Staatsfeind Nummer 1 zu sein ist nicht leicht. Das gilt auch dann, wenn dieser Staat einer der kleinsten der Erde ist: das Fürstentum Liechtenstein. Johann Kaiser, Sohn eines Fotografen, Weltenbummler, Meister der Manipulation, lebt unter falschem Namen an einem unbekannten Ort. Mit dem Verkauf gestohlener Kundendaten einer großen Bank hat er so gut verdient, dass es sich unbesorgt leben ließe - wären da nicht die Verleumdungen aus seiner Heimat, die aus ihm einen Verräter machen wollen. Im Versuch, die Deutungshoheit über sein Leben zurückzuerlangen, greift Johann zu Stift und Papier.
Benjamin Quaderer hat einen tollkühnen Debütroman geschrieben über die Macht des Geldes und die Macht des Erzählens. Das Porträt eines Hochstaplers, der die Gesellschaft spiegelt, die er betrügt.
Benjamin Quaderer hat einen tollkühnen Debütroman geschrieben über die Macht des Geldes und die Macht des Erzählens. Das Porträt eines Hochstaplers, der die Gesellschaft spiegelt, die er betrügt.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.03.2020Geld
oder Leben
Eine Entdeckung: Benjamin Quaderers
Roman „Für immer die Alpen“
VON HUBERT WINKELS
Am Ende ist er Zeuge in einem Zeugenschutzprogramm des Bundesnachrichtendienstes. Er hat die Welt für einen Augenblick ins Wanken gebracht. Jetzt jagt sie ihn, um ihn loszuwerden. Für immer. Das einzige Mittel, seine Anwesenheit zu behaupten, ist das Aufschreiben seiner Geschichte, das Buch, das wir lesen: „Für immer die Alpen“. Eine Rechtfertigungsschrift. Wir haben es folglich mit einem unzuverlässigen Erzähler zu tun, der sich scheinbar an die Glaubwürdigkeit autobiografischen Schreibens klammert.
Das ist die Ausgangssituation im ersten Roman des noch jungen Liechtensteiner Autors Benjamin Quaderer. Er war von vielen Verlagen heiß begehrt, der Vorschuss für sein Buch ungewöhnlich hoch, die Erwartungen sind es folglich auch. Um es vorweg zu sagen, sie werden erfüllt. Quaderer ist eine Entdeckung.
Der Gejagte also, was hat er verbrochen? Er hat die Finanzdaten internationaler Steuerbetrüger bei der Liechtensteiner Staatsbank gestohlen, was die Wut der weltweiten Wirtschafts- und Verbrecherelite hervorruft. Ein apartes Roman-Setting, nahe am Thriller, einmal postmodern gefaltet. Mit der Lizenz zum Delirium. Denn es gibt kein Gegenüber des Erzählers, der ihn korrigieren könnte. Er ist ganz allein. Also könnte er auch ein ganz anderer sein, könnte alles ganz anders sein. Deshalb lautet der erste Satz des Romans auch: „Mein Name war einmal Johann Kaiser.“ Und ab geht die wilde Fahrt.
Der kleine Johann ist ein ungewolltes Kind. Der Vater trinkt und knipst in der Gegend herum, einmal in Barcelona am Strand, wo er eine Frau aufnimmt, die ihr orangefarbenes Top von unten her über den Bauchnabel nach oben rollt. Ein wiederkehrendes Bild im Roman. Er sucht sie, spricht aber nicht ihre Sprache. Die beiden leben stumm miteinander im kleinen Fürstentum Liechtenstein und zeugen drei Kinder. Die weiblichen Zwillinge versuchen sogleich, den kleinen Johann mit einem Kissen zu ersticken. Nach einem Streit über das Frauenwahlrecht in Liechtenstein trennen sich die Eltern. Mamá verschwindet, Papa Alfred interessiert sich nicht für Johann, der ins Waisenhaus kommt, wo er von einer bösen Lehrerin malträtiert wird. So pflegen sozial bewegte Entwicklungsromane zu beginnen, die den Helden über etliche Lebensstufen hinweg mit einer tauglichen Identität versehen. Das ist hier entscheidend anders.
Der arme Johann Kaiser beginnt um sein Leben zu lügen, zu betrügen und zu stehlen. Ihm wird übel mitgespielt, aber er ist selbst ein Trickster, ein gemeiner Schelm, ein Böser. In der Berghütte von Heinrich Harrer klaut er einen seltenen Stein, seinem einzigen Freund luchst er das Moped ab, in Barcelona, wo er nach seiner Mamá sucht, schwindelt er sich unter falschem Namen in ein Internat, wo er auf lauter Kinder aus wohlhabenden Familien trifft. Der Waisenjunge Kaiser gibt sich als Erbe einer Bohrmaschinendynastie namens Hilti aus dem Liechtensteinischen aus, schmuggelt sich in die Familie Tobler ein, die ihrerseits den vorgeblich reichen Erben zu betrügen sucht, der jedoch in einer Art länderübergreifenden Betrugsschachspiels die Toblers schwer über den Tisch zieht, völlig ungeniert und mit bestem Gewissen.
So geht es pikaresk und heiter weiter, bis Johann Kaiser gut gelaunt auf einer argentinischen Hazienda landet, wo allerdings statt der Geburtstagsgesellschaft die Hölle auf ihn wartet, ein toblereskes Folterteam. Schläge, Schmerz und Wunden. An dieser tiefsten Stelle, wo der sprachlose Körper auf die Gewalt symbolischer Einschreibung trifft, hat der Roman seine Mitte und seinen Kipppunkt, und von da an hat Johannes Kaiser ein durchgehendes Tatmotiv, das all sein Trachten bestimmt: die Rache an der Familie seiner Peiniger, und zwar juristisch auszutragen im fernen Rechtsstaat Liechtenstein.
