Wer sich die ganze Dimension der Geschichte der RAF verdeutlichen will, muß die Perspektive der Opfer berücksichtigen. Diese andere Geschichte des deutschen Terrorismus zeigt uns die ganze Wahrheit in einem dunklen Kapitel der Bundesrepublik.
Vor dreißig Jahren fand der Terror der RAF seinen Höhepunkt in den Ermordungen von Hanns-Martin Schleyer, Jürgen Ponto und der Entführung der »Landshut«: Ereignisse, die die Deutschen bis heute prägen. Anne Siemens erzählt diese dramatische Geschichte neu, aus der Sicht der Opfer. Dadurch, daß sich die Angehörigen – viele zum ersten Mal – in bewegenden Interviews öffnen, wird deutlich, was der Terror der RAF wirklich bedeutet hat. Bislang gab es nur eine Tätergeschichte; die bekannten wie die unbekannten Opfer des Terrors blieben weitgehend ungehört. Sie sprechen nun in dem Buch von Anne Siemens, erzählen, wie ihre Väter und ihre Männer lebten, warum sie sterben mußten und wie sich das Leben ihrer Familien dadurch veränderte.
Vor dreißig Jahren fand der Terror der RAF seinen Höhepunkt in den Ermordungen von Hanns-Martin Schleyer, Jürgen Ponto und der Entführung der »Landshut«: Ereignisse, die die Deutschen bis heute prägen. Anne Siemens erzählt diese dramatische Geschichte neu, aus der Sicht der Opfer. Dadurch, daß sich die Angehörigen – viele zum ersten Mal – in bewegenden Interviews öffnen, wird deutlich, was der Terror der RAF wirklich bedeutet hat. Bislang gab es nur eine Tätergeschichte; die bekannten wie die unbekannten Opfer des Terrors blieben weitgehend ungehört. Sie sprechen nun in dem Buch von Anne Siemens, erzählen, wie ihre Väter und ihre Männer lebten, warum sie sterben mußten und wie sich das Leben ihrer Familien dadurch veränderte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.02.2007Das Recht der Opfer
Ein eindrucksvolles neues Buch versammelt Interviews mit Angehörigen von RAF-Opfern und zwei Überlebenden der "Landshut"-Entführung. Damit wird die Geschichte des deutschen Terrors um eine entscheidende Dimension erweitert
Irgendwann im Frühjahr 1975 wurde in Stockholm die Frau des deutschen Botschaftsrates für Wirtschaft von einem fremden Mann auf der Straße angesprochen. Er sprach deutsch mit ihr. Dieser merkwürdige Mann - er trug einen offensichtlich angeklebten Bart - sagte Frau Hillegaart sinngemäß, das Leben der Mitarbeiter der deutschen Botschaft sei in Gefahr.
Kurz zuvor waren Unbekannte in die Nähe des Hauses der Familie gekommen und hatten Fotos gemacht. Auf Nachfrage erklärten sie, der "Spiegel" habe sie geschickt. Dann fuhren sie davon. Unbedeutende Zwischenfälle. Die Familie Hillegaart hätte sie vermutlich längst vergessen, wäre nicht, am 24. April 1975, der Terror in ihr Leben gefahren. An diesem Tag stürmten Bewaffnete die deutsche Botschaft in Stockholm. Am Abend war Heinz Hillegaart tot. Man hatte ihn an ein Fenster geführt, um ihn, für alle gut sichtbar, zu ermorden. Später explodierten Sprengladungen; seine Leiche verbrannte in der Botschaft. Wer die Schüsse abgegeben hat, ist bis heute unklar. Wer war der Mann auf der Straße? Am Nachmittag des dramatischen Tages hatten zwei Autos Frau Hillegaart auf ihrer Fahrt nach Hause verfolgt und abzudrängen versucht. Sollte sie auch entführt werden?
Diese Fußnoten zur Geschichte des deutschen Herbstes stehen in dem Buch "Für die RAF war er das System, für mich der Vater", in dem die Journalistin Anne Siemens die Geschichte des Linksterrorismus durch die Stimmen der Opfer und ihrer Angehörigen ergänzt, ja mehr noch: völlig neu verortet. Lange haben wir von dieser Suche nach den übersehenen Signalen, dem Kampf um Erinnerung, den die Angehörigen der RAF-Opfer führten, nichts mitbekommen. Die Mitglieder der RAF sind dagegen fast augenblicklich auf eine perverse Weise zu Berühmtheiten geworden. Es gibt Filme und Bücher über ihr Leben, ihre Fotos sind zu modernen Ikonen geworden - von Fassbinder bis Gerhard Richter gibt es kaum einen Künstler jener Generation, den das Thema unberührt gelassen hätte. Aber der Ausgangspunkt war stets das tragische Abdriften der Täter und die Aufrüstung des Staates - nicht das stumme, unfreiwillige Leid der Opfer und ihrer Angehörigen. In ihrem "Kampf um Mythen, Bilder und Symbole" (Lutz Hachmeister) war die RAF so effektiv und dominant, dass die Opfer entweder nur als gequälte Geiseln oder als Silhouetten in Erinnerung sind.
