Mario in der Psychiatrie, weil er versucht hat, Frau und Tochter umzubringen. Zumindest dieser Teil der Welt scheint von seinem Schatz an Menschlichkeit eher weniger profitiert zu haben. Das heißt zwar nicht, dass Mario nicht gute Seiten haben und seine Taten bereuen kann. Zu dem Heiligen, den der Roman aus ihm macht, wird er dadurch aber nicht.
Zwar lässt Daniele Mencarelli Widersprüche in seinen Figuren in Ansätzen zu - dass Mario ein Gewalttäter ist, würde sonst nicht erwähnt werden. Doch im Großen und Ganzen ist die Aufteilung recht eindeutig: Kälte auf Seiten der Ärzte, Menschlichkeit unter den Patienten. Das ist schon erzählerisch langweilig, vermittelt aber auch eine problematische Botschaft: Menschen mit psychischen Erkrankungen sollten wir nicht deshalb mit mehr Mitgefühl begegnen, weil sie besonders herzensgut oder klug sind. Sondern ganz einfach, weil eine solche Behandlung jedem zusteht, der sie benötigt - unabhängig vom Charakter.
Interessant wird der Roman immer dann, wenn er den seltsamen Mikrokosmos eines Sechsbettzimmers in der Psychiatrie beschreibt: Wie man dort mit fünf Unbekannten zusammenlebt, die mitunter schnarchen und stinken, mit denen man aber in kürzester Zeit Intimstes teilt, sich so entblößt, wie man es vielleicht vor Freunden nicht tun würde.
Nur um sich dann, nach dem Aufenthalt, nie wieder zu sehen. Allein die Beschreibung dieser Momente, dieses Zusammenlebens würde vermutlich reichen, um genau das Mitgefühl zu erzielen, das der Erzähler und sein Autor (in der Widmung, in der Danksagung) so explizit einfordern. So viel darf man seinen Lesern schon zutrauen. ANNA VOLLMER
Daniele Mencarelli: "Für die Kämpfer, für die Verrückten". Roman.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2022. 224 S., geb., 24,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Nicht ganz glücklich ist Rezensentin Anna Vollmer mit Daniele Mencarellis Versuch, gegen Psychiatrie-Klischees anzuschreiben. Der Italiener hat einen autobiografisch gefärbten Roman vorgelegt, der von der Unterbringung des 20-jährigen ebenfalls Daniele Mencarelli heißenden Protagonisten in der Psychiatrie handelt, wo er sich in einem Mehrbettzimmer mit fünf Zimmergenossen wiederfindet, lesen wir. Das ist für die Rezensentin auch der spannendste Teil, wenn es um jenen "seltsamen Mikrokosmos" geht - sechs einander fremde Männer, die plötzlich Privatestes miteinander teilen (müssen). Vielfach ist ihr die Aufteilung in gute Patienten versus böse Ärzte zu unterkomplex und sie befürchtet, dass das nicht dazu beitragen dürfte, Vorurteile gegenüber psychisch Kranken abzubauen. Vollmer hätte sich einen stärkeren Fokus auf das Miteinander der Patienten gewünscht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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