Das Schöne an dieser Abenteuersause ist die Sympathie, die der Erzähler für seinen Helden zu wecken weiß, obwohl er keinen seiner hinterhältigen Winkelzüge verschweigt. Bei genauerem Hinsehen entdecken wir, dass Johann Kaiser jeweils den ersten Zug im Betrugsspiel macht, ein hinterhältiger Spieler, ja einer mit abgründiger Intelligenz. So sind, man muss aufpassen, das zu merken, seine Selbsttötungsversuche mit Rasierklingen (Handgelenke) und Glasscherbe (Hals) auf der argentinischen Hazienda bereits eingeplante Beweismittel in einem künftigen Strafprozess. Er tötet sich (potenziell) selbst, um andere künftig juristisch zu vernichten. Er lügt und betrügt noch mit dem Schmerz seines Körpers, der den symbolischen Tricksereien doch eigentlich entzogen ist.
Der Rachefeldzug reißt immer größere Teile der geordneten Welt mit sich. Er lebt von wilden Orts- und Zeitwechseln, überraschenden Volten, fantastischen Einfällen und der Rasanz des Erzählens selbst. Mehr als an satirische Schelmenromane erinnert „Für immer die Alpen“ mit seinen konkreten und genau umrissenen Szenen an „Mission: Impossible“-Filme, zumal an „Mission: Impossible 5 - Rogue Nation“, wo im Geheimdienstkrieg die Unterscheidung zwischen gutem Helden und bösem Gegenspieler kaum möglich ist. Alle betrügen immer – auch den Zuschauer/ Leser. Und alles läuft auf einen definierten geheimen Ort zu, der das eigentlich ortlose Daten-Geld birgt. Hier ist es Liechtenstein, die verschwiegenen Steueroase, der White-Collar-Schurkenstaat mitten in Europa.
Und der rachsüchtige Staatsangestellte Johann Kaiser ist der Datendieb im Zentrum des Geldes. In der Liechtensteiner Stiftungsbank ist er zuständig für die Digitalisierung der Akten, ihre Invisibilisierung. Doch er entwendet sie, verkauft sie an den BND und bereichert sich. Das bringt ihn der Natur des Geldes selbst näher. Sein Fluch: Johann K. wird zum ewig Flüchtenden und Flüchtigen, ein Ahasver des Kapitals. Als solcher wird er dann zum Erzähler, und die große Rätselfrage lautet, wie die literarisch-biografische Schrift zum genauen Gegenstück referenzlosen Geldes wird.
Ist sie das als Erinnerung, Zeugnis, Geschichte und Adressierung an künftige Leser? Oder folgt sie in ihren Sprüngen, Inkonsistenzen, ihrer leeren Artistik und abgehobenen Scherzen der Unnatur von Kapital und Zahl? Das ist die Gretchenfrage des Romans „Für immer die Alpen“. Der Titel selbst gibt einen ersten Hinweis: Das Dauernde, Stabile, Feste, Übermächtige ist die Natur selbst, sinnfällig in der steinernen Größe der Gebirgszüge. Doch die Literatur? Sie ist eher reißender Fluss als Berg, ein schwankend Ding, das großen Anteil hat an der Versatilität der geldgetriebenen Welt. Sie setzt, zumal in diesem Prachtexemplar von ausschweifender Romanerzählung, ihre artistisch losgelösten Potenzen frei, spielerisch, angeberisch, zitierend und größenwahnsinnig, ein Doppelwesen aus weltlicher Suche nach Halt und überirdischem Zirkus der Formen.
Die sechshundert Seiten bersten nicht nur vor fantastischen Einfällen, sie quellen zudem über von außergewöhnlichen Stilexperimenten und buchförmiger Performancelust. So besinnt sich der flüchtende Erzähler zum Beispiel seiner Aufgabe, nüchtern Bericht zu erstatten und das Subjektive zu verbannen. Das tut er dann auch, indem er den gesamten Erzählüberschuss unter den Strich in die Anmerkungen verbannt, in denen in kleiner Schrift fast ein Roman im Roman versteckt ist.
Ein anders Mal wird, was auf der linken Buchseite von einem Kriminalpsychologen in roter Schrift konstatiert wird, auf der gegenüberliegenden Seite vom Helden in Schwarz konterkariert. Und das über rund achtzig Seiten hinweg, auf denen dann auch noch der Psychologe ein Buch aus seinen Aufzeichnungen verfasst, welches der Erzähler Kaiser liest und auf seiner Seite bespöttelt und so weiter.
Oder das Aussetzen der Erinnerung nach den Folterszenen auf der argentinischen Hazienda. Sie manifestiert sich in einer Reihe fast leerer Seiten. Oder der Versuch des Erzählers, seine Geschichte mit Zeugnissen anderer, anonymer Zeugen anzureichern: Hier müssen so viele Identitätshinweise geschwärzt werden, dass die Lesbarkeit schwindet. Manchmal so stark, dass nur noch vier, fünf Wörter auf der Seite überhaupt zu entziffern sind, „es tut mir leid, dass ich nicht mehr sagen kann“ zum Beispiel. Und nicht nur hier ist Quaderer witzig. So gibt es Dialoge wie: „‚Merrill Lynch‘, sagte Carl Tobler. / Mehr nicht. / ‚Die Schauspielerin‘?, fragte ich. / ‚Nein‘, sagte er, ‚die Bank‘, und alles brach aus ihm heraus.“
Doch nichts ist hier digressiv, witzig, seriell, grafisch extravagant, was nicht einen direkten Bezug zum eigentlichen Thema des Romans hat, zur Entmaterialisierung der Welt durch das Geld. Die sprachlichen Mittel entfernen sich in ihrer formalen Eigenqualität so weit vom Romangeschehen und -thema, dass das Band zwischen Inhalt und Form ständig zu zerreißen droht. Ist hier ein Angeber am Werk oder ein Naturtalent von einem Virtuosen?