Wo die Auseinandersetzung mit Theorie und Praxis der Stadtguerrilla dominierte oder die Analyse der Lebensläufe der Täter, da treten nun unabweisbar die Sorge, die Mühe und die Qual von Menschen hinzu, die unfreiwillig zum Adressaten des brutalen Monologs der RAF wurden; und die seitdem versuchen, sich einen Reim darauf zu machen. Für die Angehörigen der Terroropfer gehen die Fragen weiter, auch nachdem alle Prozesse geführt und die Strafen fast abgesessen sind. Treffend beschreibt die Tochter des 1977 ermordeten Jürgen Ponto, wie irritiert sie davon sei, wenn Täter in den Medien als Ex-Terroristen zu Wort kämen: Zu gerne wäre sie, auch nur einen Tag lang, ein Ex-Opfer. Es sind, das wird in dem Buch deutlich, oft kleine Details, unaufgeklärte Zusammenhänge, die die Angehörigen über Jahre beschäftigen. Alle unerklärlichen Begebenheiten vor der Katastrophe scheinen ihnen wie Zeichen, wie die Rätsel der Sphinx: Wenn sie die richtig beantwortet hätten, wäre dann alles anders gekommen?
Das Flüstern des Caterers
Jürgen Vietor war der Co-Pilot an Bord der entführten "Landshut". Er wusste, dass - als die Maschine noch in Dubai stand - Kapitän Schumann insgeheim eine Botschaft nach draußen gefunkt hatte, in der er Anzahl und Bewaffnung der Hijacker verriet: für die Erstürmung eine entscheidende Information. Später wurden Wasser und Essen ins Flugzeug gebracht. Vietor sagt: "Ich habe bis heute einen der Männer im Verdacht, die uns Wasser und Essen brachten. Ich bin mir sicher, er ließ Mahmud auf Arabisch wissen, dass aus dem Cockpit heimlich Nachrichten an den Tower gehen. (. . .) Dieser Catering-Mann sprach mit Mahmud eindringlich, während er die Wasserbehälter reinschleppte. Ich habe nie herausgefunden, wer dieser Mann wirklich war und ob mein Verdacht stimmte. Bis heute lässt mich die Frage nicht los. Was sagte er Mahmud?" Vietors Erzählungen und Reflexionen gehören zu den schwierigsten, schmerzhaftesten Passagen des Buches. Auch die damalige Stewardess Gabriele von Lutzau schildert die Zeit an Bord dieses Flugzeugs mit bemerkenswerter Klarheit und ohne Scheu vor den schrecklichsten Details. Diese Beschreibungen gehören in jedes zeithistorische Museum. Denn nur auf diese Weise lässt sich die Sprache des Terrors, die sich aus spektakulären Gewaltakten und begleitender Rhetorik zusammensetzt, kontern: durch präzise Darstellung des individuellen Leids.
Es kommt dabei nicht darauf an, ob es, wie es immer so heißt, "unschuldige" Opfer getroffen habe, worunter man gern die Fahrer und Passanten versteht, die da ihr Leben ließen: Es gab gar keine schuldigen RAF-Opfer. Aber auch das ist ein Schritt, der gedanklich erst noch vollzogen werden will; denn auch das gehört zum Erbe des Linksterrorismus: dass die Personen, die ihm zum Opfer fielen, auch ideologisch und moralisch verurteilt wurden. Nicht nur dass man sie erschossen oder weggesprengt hatte; es wurde auch erklärt, sie hätten es nicht besser verdient. Darum zieht sich wie ein roter Faden durch die Interviews dieses Buches das Bemühen, die Rolle des verlorenen Mannes oder Vaters in der Aufarbeitung der NS-Zeit, in der Auseinandersetzung mit der Studentenbewegung oder auch seine kritische Haltung zu den Auswüchsen des Kapitalismus zu betonen. Das hat etwas Verzweifeltes, auch weil die Öffentlichkeit fahrlässigerweise eine quasi neutrale Position eingenommen hat.
Heute wissen wir, dass die RAF ein System bekämpft hat, welches jetzt als Idylle gilt, mit regelmäßigen Lohnsteigerungen und einer alerten öffentlichen Meinung. Aber selbst wenn die linken Killer Eichmann persönlich gefunden hätten - ihre seltsame improvisierte Blutjustiz hätte das nicht legitimiert, der Platz für NS-Täter ist ein ordentliches Gericht, nicht ein Wandschrank; da gilt die alte angelsächsische Rechtsregel: Two wrongs don't make a right.
