Hermann Aubin gehörte zu den einflussreichsten Vertretern der deutschen Geschichtswissenschaft der 1920er bis 1960er Jahre und war zugleich einer der führenden Protagonisten der deutschen Ostforschung. Die Studie untersucht auf breiter Quellengrundlage den Lebensweg und die Mentalität, das wissenschaftsorganisatorische und geschichtspolitische Engagement sowie das geschichtswissenschaftliche Werk des Ostforschers Aubin. Sie eröffnet damit einen differenzierten und spannenden Einblick in ein individuelles Gelehrtenleben, das sich vom spätwilhelminischen Kaiserreich bis in die frühe Bundesrepublik über drei epochale Umbrüche hinweg in hohem Maße treu geblieben ist. Sie bietet darüber hinaus auch eine erste, die Zäsuren des 20. Jahrhunderts übergreifende Geschichte der historischen deutschen Ostforschung. Dabei lässt sie exemplarisch schließlich auch jene mentalen und kulturellen Dispositionen und Grundstrukturen erkennen, die vom ausgehenden 19. bis ins zweite Drittel des 20. Jahrhunderts hinein die Wahrnehmung des eigenen Volkes und der europäischen Nachbarn durch die deutsche Gesellschaft geprägt haben. Sie trugen entscheidend dazu bei, dass die Deutschen dem östlichen Europa während der ersten beiden Drittel des 20. Jahrhunderts überwiegend mit Geringschätzung und Verachtung, Hass und brutaler Gewalt, mit anhaltender Herablassung und Unversöhnlichkeit begegnet sind.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.07.2006Das Leben ist Kampf
Ostfrontmann: Eduard Mühle über den Historiker Hermann Aubin
Hermann Aubin erfand die Wissenschaft vom deutschen Osten und traf vor, unter und nach Hitler als Festredner auf dankbare Hörer: ein Lehrstück über den disziplinären Ehrgeiz politischer Wissenschaft auf der Höhe der Zeit.
1937 veröffentlichte der Breslauer Historiker Hermann Aubin (1885 bis 1969) im ersten Band der Zeitschrift "Deutsches Archiv für Landes- und Volksforschung" einen dreiteiligen Aufsatz "Zur Erforschung der deutschen Ostbewegung". Aus Sicht der Geschichtswissenschaft bewertete der Autor, was andere Disziplinen zum Thema beitragen konnten. Unter anderem nahm er zu den Arbeiten eines Universitätskollegen Stellung, des 1929 von der Medizinischen Fakultät habilitierten Anthropologen Egon von Eickstedt, der 1934 mit einer "Rassenkunde und Rassengeschichte der Menschheit" hervorgetreten war und im selben Jahr ein umfassendes Forschungsprojekt in Gang gesetzt hatte, eine "Rassenuntersuchung Schlesien". Aubin stellte fest, daß sich nach gegebenem Kenntnis- und Methodenstand weder die slawische Bevölkerung noch die deutschen Stämme rassenkundlich aufschlüsseln ließen. Es seien bei den "kausalen Fragen", die "den Geschichtsforscher in erster Linie interessieren", noch nicht einmal die Grundlagen erarbeitet worden.
Zehn Jahre später hielt Aubin, inzwischen Ordinarius in Hamburg, im Rahmen einer "Woche für den geistigen Aufbau im Bereich der Schule" einen Vortrag über "Die Stellung der Geschichte heute". Einer erneuerten Geschichtswissenschaft stellte er die Aufgabe, hinter dem "Schild" ihrer Methode "den Kampf gegen den Einbruch der naturwissenschaftlichen Kausalitätsvorstellungen" aufzunehmen. Kann man sich vorstellen, daß der Gelehrte innerhalb eines Jahrzehnts jegliches Interesse an der Kausalität verloren hatte? Nun zwang die Katastrophe von 1945 die deutschen Historiker zur Überprüfung der Vorannahmen ihrer Arbeit. Zu dieser Revision des deutschen Geschichtsbildes, wie das zeitgenössische Schlagwort lautete, leistete Aubin mit der Hamburger Rede seinen Beitrag. Wenn er seine Zunft aufrief, "die Sauberkeit ihrer Methode" zu verteidigen, war damit indes gesagt, daß der Beitrag der Historiker zur Selbstreinigung der Nation theoretischer Natur bleiben sollte: Braune Flecken auf der Weste des ordentlichen deutschen Geschichtsprofessors konnte Aubin nicht entdecken.