Bei diesem Befund wirkt es geradezu unwahrscheinlich, dass es mit dem immer noch gesuchten Liechtensteiner Bankangestellten Heinrich Kieber ein reales Vorbild gibt für Datendieb Johann Kaiser. Kiebers Verrat hatte die Bestrafung vieler Geldwäscher auf der ganzen Welt nach sich gezogen, der bekannteste Fall in Deutschland ist der des Ex-Postchefs Klaus Zumwinkel. Kieber hat darüber ein Buch geschrieben mit dem schönen Titel „Der Fürst. Der Dieb. Die Daten“, das Quaderer dankend nutzt. Auch die so anrührenden, aber vor allem exzentrischen Lebensstationen des Waisenkindes und Betrügers Kaiser haben schon einen Sachbuchautor gefunden. Den schlichten Titel „Der Datendieb“ hat Sigvard Wohlwend seiner detailreichen Biografie Kiebers gegeben.
Eine unglaubliche Realgeschichte, hier nun, bei Quaderer, auseinandergenommen, einmal wild in die Luft geworfen und zu einer unglaublichen literarischen Geschichte geworden, die sich auch als Parodie und Kontrafaktur des nie geschriebenen Nationalepos des Staates Liechtenstein lesen lässt, verfasst mit Witz statt Pathos, mit Ausschweifung und Verve statt mit Heldenverehrung, aber mit voller Repräsentanz aller historischen und symbolischen Dimensionen der Geldrepublik.
Deren Historie wird übrigens auch erzählt, und es wundert nicht, dass die eigentliche Gründung des rechtlich eigenen Staatswesens eine Frage des Geldes war: 160 Quadratkilometer für 405 000 Gulden, bezahlt von Fürst Johann Adam II. (!) im Jahr 1699. Und wenn man bei einem solch historisch informierten Epos der Geldwerdung des Menschen das Menschliche selbst vermisst, so halte man sich an die einzig rundum gute und schöne Person in diesem Roman, an die zweite Mutter Johanns, die Liechtensteiner Fürstin Gina. Sie hat sich früh in den hellen Waisenknaben verguckt und wird ihn ihr zu kurzes Leben lang mit Zuneigung beschützen.
Ginas Ehemann, Fürst Johannes Adam II., hingegen, ist der böse und hässliche Mann des Geldes. Geldwäscher aller Länder stehen hinter ihm. Die europäischen Regierungen und globalen Institutionen haben ihren Frieden mit seinem Staat gemacht. Doch wir Leser sagen: Lang lebe Heinrich Kieber, lang lebe Johann Kaiser. Und wir danken Benjamin Quaderer. Auch wenn wir nicht ganz genau wissen, ob seine schelmische Schläue und seine schnellen Maskenspiele der nichtenden Kraft des Geldes näherstehen oder der erinnernden und Ich-bildenden Kraft der Literatur.
Benjamin Quaderer: Für immer die Alpen. Roman. Luchterhand Verlag, München 2020. 589 Seiten, 22 Euro.
Der Autor weckt Sympathie
für seinen Helden, obwohl dieser
ein Trickster und Lügner ist
Die europäischen Staaten
haben ihren Frieden gemacht
mit dem Schurkenstaat
Der Erfinder des Epos von der Geldwerdung des Menschen lebt in Berlin: Benjamin Quaderer.
Foto: Natalie Neomi Isser
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
oder Leben
Eine Entdeckung: Benjamin Quaderers
Roman „Für immer die Alpen“
VON HUBERT WINKELS
Am Ende ist er Zeuge in einem Zeugenschutzprogramm des Bundesnachrichtendienstes. Er hat die Welt für einen Augenblick ins Wanken gebracht. Jetzt jagt sie ihn, um ihn loszuwerden. Für immer. Das einzige Mittel, seine Anwesenheit zu behaupten, ist das Aufschreiben seiner Geschichte, das Buch, das wir lesen: „Für immer die Alpen“. Eine Rechtfertigungsschrift. Wir haben es folglich mit einem unzuverlässigen Erzähler zu tun, der sich scheinbar an die Glaubwürdigkeit autobiografischen Schreibens klammert.
Das ist die Ausgangssituation im ersten Roman des noch jungen Liechtensteiner Autors Benjamin Quaderer. Er war von vielen Verlagen heiß begehrt, der Vorschuss für sein Buch ungewöhnlich hoch, die Erwartungen sind es folglich auch. Um es vorweg zu sagen, sie werden erfüllt. Quaderer ist eine Entdeckung.
Der Gejagte also, was hat er verbrochen? Er hat die Finanzdaten internationaler Steuerbetrüger bei der Liechtensteiner Staatsbank gestohlen, was die Wut der weltweiten Wirtschafts- und Verbrecherelite hervorruft. Ein apartes Roman-Setting, nahe am Thriller, einmal postmodern gefaltet. Mit der Lizenz zum Delirium. Denn es gibt kein Gegenüber des Erzählers, der ihn korrigieren könnte. Er ist ganz allein. Also könnte er auch ein ganz anderer sein, könnte alles ganz anders sein. Deshalb lautet der erste Satz des Romans auch: „Mein Name war einmal Johann Kaiser.“ Und ab geht die wilde Fahrt.