Die Macht der Zeugen
Der RAF ist es gelungen, ihre Version der Geschichte tief ins Bewusstsein der Öffentlichkeit einzuschreiben. Das zu studieren ist heute umso dringlicher, als wir von einem völlig anders gelagerten, aber irgendwie doch gleichförmigen Terror bedroht sind, dem Terror der islamischen Fundamentalisten. Die nun nahezu wöchentlichen Festnahmen in Großbritannien machen deutlich, dass der fanatische islamische Selbstmordattentäter eine Gestalt des einheimischen, des westlichen Terrorismus geworden ist. Viele sind in europäischen Ländern geboren oder haben zumindest hier studiert, etwa die Kofferbomber von Köln. Der politische Linksterrorismus und der islamische Terrorismus haben unterschiedliche Motive und Operationsweisen, aber ihre Kommunikationsstrategien ähneln sich: Beide versuchen, sich als Avantgarde einer kommenden, unabweisbaren Massenbewegung anzukündigen, als Mandatsträger jener, die vom Westen entrechtet wurden und außerdem einer höheren moralischen Ordnung verpflichtet sind. Um diesen Eindruck eines kommenden großen Umsturzes aufrechtzuerhalten, ist es unabdingbar, den auf dem Weg dorthin bei Anschlägen ermordeten Männern und Frauen ihr Gesicht zu rauben, sie zu bloßen Marksteinen auf dem Weg zum finalen Kampf zu reduzieren, denn das Leid im Einzelnen, im Kleinen, unterminiert den grandiosen Schwung, die Kühnheit des Entwurfs. Darum ist dieses Buch, diese Anatomie des Entgleisens von Lebensläufen so wichtig und modellhaft: Es macht deutlich, wo im Terrorismus die Grenze verläuft. Nicht zwischen Gerechten und Schweinen, nicht zwischen Agenten des Systems und Rebellen, sondern zwischen denen, die das Recht über Leben und Tod anderer usurpieren, und ihren Zeitgenossen, die auf diese Anmaßung reagieren müssen.
Die asymmetrische Antwort der Zeugen ist die beste Waffe gegen den Terror, ja gegen eine mit der Gewalt operierende Politik überhaupt: Auch der detaillierte Bericht von William Langewiesche über die Massaker von überforderten GIs im irakischen Haditha, der in der amerikanischen "Vanity Fair" erschien, ist eine Entgegnung auf die irrealen und schlecht durchdachten Befreiungsszenarien für den Mittleren Osten der früher mal linken, heute neokonservativen Visionäre in Washingtoner Think Tanks.
Die präzise Rekonstruktion der Gewalt durch Zeugenaussagen ist überdies das effektivste Mittel, auch die berühmten "klammheimlichen Sympathien" mit den Motiven des Terrors zu beenden. Hanns-Eberhard Schleyer berichtet Anne Siemens, wie er nach dem Tod seines Vaters das Gespräch mit linken und liberalen Intellektuellen, Professoren und Künstlern gesucht und allmählich daran gearbeitet habe, dass sich auch jene vom Terror distanzierten, die bislang vor allem von der Ablehnung des staatlichen Repressionsapparats bewegt gewesen seien. Und er hatte Erfolg: "Die Bereitschaft junger Menschen im Sympathisantenfeld, zuzuhören und Solidarität mit Baader-Meinhof zu demonstrieren und zu praktizieren, schwand."
Die Vögel der "Landshut"
Polizei und Militär aufzurüsten, die Schlagkraft der Sicherheitsapparate zu erhöhen, das ist angesichts des Terrors unabdingbar - aber es ist langfristig nicht das wirksamste Mittel; denn nicht eine opake, imperiale Unverwundbarkeit macht das Besondere, die Attraktivität einer offenen Gesellschaft aus, sondern gerade das Eingeständnis ihrer prinzipiellen Verwundbarkeit, ihrer menschlichen Zerbrechlichkeit. Dass sie nicht über die blinde Selbstgewissheit der Täter verfügen und nicht so textsicher ihre Monologe aufsagen; dass sie tasten, probieren, sich besinnen, das macht den Diskurs der Opfer unendlich viel anrührender und treffender, augenblicklich klingen die ideologischen Rechtfertigungen der Täter falsch. Gerade dass nicht jedes vermeintliche Zeichen sofort als Botschaft im einseitig erklärten Klassenkampf verstanden wurde, dieses interpretatorische Zögern, kennzeichnet eben das Offene und Humane im Leben dieser Familien und stellt die Machtversessenheit des Gewaltmonologs umso deutlicher heraus.
Man kann sich keine passendere Entgegnung auf die pompöse und selbstmitleidige Terrorrhetorik denken als eine Passage, in der Jürgen Vietor berichtet, wie er kurz das Flugzeug verlassen durfte, um einen Stromgenerator auf einem Schlepper anzuschließen: "Ob ich daran dachte, abzuhauen, als ich zum Flugzeugschlepper lief? Es wäre eine Möglichkeit gewesen, ja. Doch ich spekulierte keine Sekunde auf Flucht. Nur einen Moment hielt ich inne und überlegte, ob ich die Vögel aus dem Frachtraum befreien sollte. Wir hatten ja lebendige Vögel an Bord. Ich tat es letztlich nicht. Im Cockpit gehen Warnlichter an, sobald sich die Klappe öffnet. Und die Auseinandersetzung mit Mahmud wollte ich vermeiden. Die Vögel sind natürlich alle verendet. Auch später, wieder zu Hause, ging mir das Schicksal dieser Tiere nicht aus dem Kopf. Immer wieder musste ich daran denken, wie sie qualvoll gestorben waren."