Tatsächlich dokumentieren gerade Aubins widersprüchliche Einlassungen zur Kausalität ein unerschüttertes methodisches Selbstbewußtsein. Die Methode eines Faches dient der Abgrenzung, und die Frontstellung war 1937 und 1947 dieselbe: Es galt, die Autonomie der Geschichtswissenschaft gegen die Naturwissenschaften zu verteidigen. Wenn den Denkformen der Naturforschung nach Aubins Worten der "Einbruch" auf dem Terrain der Geschichtserkenntnis schon gelungen war, so beschrieb er die Bedrohung in der Bildlichkeit, die er auch zur Beschwörung der allgemeinen zeithistorischen Erfahrung gebrauchte. In der Rede vor den Hamburger Lehrern bekundete er Mitleid mit den "Schwächeren", die von der Geschichte nichts mehr wissen wollten, "ermattet" durch "die auf sie einstürmenden Ereignisse". Zwei Jahre zuvor war die geschichtliche Welt untergegangen, die für Aubin Forschungsobjekt und Lebensinhalt gewesen war: Der deutsche Osten, den er definiert und zum Gegenstand einer eigenen historischen Subdisziplin, der Ostforschung, gemacht hatte, war ein Raub der aus dem tieferen Osten heranstürmenden Völker geworden, die man in Aubins Kreisen von jeher geringgeschätzt und gefürchtet hatte.
Eduard Mühle zitiert in seiner überaus gründlichen Aubin-Monographie aus den Denkschriften, die 1917 den durch den preußischen Kultusminister Becker betriebenen Ausbau der "Auslandsstudien" begründen sollten. Demnach stellten sich ausgewiesene Humanisten wie der Philosoph Eduard Spranger die Universität Königsberg, an der später Aubins Kollegen Rothfels, Conze und Schieder wirkten, als "Prellbock" vor "für die Fluten, die von fremden, weniger kultivierten Ländern hereinbrechen können", als "eiserne Mauer" oder "steinernen Wall" gegen das "Eindringen fremder Unkultur".
Am 13. Dezember 1939 hielt Aubin eine Ansprache bei der Eröffnung der Landesbücherei zu Kattowitz, in der er dem wiedervereinigten Oberschlesien die Aufgabe zuwies, den "Wall der Kulturscheide" am Rand der Provinz "gegen jeden Einbruch von Osten her bleibend zu sichern". Zwei Jahre vorher hatte der vielgefragte Redner in einem Vortrag zur Siebenhundertjahrfeier der Deutschordens- und Hansestadt Elbing, der 1965 unter seinen gesammelten Aufsätzen wiederveröffentlicht wurde, die Gegenbewegung ausgemalt: Erst die deutschen Siedler hätten den Slawen die Stadt gebracht, "die feudal-agrarische, eintönige Geschlossenheit der östlichen Lebensbedingungen" sei in einem "Ansturm mitteleuropäischer Gesittung" durchbrochen worden.
Aubins Name spricht von einer Familiengeschichte, die den Gedanken des Gesittungsexports durch Ostwanderung plausibel erscheinen ließ. Die Aubins waren Hugenotten, die zweihundertfünfzig Jahre lang das Bürgerrecht der Reichsstadt Frankfurt besaßen. Der Großvater des Historikers zog nach Berlin, der Vater weiter in das nordböhmische Industriezentrum Reichenberg, wo er eine Teppichfabrik leitete. Hermann Aubin empfand es nicht als Heimkehr, als er 1929 dem Ruf auf den Lehrstuhl für mittelalterliche Geschichte in Breslau folgte. Die "Verpflanzung aus dem Westen nach Ostdeutschland" erschien unverlockend, das "östliche Grenzland" war "kein Ziel", sondern in existentialistischer Diktion "lediglich Stätte des Daseins und des Aushaltens". Der akademische Hasard hatte ihn in den Osten verschlagen, der ihm zum "Schicksalsland" werden mußte. Die Loyalität zur geistigen Heimat war eine Willensanstrengung, nicht unähnlich dem von heutigen Professoren gepflegten Verfassungspatriotismus.