Der kleine Johann ist ein ungewolltes Kind. Der Vater trinkt und knipst in der Gegend herum, einmal in Barcelona am Strand, wo er eine Frau aufnimmt, die ihr orangefarbenes Top von unten her über den Bauchnabel nach oben rollt. Ein wiederkehrendes Bild im Roman. Er sucht sie, spricht aber nicht ihre Sprache. Die beiden leben stumm miteinander im kleinen Fürstentum Liechtenstein und zeugen drei Kinder. Die weiblichen Zwillinge versuchen sogleich, den kleinen Johann mit einem Kissen zu ersticken. Nach einem Streit über das Frauenwahlrecht in Liechtenstein trennen sich die Eltern. Mamá verschwindet, Papa Alfred interessiert sich nicht für Johann, der ins Waisenhaus kommt, wo er von einer bösen Lehrerin malträtiert wird. So pflegen sozial bewegte Entwicklungsromane zu beginnen, die den Helden über etliche Lebensstufen hinweg mit einer tauglichen Identität versehen. Das ist hier entscheidend anders.
Der arme Johann Kaiser beginnt um sein Leben zu lügen, zu betrügen und zu stehlen. Ihm wird übel mitgespielt, aber er ist selbst ein Trickster, ein gemeiner Schelm, ein Böser. In der Berghütte von Heinrich Harrer klaut er einen seltenen Stein, seinem einzigen Freund luchst er das Moped ab, in Barcelona, wo er nach seiner Mamá sucht, schwindelt er sich unter falschem Namen in ein Internat, wo er auf lauter Kinder aus wohlhabenden Familien trifft. Der Waisenjunge Kaiser gibt sich als Erbe einer Bohrmaschinendynastie namens Hilti aus dem Liechtensteinischen aus, schmuggelt sich in die Familie Tobler ein, die ihrerseits den vorgeblich reichen Erben zu betrügen sucht, der jedoch in einer Art länderübergreifenden Betrugsschachspiels die Toblers schwer über den Tisch zieht, völlig ungeniert und mit bestem Gewissen.
So geht es pikaresk und heiter weiter, bis Johann Kaiser gut gelaunt auf einer argentinischen Hazienda landet, wo allerdings statt der Geburtstagsgesellschaft die Hölle auf ihn wartet, ein toblereskes Folterteam. Schläge, Schmerz und Wunden. An dieser tiefsten Stelle, wo der sprachlose Körper auf die Gewalt symbolischer Einschreibung trifft, hat der Roman seine Mitte und seinen Kipppunkt, und von da an hat Johannes Kaiser ein durchgehendes Tatmotiv, das all sein Trachten bestimmt: die Rache an der Familie seiner Peiniger, und zwar juristisch auszutragen im fernen Rechtsstaat Liechtenstein.
Das Schöne an dieser Abenteuersause ist die Sympathie, die der Erzähler für seinen Helden zu wecken weiß, obwohl er keinen seiner hinterhältigen Winkelzüge verschweigt. Bei genauerem Hinsehen entdecken wir, dass Johann Kaiser jeweils den ersten Zug im Betrugsspiel macht, ein hinterhältiger Spieler, ja einer mit abgründiger Intelligenz. So sind, man muss aufpassen, das zu merken, seine Selbsttötungsversuche mit Rasierklingen (Handgelenke) und Glasscherbe (Hals) auf der argentinischen Hazienda bereits eingeplante Beweismittel in einem künftigen Strafprozess. Er tötet sich (potenziell) selbst, um andere künftig juristisch zu vernichten. Er lügt und betrügt noch mit dem Schmerz seines Körpers, der den symbolischen Tricksereien doch eigentlich entzogen ist.
Der Rachefeldzug reißt immer größere Teile der geordneten Welt mit sich. Er lebt von wilden Orts- und Zeitwechseln, überraschenden Volten, fantastischen Einfällen und der Rasanz des Erzählens selbst. Mehr als an satirische Schelmenromane erinnert „Für immer die Alpen“ mit seinen konkreten und genau umrissenen Szenen an „Mission: Impossible“-Filme, zumal an „Mission: Impossible 5 - Rogue Nation“, wo im Geheimdienstkrieg die Unterscheidung zwischen gutem Helden und bösem Gegenspieler kaum möglich ist. Alle betrügen immer – auch den Zuschauer/ Leser. Und alles läuft auf einen definierten geheimen Ort zu, der das eigentlich ortlose Daten-Geld birgt. Hier ist es Liechtenstein, die verschwiegenen Steueroase, der White-Collar-Schurkenstaat mitten in Europa.
Und der rachsüchtige Staatsangestellte Johann Kaiser ist der Datendieb im Zentrum des Geldes. In der Liechtensteiner Stiftungsbank ist er zuständig für die Digitalisierung der Akten, ihre Invisibilisierung. Doch er entwendet sie, verkauft sie an den BND und bereichert sich. Das bringt ihn der Natur des Geldes selbst näher. Sein Fluch: Johann K. wird zum ewig Flüchtenden und Flüchtigen, ein Ahasver des Kapitals. Als solcher wird er dann zum Erzähler, und die große Rätselfrage lautet, wie die literarisch-biografische Schrift zum genauen Gegenstück referenzlosen Geldes wird.