NILS MINKMAR
Anne Siemens: "Für die RAF war er das System, für mich der Vater. Die andere Geschichte des deutschen Terrorismus". Piper, 19,90 Euro. Erscheint am 20. Februar 2007.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein eindrucksvolles neues Buch versammelt Interviews mit Angehörigen von RAF-Opfern und zwei Überlebenden der "Landshut"-Entführung. Damit wird die Geschichte des deutschen Terrors um eine entscheidende Dimension erweitert
Irgendwann im Frühjahr 1975 wurde in Stockholm die Frau des deutschen Botschaftsrates für Wirtschaft von einem fremden Mann auf der Straße angesprochen. Er sprach deutsch mit ihr. Dieser merkwürdige Mann - er trug einen offensichtlich angeklebten Bart - sagte Frau Hillegaart sinngemäß, das Leben der Mitarbeiter der deutschen Botschaft sei in Gefahr.
Kurz zuvor waren Unbekannte in die Nähe des Hauses der Familie gekommen und hatten Fotos gemacht. Auf Nachfrage erklärten sie, der "Spiegel" habe sie geschickt. Dann fuhren sie davon. Unbedeutende Zwischenfälle. Die Familie Hillegaart hätte sie vermutlich längst vergessen, wäre nicht, am 24. April 1975, der Terror in ihr Leben gefahren. An diesem Tag stürmten Bewaffnete die deutsche Botschaft in Stockholm. Am Abend war Heinz Hillegaart tot. Man hatte ihn an ein Fenster geführt, um ihn, für alle gut sichtbar, zu ermorden. Später explodierten Sprengladungen; seine Leiche verbrannte in der Botschaft. Wer die Schüsse abgegeben hat, ist bis heute unklar. Wer war der Mann auf der Straße? Am Nachmittag des dramatischen Tages hatten zwei Autos Frau Hillegaart auf ihrer Fahrt nach Hause verfolgt und abzudrängen versucht. Sollte sie auch entführt werden?
Diese Fußnoten zur Geschichte des deutschen Herbstes stehen in dem Buch "Für die RAF war er das System, für mich der Vater", in dem die Journalistin Anne Siemens die Geschichte des Linksterrorismus durch die Stimmen der Opfer und ihrer Angehörigen ergänzt, ja mehr noch: völlig neu verortet. Lange haben wir von dieser Suche nach den übersehenen Signalen, dem Kampf um Erinnerung, den die Angehörigen der RAF-Opfer führten, nichts mitbekommen. Die Mitglieder der RAF sind dagegen fast augenblicklich auf eine perverse Weise zu Berühmtheiten geworden. Es gibt Filme und Bücher über ihr Leben, ihre Fotos sind zu modernen Ikonen geworden - von Fassbinder bis Gerhard Richter gibt es kaum einen Künstler jener Generation, den das Thema unberührt gelassen hätte. Aber der Ausgangspunkt war stets das tragische Abdriften der Täter und die Aufrüstung des Staates - nicht das stumme, unfreiwillige Leid der Opfer und ihrer Angehörigen. In ihrem "Kampf um Mythen, Bilder und Symbole" (Lutz Hachmeister) war die RAF so effektiv und dominant, dass die Opfer entweder nur als gequälte Geiseln oder als Silhouetten in Erinnerung sind.
Wo die Auseinandersetzung mit Theorie und Praxis der Stadtguerrilla dominierte oder die Analyse der Lebensläufe der Täter, da treten nun unabweisbar die Sorge, die Mühe und die Qual von Menschen hinzu, die unfreiwillig zum Adressaten des brutalen Monologs der RAF wurden; und die seitdem versuchen, sich einen Reim darauf zu machen. Für die Angehörigen der Terroropfer gehen die Fragen weiter, auch nachdem alle Prozesse geführt und die Strafen fast abgesessen sind. Treffend beschreibt die Tochter des 1977 ermordeten Jürgen Ponto, wie irritiert sie davon sei, wenn Täter in den Medien als Ex-Terroristen zu Wort kämen: Zu gerne wäre sie, auch nur einen Tag lang, ein Ex-Opfer. Es sind, das wird in dem Buch deutlich, oft kleine Details, unaufgeklärte Zusammenhänge, die die Angehörigen über Jahre beschäftigen. Alle unerklärlichen Begebenheiten vor der Katastrophe scheinen ihnen wie Zeichen, wie die Rätsel der Sphinx: Wenn sie die richtig beantwortet hätten, wäre dann alles anders gekommen?
Das Flüstern des Caterers
Jürgen Vietor war der Co-Pilot an Bord der entführten "Landshut". Er wusste, dass - als die Maschine noch in Dubai stand - Kapitän Schumann insgeheim eine Botschaft nach draußen gefunkt hatte, in der er Anzahl und Bewaffnung der Hijacker verriet: für die Erstürmung eine entscheidende Information. Später wurden Wasser und Essen ins Flugzeug gebracht. Vietor sagt: "Ich habe bis heute einen der Männer im Verdacht, die uns Wasser und Essen brachten. Ich bin mir sicher, er ließ Mahmud auf Arabisch wissen, dass aus dem Cockpit heimlich Nachrichten an den Tower gehen. (. . .) Dieser Catering-Mann sprach mit Mahmud eindringlich, während er die Wasserbehälter reinschleppte. Ich habe nie herausgefunden, wer dieser Mann wirklich war und ob mein Verdacht stimmte. Bis heute lässt mich die Frage nicht los. Was sagte er Mahmud?" Vietors Erzählungen und Reflexionen gehören zu den schwierigsten, schmerzhaftesten Passagen des Buches. Auch die damalige Stewardess Gabriele von Lutzau schildert die Zeit an Bord dieses Flugzeugs mit bemerkenswerter Klarheit und ohne Scheu vor den schrecklichsten Details. Diese Beschreibungen gehören in jedes zeithistorische Museum. Denn nur auf diese Weise lässt sich die Sprache des Terrors, die sich aus spektakulären Gewaltakten und begleitender Rhetorik zusammensetzt, kontern: durch präzise Darstellung des individuellen Leids.
Es kommt dabei nicht darauf an, ob es, wie es immer so heißt, "unschuldige" Opfer getroffen habe, worunter man gern die Fahrer und Passanten versteht, die da ihr Leben ließen: Es gab gar keine schuldigen RAF-Opfer. Aber auch das ist ein Schritt, der gedanklich erst noch vollzogen werden will; denn auch das gehört zum Erbe des Linksterrorismus: dass die Personen, die ihm zum Opfer fielen, auch ideologisch und moralisch verurteilt wurden. Nicht nur dass man sie erschossen oder weggesprengt hatte; es wurde auch erklärt, sie hätten es nicht besser verdient. Darum zieht sich wie ein roter Faden durch die Interviews dieses Buches das Bemühen, die Rolle des verlorenen Mannes oder Vaters in der Aufarbeitung der NS-Zeit, in der Auseinandersetzung mit der Studentenbewegung oder auch seine kritische Haltung zu den Auswüchsen des Kapitalismus zu betonen. Das hat etwas Verzweifeltes, auch weil die Öffentlichkeit fahrlässigerweise eine quasi neutrale Position eingenommen hat.
Heute wissen wir, dass die RAF ein System bekämpft hat, welches jetzt als Idylle gilt, mit regelmäßigen Lohnsteigerungen und einer alerten öffentlichen Meinung. Aber selbst wenn die linken Killer Eichmann persönlich gefunden hätten - ihre seltsame improvisierte Blutjustiz hätte das nicht legitimiert, der Platz für NS-Täter ist ein ordentliches Gericht, nicht ein Wandschrank; da gilt die alte angelsächsische Rechtsregel: Two wrongs don't make a right.
Die Macht der Zeugen
Der RAF ist es gelungen, ihre Version der Geschichte tief ins Bewusstsein der Öffentlichkeit einzuschreiben. Das zu studieren ist heute umso dringlicher, als wir von einem völlig anders gelagerten, aber irgendwie doch gleichförmigen Terror bedroht sind, dem Terror der islamischen Fundamentalisten. Die nun nahezu wöchentlichen Festnahmen in Großbritannien machen deutlich, dass der fanatische islamische Selbstmordattentäter eine Gestalt des einheimischen, des westlichen Terrorismus geworden ist. Viele sind in europäischen Ländern geboren oder haben zumindest hier studiert, etwa die Kofferbomber von Köln. Der politische Linksterrorismus und der islamische Terrorismus haben unterschiedliche Motive und Operationsweisen, aber ihre Kommunikationsstrategien ähneln sich: Beide versuchen, sich als Avantgarde einer kommenden, unabweisbaren Massenbewegung anzukündigen, als Mandatsträger jener, die vom Westen entrechtet wurden und außerdem einer höheren moralischen Ordnung verpflichtet sind. Um diesen Eindruck eines kommenden großen Umsturzes aufrechtzuerhalten, ist es unabdingbar, den auf dem Weg dorthin bei Anschlägen ermordeten Männern und Frauen ihr Gesicht zu rauben, sie zu bloßen Marksteinen auf dem Weg zum finalen Kampf zu reduzieren, denn das Leid im Einzelnen, im Kleinen, unterminiert den grandiosen Schwung, die Kühnheit des Entwurfs. Darum ist dieses Buch, diese Anatomie des Entgleisens von Lebensläufen so wichtig und modellhaft: Es macht deutlich, wo im Terrorismus die Grenze verläuft. Nicht zwischen Gerechten und Schweinen, nicht zwischen Agenten des Systems und Rebellen, sondern zwischen denen, die das Recht über Leben und Tod anderer usurpieren, und ihren Zeitgenossen, die auf diese Anmaßung reagieren müssen.
Die asymmetrische Antwort der Zeugen ist die beste Waffe gegen den Terror, ja gegen eine mit der Gewalt operierende Politik überhaupt: Auch der detaillierte Bericht von William Langewiesche über die Massaker von überforderten GIs im irakischen Haditha, der in der amerikanischen "Vanity Fair" erschien, ist eine Entgegnung auf die irrealen und schlecht durchdachten Befreiungsszenarien für den Mittleren Osten der früher mal linken, heute neokonservativen Visionäre in Washingtoner Think Tanks.