Ist sie das als Erinnerung, Zeugnis, Geschichte und Adressierung an künftige Leser? Oder folgt sie in ihren Sprüngen, Inkonsistenzen, ihrer leeren Artistik und abgehobenen Scherzen der Unnatur von Kapital und Zahl? Das ist die Gretchenfrage des Romans „Für immer die Alpen“. Der Titel selbst gibt einen ersten Hinweis: Das Dauernde, Stabile, Feste, Übermächtige ist die Natur selbst, sinnfällig in der steinernen Größe der Gebirgszüge. Doch die Literatur? Sie ist eher reißender Fluss als Berg, ein schwankend Ding, das großen Anteil hat an der Versatilität der geldgetriebenen Welt. Sie setzt, zumal in diesem Prachtexemplar von ausschweifender Romanerzählung, ihre artistisch losgelösten Potenzen frei, spielerisch, angeberisch, zitierend und größenwahnsinnig, ein Doppelwesen aus weltlicher Suche nach Halt und überirdischem Zirkus der Formen.
Die sechshundert Seiten bersten nicht nur vor fantastischen Einfällen, sie quellen zudem über von außergewöhnlichen Stilexperimenten und buchförmiger Performancelust. So besinnt sich der flüchtende Erzähler zum Beispiel seiner Aufgabe, nüchtern Bericht zu erstatten und das Subjektive zu verbannen. Das tut er dann auch, indem er den gesamten Erzählüberschuss unter den Strich in die Anmerkungen verbannt, in denen in kleiner Schrift fast ein Roman im Roman versteckt ist.
Ein anders Mal wird, was auf der linken Buchseite von einem Kriminalpsychologen in roter Schrift konstatiert wird, auf der gegenüberliegenden Seite vom Helden in Schwarz konterkariert. Und das über rund achtzig Seiten hinweg, auf denen dann auch noch der Psychologe ein Buch aus seinen Aufzeichnungen verfasst, welches der Erzähler Kaiser liest und auf seiner Seite bespöttelt und so weiter.
Oder das Aussetzen der Erinnerung nach den Folterszenen auf der argentinischen Hazienda. Sie manifestiert sich in einer Reihe fast leerer Seiten. Oder der Versuch des Erzählers, seine Geschichte mit Zeugnissen anderer, anonymer Zeugen anzureichern: Hier müssen so viele Identitätshinweise geschwärzt werden, dass die Lesbarkeit schwindet. Manchmal so stark, dass nur noch vier, fünf Wörter auf der Seite überhaupt zu entziffern sind, „es tut mir leid, dass ich nicht mehr sagen kann“ zum Beispiel. Und nicht nur hier ist Quaderer witzig. So gibt es Dialoge wie: „‚Merrill Lynch‘, sagte Carl Tobler. / Mehr nicht. / ‚Die Schauspielerin‘?, fragte ich. / ‚Nein‘, sagte er, ‚die Bank‘, und alles brach aus ihm heraus.“
Doch nichts ist hier digressiv, witzig, seriell, grafisch extravagant, was nicht einen direkten Bezug zum eigentlichen Thema des Romans hat, zur Entmaterialisierung der Welt durch das Geld. Die sprachlichen Mittel entfernen sich in ihrer formalen Eigenqualität so weit vom Romangeschehen und -thema, dass das Band zwischen Inhalt und Form ständig zu zerreißen droht. Ist hier ein Angeber am Werk oder ein Naturtalent von einem Virtuosen?
Bei diesem Befund wirkt es geradezu unwahrscheinlich, dass es mit dem immer noch gesuchten Liechtensteiner Bankangestellten Heinrich Kieber ein reales Vorbild gibt für Datendieb Johann Kaiser. Kiebers Verrat hatte die Bestrafung vieler Geldwäscher auf der ganzen Welt nach sich gezogen, der bekannteste Fall in Deutschland ist der des Ex-Postchefs Klaus Zumwinkel. Kieber hat darüber ein Buch geschrieben mit dem schönen Titel „Der Fürst. Der Dieb. Die Daten“, das Quaderer dankend nutzt. Auch die so anrührenden, aber vor allem exzentrischen Lebensstationen des Waisenkindes und Betrügers Kaiser haben schon einen Sachbuchautor gefunden. Den schlichten Titel „Der Datendieb“ hat Sigvard Wohlwend seiner detailreichen Biografie Kiebers gegeben.
Eine unglaubliche Realgeschichte, hier nun, bei Quaderer, auseinandergenommen, einmal wild in die Luft geworfen und zu einer unglaublichen literarischen Geschichte geworden, die sich auch als Parodie und Kontrafaktur des nie geschriebenen Nationalepos des Staates Liechtenstein lesen lässt, verfasst mit Witz statt Pathos, mit Ausschweifung und Verve statt mit Heldenverehrung, aber mit voller Repräsentanz aller historischen und symbolischen Dimensionen der Geldrepublik.
Deren Historie wird übrigens auch erzählt, und es wundert nicht, dass die eigentliche Gründung des rechtlich eigenen Staatswesens eine Frage des Geldes war: 160 Quadratkilometer für 405 000 Gulden, bezahlt von Fürst Johann Adam II. (!) im Jahr 1699. Und wenn man bei einem solch historisch informierten Epos der Geldwerdung des Menschen das Menschliche selbst vermisst, so halte man sich an die einzig rundum gute und schöne Person in diesem Roman, an die zweite Mutter Johanns, die Liechtensteiner Fürstin Gina. Sie hat sich früh in den hellen Waisenknaben verguckt und wird ihn ihr zu kurzes Leben lang mit Zuneigung beschützen.
Ginas Ehemann, Fürst Johannes Adam II., hingegen, ist der böse und hässliche Mann des Geldes. Geldwäscher aller Länder stehen hinter ihm. Die europäischen Regierungen und globalen Institutionen haben ihren Frieden mit seinem Staat gemacht. Doch wir Leser sagen: Lang lebe Heinrich Kieber, lang lebe Johann Kaiser. Und wir danken Benjamin Quaderer. Auch wenn wir nicht ganz genau wissen, ob seine schelmische Schläue und seine schnellen Maskenspiele der nichtenden Kraft des Geldes näherstehen oder der erinnernden und Ich-bildenden Kraft der Literatur.
Benjamin Quaderer: Für immer die Alpen. Roman. Luchterhand Verlag, München 2020. 589 Seiten, 22 Euro.
Der Autor weckt Sympathie
für seinen Helden, obwohl dieser
ein Trickster und Lügner ist
Die europäischen Staaten
haben ihren Frieden gemacht
mit dem Schurkenstaat
Der Erfinder des Epos von der Geldwerdung des Menschen lebt in Berlin: Benjamin Quaderer.
Foto: Natalie Neomi Isser
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.04.2020Aus Ställen wurden Finanzinstitute
Benjamin Quaderers Schelmen-Thriller "Für immer die Alpen" legt eine Steueroase trocken
"Johann wird ein sparsamer Mensch sein", sprach die Hebamme, "der durch harte Arbeit zu viel Geld kommen wird." Sprach's, geschah's. Und das kam so: Johann Kaiser wächst in einem Liechtensteiner Waisenhaus auf. Die spanische Mamá, die dem Vater einst ins Fürstentum gefolgt war, hat die Familie nach einem Ehestreit über das Frauenwahlrecht verlassen. Es wird gemunkelt, sie habe sich der Revolution in Lateinamerika angeschlossen. Der Vater, ein trinkender Fotograf, hat kein Interesse an seinen Kindern und setzt diese deshalb kurzerhand aus.
Im Kinderheim angekommen, wird Johann von der Leiterin der Einrichtung seelisch gequält. Auch die Beziehung zu seinen älteren Zwillingsschwestern ist belastet. Gleich nach Johanns Geburt wollen sie das Baby mit einem Kissen ersticken: "Alfred stand vor mir und hielt in jeder Hand zwei Zöpfe, an denen er die schreienden Zwillinge von mir wegzog wie tollwütige Hunde. Ich schloss die Augen und zählte bis dreißig. In dieser Welt gab es nichts, was mich hielt."
O doch! Es gibt sie, die positive weibliche Gegenfigur in Johanns Leben. Niemand Geringeres als Fürstin Gina ist es, die den Jungen seit ihrer Begegnung beim Kirschmarmeladenkauf protegiert. Sie wird es sein, die ihn unter die fürstlichen Fittiche nimmt und mehr verwöhnt als ihren eigenen Sohn. Der Thronfolger Hans-Adam wird nach dem Ableben der Fürstin noch eine entscheidende Rolle spielen in dieser Steueroasenoperette des literarischen Debütanten Benjamin Quaderer.
Es ist ein Buch, mit dem man einige Zeit fremdelt, weil es mit heiterer Drastik eine Waisenhausgeschichte auftischt, die man kein bisschen glaubt. Dann aber entfaltet "Für immer die Alpen" unaufhaltsam die Sogkraft eines Thrillers. Diese Transformation von der postmodernen Pikareske (inklusive Fußnotenüberschuss, Schwärzungen, Rötungen und Auslassungen) hin zum Steuerfahndungskrimi ist unerwartet. Und virtuos.
Johann Kaiser nimmt seine Leser mit auf eine Reise rund um den Globus. Zunächst mit einem entwendeten Moped über die Alpen in Richtung Barcelona, wo er sich auf die Suche nach Mamá begibt. Dort angekommen, gelingt es ihm, durch Lügen in der Millionärskinderschule von Barcelona unterzukommen. Als angeblicher Erbe der Liechtensteiner Bohrmaschinendynastie Hilti verschafft er sich Zugang zu den höchsten Kreisen. Abends verkehrt er im Umfeld einer literarischen Avantgardegruppe. Aus dem Kreis der (mexikanischen) Infrarealisten steckt der 2003 in Barcelona verstorbene Exil-Chilene Roberto Bolaño - zwinker, zwinker - seinen Wuschelkopf zu uns heraus.
Das Buch hat nun so viele Wendungen und unerhörte Begebenheiten, dass selbst sein Autor die Lust an ihrer Nachverfolgung verliert. Mordlustige Schwestern, fürstliche Matriarchinnen, ergreifende Slow-Sex-Szenen: All das will man nicht umsonst gelesen haben. Wichtig für den Fortgang der Geschichte ist aber ein Ereignis, das den Irrungen des jungen Helden - und damit auch dem Buch - endlich eine Richtung gibt.
Bei einem krummen Immobiliendeal hat Johann die Eltern eines Schulfreunds über den Tisch gezogen. Die Rache der ihrerseits kriminellen Toblers ist das tragische Herzstück der Geschichte. Der Erzähler wird von ihnen nämlich nach Argentinien gelockt und auf einer Hazienda grausam gefoltert. Dieser grässlichen Situation entkommen, beginnt Johann in Liechtenstein ein neues Leben als Treuhänder der fürstlichen Stiftungsbank, deren Geschäftsmodell darin besteht, das Vermögen reicher Ausländer zu verschleiern. Johann ist dafür zuständig, die sensiblen Kundenakten erst zu digitalisieren und dann verschwinden zu lassen. Eine Sicherheitsmaßnahme der Bank, denn das, was in Liechtenstein normal ist, wird andernorts verfolgt.