Die präzise Rekonstruktion der Gewalt durch Zeugenaussagen ist überdies das effektivste Mittel, auch die berühmten "klammheimlichen Sympathien" mit den Motiven des Terrors zu beenden. Hanns-Eberhard Schleyer berichtet Anne Siemens, wie er nach dem Tod seines Vaters das Gespräch mit linken und liberalen Intellektuellen, Professoren und Künstlern gesucht und allmählich daran gearbeitet habe, dass sich auch jene vom Terror distanzierten, die bislang vor allem von der Ablehnung des staatlichen Repressionsapparats bewegt gewesen seien. Und er hatte Erfolg: "Die Bereitschaft junger Menschen im Sympathisantenfeld, zuzuhören und Solidarität mit Baader-Meinhof zu demonstrieren und zu praktizieren, schwand."
Die Vögel der "Landshut"
Polizei und Militär aufzurüsten, die Schlagkraft der Sicherheitsapparate zu erhöhen, das ist angesichts des Terrors unabdingbar - aber es ist langfristig nicht das wirksamste Mittel; denn nicht eine opake, imperiale Unverwundbarkeit macht das Besondere, die Attraktivität einer offenen Gesellschaft aus, sondern gerade das Eingeständnis ihrer prinzipiellen Verwundbarkeit, ihrer menschlichen Zerbrechlichkeit. Dass sie nicht über die blinde Selbstgewissheit der Täter verfügen und nicht so textsicher ihre Monologe aufsagen; dass sie tasten, probieren, sich besinnen, das macht den Diskurs der Opfer unendlich viel anrührender und treffender, augenblicklich klingen die ideologischen Rechtfertigungen der Täter falsch. Gerade dass nicht jedes vermeintliche Zeichen sofort als Botschaft im einseitig erklärten Klassenkampf verstanden wurde, dieses interpretatorische Zögern, kennzeichnet eben das Offene und Humane im Leben dieser Familien und stellt die Machtversessenheit des Gewaltmonologs umso deutlicher heraus.
Man kann sich keine passendere Entgegnung auf die pompöse und selbstmitleidige Terrorrhetorik denken als eine Passage, in der Jürgen Vietor berichtet, wie er kurz das Flugzeug verlassen durfte, um einen Stromgenerator auf einem Schlepper anzuschließen: "Ob ich daran dachte, abzuhauen, als ich zum Flugzeugschlepper lief? Es wäre eine Möglichkeit gewesen, ja. Doch ich spekulierte keine Sekunde auf Flucht. Nur einen Moment hielt ich inne und überlegte, ob ich die Vögel aus dem Frachtraum befreien sollte. Wir hatten ja lebendige Vögel an Bord. Ich tat es letztlich nicht. Im Cockpit gehen Warnlichter an, sobald sich die Klappe öffnet. Und die Auseinandersetzung mit Mahmud wollte ich vermeiden. Die Vögel sind natürlich alle verendet. Auch später, wieder zu Hause, ging mir das Schicksal dieser Tiere nicht aus dem Kopf. Immer wieder musste ich daran denken, wie sie qualvoll gestorben waren."
NILS MINKMAR
Anne Siemens: "Für die RAF war er das System, für mich der Vater. Die andere Geschichte des deutschen Terrorismus". Piper, 19,90 Euro. Erscheint am 20. Februar 2007.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.04.2007Frei von Rache
Angehörige von RAF-Opfern berichten über ihre Gefühle
Die Opfer dürfen nicht in Vergessenheit geraten! Ein Satz, den man in diesen Tagen häufig hört; bezogen auf die Opfer der Roten Armee Fraktion, der RAF. Die Mahnung stand im Zusammenhang mit der Freilassung von Brigitte Mohnhaupt und der Frage, ob Christian Klar begnadigt werden solle.
Dreißig Jahre sind seit dem „deutschen Herbst” 1977 vergangen. In jenem Jahr geschahen die Morde an Jürgen Ponto, Hanns-Martin Schleyer, Siegfried Buback und an sieben Fahrern und Personenschützern. Darüber hinaus entführten mit der RAF verbündete Terroristen die Lufthansa-Maschine Landshut. Gemordet haben die RAF-Kommandos bereits zuvor und auch danach, doch verschärfte sich im Herbst 1977 die Situation dramatisch. Die sogenannte zweite Generation der RAF brachte mit ihrer „Offensive 77” den Staat in Bedrängnis, ließ ihn einen Augenblick hilflos und ausgeliefert erscheinen.
Das ist Historie, aber keineswegs eine abgeschlossene Sache. So weiß man bis heute in einigen Fällen nicht, wer die Todesschüsse tatsächlich abgegeben hat. Die Täter tragen nicht zur Aufklärung des finstersten Kapitels der Geschichte der Bundesrepublik bei. Erregt diskutiert man in den Medien, ob es vertretbar und angemessen sei, „Gnade für die Gnadenlosen” (eine Titelgeschichte des Spiegels) walten zu lassen.
In dieser Situation erscheint das Buch von Anne Siemens. Die Autorin beginnt mit der Auflistung der Namen der 34 Opfer – gefolgt von einem kurzen Abriss zur Geschichte der RAF: knapp, genau mit allen wichtigen Informationen. Und dann haben die Hinterbliebenen das Wort. Aber auch Menschen, die selbst Opfer waren, den Terror jedoch überlebten, äußern sich zur Sache. Der Co-Pilot Jürgen Vietor und die Stewardess Gabriele von Lutzau, die ihren Dienst auf der Landshut versahen, als die Boing entführt wurde. Nach einer unglaublichen Odyssee mit etlichen Zwischenlandungen – Vietor immer am Steuer – konnte die Maschine in Mogadischu gestürmt werden, wobei alle Geiseln unverletzt blieben. Den Flugkapitän Jürgen Schumann jedoch hatte der Anführer der Terroristen zu dem Zeitpunkt bereits erschossen.
Es sind ergreifende Zeugnisse, die ein Bild davon vermitteln, was es für die Familien bedeutete, den Ehemann oder Vater in der Gewalt der RAF zu wissen oder dessen Ermordung zu verkraften. Alle, die bereit waren, über diese Zeit und den Verlust ihres Angehörigen zu sprechen, zeichnet eine beeindruckende, kluge Sichtweise aus. Frei von jedem Gefühl der Rache schildern sie den dramatischen Einschnitt in ihr Leben.
Spielen Projektionen eine Rolle oder sind die geschilderten glücklichen Familienkonstellationen der Opfer und ihrer Angehörigen tatsächlich so real? Bei den Männern, die die RAF als Vertreter des zu bekämpfenden Systems ansah, scheint es sich jedenfalls nach diesen Beschreibungen um besonders achtenswerte Menschen gehandelt zu haben. So jedenfalls berichten es die Hinterbliebenen. Toleranz, Achtung vor dem Anderen, Verantwortung übernehmen lauteten deren Grundsätze. Das gilt auch im Falle der beiden Opfer der Geiselnahme durch ein RAF-Kommando an der deutschen Botschaft in Stockholm 1975: des Verteidigungsattachés Andreas von Mirbach und des Botschaftsrats für Wirtschaft, Heinz Hillegaart.
Der Chronologie folgend, behandelt die Autorin diesen Fall als ersten. Über diese Morde wie über die folgenden politisch motivierten Anschläge sprechen die Ehefrauen und Kinder in beeindruckender Gelassenheit, Schmerz und Grauen nicht verbergend.
Neben ihrem empathischen Bericht, der in Anbetracht der vielen RAF-
Bücher, in denen es vor allem um die Täter geht, als überfällig erscheint, leistet Anne Siemens mit diesem Buch auch einen Beitrag zur historischen Aufarbeitung. Denn zum Erfassen der Geschichte der RAF gehört das Einbeziehen der Opfer. Die kaltblütige Lust dieser Mitglieder einer selbsternannten Armee an der Gewalt, das machtvolle Gefühl, Herr über Leben und Tod zu sein, treten mit schauerlicher Klarheit in den Vordergrund.
Auch wenn etliche Hinterbliebene sich – aus welchen Gründen auch immer – nicht am Projekt der Autorin beteiligen wollten; die, die bereit waren, haben es auf beispielhafte Weise getan. Dass sie für die Täter kein Verständnis aufbringen können, selbst wenn ihre Sicht auf das politische und soziale Leben von kritischem Bewusstsein geprägt war und ist, liegt auf der Hand. Eines aber wünschen sich fast alle: die Taten verstehen zu können. Gelungen ist es bisher keinem von ihnen. ELKE NICOLINI
ANNE SIEMENS: Für die RAF war er das System, für mich der Vater. Die andere Geschichte des deutschen Terrorismus. Piper Verlag München, 2007. 287 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Angehörige von RAF-Opfern berichten über ihre Gefühle
Die Opfer dürfen nicht in Vergessenheit geraten! Ein Satz, den man in diesen Tagen häufig hört; bezogen auf die Opfer der Roten Armee Fraktion, der RAF. Die Mahnung stand im Zusammenhang mit der Freilassung von Brigitte Mohnhaupt und der Frage, ob Christian Klar begnadigt werden solle.
Dreißig Jahre sind seit dem „deutschen Herbst” 1977 vergangen. In jenem Jahr geschahen die Morde an Jürgen Ponto, Hanns-Martin Schleyer, Siegfried Buback und an sieben Fahrern und Personenschützern. Darüber hinaus entführten mit der RAF verbündete Terroristen die Lufthansa-Maschine Landshut. Gemordet haben die RAF-Kommandos bereits zuvor und auch danach, doch verschärfte sich im Herbst 1977 die Situation dramatisch. Die sogenannte zweite Generation der RAF brachte mit ihrer „Offensive 77” den Staat in Bedrängnis, ließ ihn einen Augenblick hilflos und ausgeliefert erscheinen.
Das ist Historie, aber keineswegs eine abgeschlossene Sache. So weiß man bis heute in einigen Fällen nicht, wer die Todesschüsse tatsächlich abgegeben hat. Die Täter tragen nicht zur Aufklärung des finstersten Kapitels der Geschichte der Bundesrepublik bei. Erregt diskutiert man in den Medien, ob es vertretbar und angemessen sei, „Gnade für die Gnadenlosen” (eine Titelgeschichte des Spiegels) walten zu lassen.