Steuerhinterziehung als Geschäftsmodell! Dem hochintelligenten Johann Kaiser entgeht nicht, dass man damit etwas anfangen kann. Sein Ziel: Er will Fürst Hans-Adam erpressen. Dieser soll den versandeten Prozess gegen die Toblers neu aufrollen helfen. Dort, wo bislang nur das Identitätsroulette eines armen Waisenkindes die Geschichte antrieb, hat Johann jetzt ein Motiv. Der Gefolterte will Gerechtigkeit. Doch der Fürst zieht ihn über den Tisch. Vom Datendieb wird Kaiser also schnell zum Datendealer, der mit dem BND Kontakt aufnimmt und nach dem realen Vorbild Heinrich Kiebers zahlreiche deutsche Steuersünder ans Messer liefert. Darunter den ehemaligen Postchef Klaus Zumwinkel. Kieber wurde seinerzeit von den deutschen Behörden mit einer neuen Identität ausgestattet. Liechtenstein sucht "den Bluthund" des Kleinstaats mit internationalem Haftbefehl. Man pflegt die Auffassung: Oasen gibt es nur inmitten von Wüsten.
In seinem Buch "Der Fürst. Der Dieb. Die Daten" hat Kieber ausführlich Auskunft über sich gegeben. Dieser Bericht eines Waisenkinds dient dem in Liechtenstein aufgewachsenen Benjamin Quaderer als Quelle. Ebenso eine Biographie von Sigvard Wohlwend: "Der Datendieb - Wie Heinrich Kieber den grössten Steuerskandal aller Zeiten auslöste". Zahlreiche Fußnoten im Roman belegen das. Getreu dem Motto: Wenn die Realität solche Geschichten schreibt, muss man das als Autor nicht übertrumpfen.
Worin besteht dann aber die Kunst dieser rasanten Bearbeitung? Benjamin Quaderer verwandelt sich die Geschichte des Datendiebs an - und zwar im selbsterfundenen Genre des Schelmen-Thrillers. Sein verstolperter Held ist dabei zu keinem Zeitpunkt greifbar. Doch dessen Abenteuer verfolgt man mit wachsendem Interesse. Ironisch hält Quaderer seine Figur auf Distanz. So kann er ihr nicht verfallen. Vielmehr benutzt er den Datendieb selbst als Datenträger. Durch die Figur des Johann Kaiser wird erzählt, was diese Welt aus elf Dörfern, "die in Rüben, Kartoffeln, später Bohrmaschinen machten", im Innersten zusammenhält: "Die Ställe von früher waren die Finanzinstitute von heute." Quaderer schreibt nicht nur internationale Steuer-, sondern auch Regionalgeschichte. Es ist das Protokoll einer Selbstverleugnung: "Diejenigen, die vor ein oder zwei Generationen noch Bauern gewesen waren, hatten jetzt Geld und kauften sich von einer Vergangenheit frei, für die sie sich schämten." Stumm und majestätisch stehen die Alpen in der Kulisse dieses Sozialdramas.
KATHARINA TEUTSCH
Benjamin Quaderer: "Für immer die Alpen". Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2020. 592 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Benjamin Quaderers Schelmen-Thriller "Für immer die Alpen" legt eine Steueroase trocken
"Johann wird ein sparsamer Mensch sein", sprach die Hebamme, "der durch harte Arbeit zu viel Geld kommen wird." Sprach's, geschah's. Und das kam so: Johann Kaiser wächst in einem Liechtensteiner Waisenhaus auf. Die spanische Mamá, die dem Vater einst ins Fürstentum gefolgt war, hat die Familie nach einem Ehestreit über das Frauenwahlrecht verlassen. Es wird gemunkelt, sie habe sich der Revolution in Lateinamerika angeschlossen. Der Vater, ein trinkender Fotograf, hat kein Interesse an seinen Kindern und setzt diese deshalb kurzerhand aus.
Im Kinderheim angekommen, wird Johann von der Leiterin der Einrichtung seelisch gequält. Auch die Beziehung zu seinen älteren Zwillingsschwestern ist belastet. Gleich nach Johanns Geburt wollen sie das Baby mit einem Kissen ersticken: "Alfred stand vor mir und hielt in jeder Hand zwei Zöpfe, an denen er die schreienden Zwillinge von mir wegzog wie tollwütige Hunde. Ich schloss die Augen und zählte bis dreißig. In dieser Welt gab es nichts, was mich hielt."
O doch! Es gibt sie, die positive weibliche Gegenfigur in Johanns Leben. Niemand Geringeres als Fürstin Gina ist es, die den Jungen seit ihrer Begegnung beim Kirschmarmeladenkauf protegiert. Sie wird es sein, die ihn unter die fürstlichen Fittiche nimmt und mehr verwöhnt als ihren eigenen Sohn. Der Thronfolger Hans-Adam wird nach dem Ableben der Fürstin noch eine entscheidende Rolle spielen in dieser Steueroasenoperette des literarischen Debütanten Benjamin Quaderer.
Es ist ein Buch, mit dem man einige Zeit fremdelt, weil es mit heiterer Drastik eine Waisenhausgeschichte auftischt, die man kein bisschen glaubt. Dann aber entfaltet "Für immer die Alpen" unaufhaltsam die Sogkraft eines Thrillers. Diese Transformation von der postmodernen Pikareske (inklusive Fußnotenüberschuss, Schwärzungen, Rötungen und Auslassungen) hin zum Steuerfahndungskrimi ist unerwartet. Und virtuos.
Johann Kaiser nimmt seine Leser mit auf eine Reise rund um den Globus. Zunächst mit einem entwendeten Moped über die Alpen in Richtung Barcelona, wo er sich auf die Suche nach Mamá begibt. Dort angekommen, gelingt es ihm, durch Lügen in der Millionärskinderschule von Barcelona unterzukommen. Als angeblicher Erbe der Liechtensteiner Bohrmaschinendynastie Hilti verschafft er sich Zugang zu den höchsten Kreisen. Abends verkehrt er im Umfeld einer literarischen Avantgardegruppe. Aus dem Kreis der (mexikanischen) Infrarealisten steckt der 2003 in Barcelona verstorbene Exil-Chilene Roberto Bolaño - zwinker, zwinker - seinen Wuschelkopf zu uns heraus.
Das Buch hat nun so viele Wendungen und unerhörte Begebenheiten, dass selbst sein Autor die Lust an ihrer Nachverfolgung verliert. Mordlustige Schwestern, fürstliche Matriarchinnen, ergreifende Slow-Sex-Szenen: All das will man nicht umsonst gelesen haben. Wichtig für den Fortgang der Geschichte ist aber ein Ereignis, das den Irrungen des jungen Helden - und damit auch dem Buch - endlich eine Richtung gibt.
Bei einem krummen Immobiliendeal hat Johann die Eltern eines Schulfreunds über den Tisch gezogen. Die Rache der ihrerseits kriminellen Toblers ist das tragische Herzstück der Geschichte. Der Erzähler wird von ihnen nämlich nach Argentinien gelockt und auf einer Hazienda grausam gefoltert. Dieser grässlichen Situation entkommen, beginnt Johann in Liechtenstein ein neues Leben als Treuhänder der fürstlichen Stiftungsbank, deren Geschäftsmodell darin besteht, das Vermögen reicher Ausländer zu verschleiern. Johann ist dafür zuständig, die sensiblen Kundenakten erst zu digitalisieren und dann verschwinden zu lassen. Eine Sicherheitsmaßnahme der Bank, denn das, was in Liechtenstein normal ist, wird andernorts verfolgt.
Steuerhinterziehung als Geschäftsmodell! Dem hochintelligenten Johann Kaiser entgeht nicht, dass man damit etwas anfangen kann. Sein Ziel: Er will Fürst Hans-Adam erpressen. Dieser soll den versandeten Prozess gegen die Toblers neu aufrollen helfen. Dort, wo bislang nur das Identitätsroulette eines armen Waisenkindes die Geschichte antrieb, hat Johann jetzt ein Motiv. Der Gefolterte will Gerechtigkeit. Doch der Fürst zieht ihn über den Tisch. Vom Datendieb wird Kaiser also schnell zum Datendealer, der mit dem BND Kontakt aufnimmt und nach dem realen Vorbild Heinrich Kiebers zahlreiche deutsche Steuersünder ans Messer liefert. Darunter den ehemaligen Postchef Klaus Zumwinkel. Kieber wurde seinerzeit von den deutschen Behörden mit einer neuen Identität ausgestattet. Liechtenstein sucht "den Bluthund" des Kleinstaats mit internationalem Haftbefehl. Man pflegt die Auffassung: Oasen gibt es nur inmitten von Wüsten.
In seinem Buch "Der Fürst. Der Dieb. Die Daten" hat Kieber ausführlich Auskunft über sich gegeben. Dieser Bericht eines Waisenkinds dient dem in Liechtenstein aufgewachsenen Benjamin Quaderer als Quelle. Ebenso eine Biographie von Sigvard Wohlwend: "Der Datendieb - Wie Heinrich Kieber den grössten Steuerskandal aller Zeiten auslöste". Zahlreiche Fußnoten im Roman belegen das. Getreu dem Motto: Wenn die Realität solche Geschichten schreibt, muss man das als Autor nicht übertrumpfen.
Worin besteht dann aber die Kunst dieser rasanten Bearbeitung? Benjamin Quaderer verwandelt sich die Geschichte des Datendiebs an - und zwar im selbsterfundenen Genre des Schelmen-Thrillers. Sein verstolperter Held ist dabei zu keinem Zeitpunkt greifbar. Doch dessen Abenteuer verfolgt man mit wachsendem Interesse. Ironisch hält Quaderer seine Figur auf Distanz. So kann er ihr nicht verfallen. Vielmehr benutzt er den Datendieb selbst als Datenträger. Durch die Figur des Johann Kaiser wird erzählt, was diese Welt aus elf Dörfern, "die in Rüben, Kartoffeln, später Bohrmaschinen machten", im Innersten zusammenhält: "Die Ställe von früher waren die Finanzinstitute von heute." Quaderer schreibt nicht nur internationale Steuer-, sondern auch Regionalgeschichte. Es ist das Protokoll einer Selbstverleugnung: "Diejenigen, die vor ein oder zwei Generationen noch Bauern gewesen waren, hatten jetzt Geld und kauften sich von einer Vergangenheit frei, für die sie sich schämten." Stumm und majestätisch stehen die Alpen in der Kulisse dieses Sozialdramas.
KATHARINA TEUTSCH
Benjamin Quaderer: "Für immer die Alpen". Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2020. 592 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Quaderer ist eine Entdeckung.« Hubert Winkels / Süddeutsche Zeitung