In dieser Situation erscheint das Buch von Anne Siemens. Die Autorin beginnt mit der Auflistung der Namen der 34 Opfer – gefolgt von einem kurzen Abriss zur Geschichte der RAF: knapp, genau mit allen wichtigen Informationen. Und dann haben die Hinterbliebenen das Wort. Aber auch Menschen, die selbst Opfer waren, den Terror jedoch überlebten, äußern sich zur Sache. Der Co-Pilot Jürgen Vietor und die Stewardess Gabriele von Lutzau, die ihren Dienst auf der Landshut versahen, als die Boing entführt wurde. Nach einer unglaublichen Odyssee mit etlichen Zwischenlandungen – Vietor immer am Steuer – konnte die Maschine in Mogadischu gestürmt werden, wobei alle Geiseln unverletzt blieben. Den Flugkapitän Jürgen Schumann jedoch hatte der Anführer der Terroristen zu dem Zeitpunkt bereits erschossen.
Es sind ergreifende Zeugnisse, die ein Bild davon vermitteln, was es für die Familien bedeutete, den Ehemann oder Vater in der Gewalt der RAF zu wissen oder dessen Ermordung zu verkraften. Alle, die bereit waren, über diese Zeit und den Verlust ihres Angehörigen zu sprechen, zeichnet eine beeindruckende, kluge Sichtweise aus. Frei von jedem Gefühl der Rache schildern sie den dramatischen Einschnitt in ihr Leben.
Spielen Projektionen eine Rolle oder sind die geschilderten glücklichen Familienkonstellationen der Opfer und ihrer Angehörigen tatsächlich so real? Bei den Männern, die die RAF als Vertreter des zu bekämpfenden Systems ansah, scheint es sich jedenfalls nach diesen Beschreibungen um besonders achtenswerte Menschen gehandelt zu haben. So jedenfalls berichten es die Hinterbliebenen. Toleranz, Achtung vor dem Anderen, Verantwortung übernehmen lauteten deren Grundsätze. Das gilt auch im Falle der beiden Opfer der Geiselnahme durch ein RAF-Kommando an der deutschen Botschaft in Stockholm 1975: des Verteidigungsattachés Andreas von Mirbach und des Botschaftsrats für Wirtschaft, Heinz Hillegaart.
Der Chronologie folgend, behandelt die Autorin diesen Fall als ersten. Über diese Morde wie über die folgenden politisch motivierten Anschläge sprechen die Ehefrauen und Kinder in beeindruckender Gelassenheit, Schmerz und Grauen nicht verbergend.
Neben ihrem empathischen Bericht, der in Anbetracht der vielen RAF-
Bücher, in denen es vor allem um die Täter geht, als überfällig erscheint, leistet Anne Siemens mit diesem Buch auch einen Beitrag zur historischen Aufarbeitung. Denn zum Erfassen der Geschichte der RAF gehört das Einbeziehen der Opfer. Die kaltblütige Lust dieser Mitglieder einer selbsternannten Armee an der Gewalt, das machtvolle Gefühl, Herr über Leben und Tod zu sein, treten mit schauerlicher Klarheit in den Vordergrund.
Auch wenn etliche Hinterbliebene sich – aus welchen Gründen auch immer – nicht am Projekt der Autorin beteiligen wollten; die, die bereit waren, haben es auf beispielhafte Weise getan. Dass sie für die Täter kein Verständnis aufbringen können, selbst wenn ihre Sicht auf das politische und soziale Leben von kritischem Bewusstsein geprägt war und ist, liegt auf der Hand. Eines aber wünschen sich fast alle: die Taten verstehen zu können. Gelungen ist es bisher keinem von ihnen. ELKE NICOLINI
ANNE SIEMENS: Für die RAF war er das System, für mich der Vater. Die andere Geschichte des deutschen Terrorismus. Piper Verlag München, 2007. 287 Seiten, 19,90 Euro.
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Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Lehrreich und beeindruckend findet Rezensent Thomas E. Schmidt diesen Band, der sich mit Opfern und Hinterbliebenen von RAF-Anschlägen befasst. Autorin Anne Siemens habe Ehefrauen und Kinder befragt und gebe den RAF-Opfern auf diesem Weg eine eigene Geschichte zurück, die bisher vom Zerrbild der RAF und ihrem Kampf gegen das "System" verdrängt worden sei. Dem Rezensenten zeigte sich in den Gesprächen, dass keines der Opfer diesem "Zerrbild der Systemfunktionäre" entsprochen habe. Im übrigen vermittelt ihm das Buch, auch das dem Terror folgende "staatspolitische Schauspiel" habe zur Anonymisierung der Opfer beigetragen. Insgesamt unterstreichen daher die "behutsam durch Fakten ergänzten" Gesprächsporträts dieses Bandes für ihn noch einmal den Befund, dass sich die Geschichte der RAF nicht in die "große triumphale Erzählung der Bundesrepublik" einfügen lässt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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