Im Winter 1932/33 schien sich Aubin die Chance zu eröffnen, an die Spitze des von Karl Lamprecht begründeten Leipziger Instituts für Kultur- und Universalgeschichte zu treten. Die Berufung kam unter dem neuen Regime nicht zustande, obwohl die Fakultät den Umbau des Instituts zu einem "Centrum für Deutschtumsforschung" in Aussicht stellte. Den nationalsozialistischen Studentenvertretern war auch dieses fachgrenzensprengende Projekt nicht modern genug; sie zogen ein Institut für politische Bildung vor, zu dessen Direktor an Aubins Stelle Hans Freyer ernannt wurde. Man ist versucht, das Umschalten von Weltgeschichte auf Deutschtumskunde für eine opportunistische Kehrtwende zu halten. In Wahrheit boten die nationalpsychologischen Spekulationen des alldeutschen Institutsgründers Anknüpfungspunkte genug, wie bis heute ein Vorteil transdisziplinärer Forschungsverbünde darin liegt, daß sie sich leicht auf neue Vorgaben einstellen.
Aubin hatte sich in Leipzig als forschender Wissenschaftsmanager empfohlen. Der Institutsleiter müsse, "wenn er der Forderung der Vielseitigkeit genügen soll, den festen Boden eigener Forschung unter den Füßen haben". Dann dürfe er hoffen, "dem überwältigenden Ansturm der Universalgeschichte standzuhalten". Ist die an einen Tick grenzende Neigung Aubins, Methodenfragen in martialische Metaphern zu kleiden, zurückzuführen auf das, was im Geist seines Freundes Siegfried August Kaehler sein Kriegserlebnis zu nennen wäre? Als österreichischer Artillerieoffizier wurde Aubin vierzehn Monate lang an der galizischen Ostfront eingesetzt. Es ist Mühles These, daß die Eindrücke an dieser vordersten Linie des Kampfes der Kulturen Aubins Geschichtsbild nicht oder nur negativ geprägt haben. Der Osten blieb der leere Raum, der der Besiedlung durch die deutsche Phantasie bedurfte.
Daß Mühles siebenhundert engbedruckte Seiten dickes Buch keine Biographie sein will, sondern nur eine Studie zu Leben und Werk unter dem Aspekt der Ostforschung, mag aberwitzig anmuten. Aber indem Mühle den Alltag eines Forschungsorganisators, Zunftfunktionärs und Festredners sozusagen in einer dichten Beschreibung wechselnder Kontexte dokumentiert, vermeidet er die politischen Pauschalurteile und konstruktivistischen Trivialitäten, die das Feld dominieren, seit auf dem legendären Frankfurter Historikertag 1998 unter der Schirmherrschaft von Johannes Fried die "kritische" Erforschung der Geschichtswissenschaft im Hitlerreich eingeläutet wurde. Überzeugend führt Mühle es auf Aubins Selbstgefühl, Sachwalter strenger Objektivität zu sein, zurück, daß er sich insgesamt als zuverlässiger politischer Professor erwies, obwohl sich in den Akten bis 1945 das Gerücht von seiner Unzuverlässigkeit hielt.
Nur gelegentlich finden sich bei Mühle die Formeln, die ein realistisches Bild vom geistigen Berufsleben unter der Tyrannis verstellen. So attestiert er Aubin eine "affirmativ-kollaborative Haltung" gegenüber dem "System". Doch inwiefern will man einen deutschen Staatsbeamten der Kollaboration bezichtigen? Das liefe auf die Wiederbelebung des Mythos von der Fremdherrschaft der Nazi-Clique hinaus. Hans Mommsens pathetische Floskel, der volkspolitische Ehrgeiz anpassungsbereiter Konservativer sei "der wirkliche Nationalsozialismus" gewesen, bringt das historische Problem zum Verschwinden, daß ein Mann wie Aubin sich als Sturmtruppenführer im geistigen Grenzkampf zur Verfügung hielt, obwohl er eben kein Nationalsozialist im Sinne der schwerlich mißverständlichen Weltanschauung Hitlers war.
Mühles Befunde legen die wissenssoziologische Pointe nahe, daß nicht politische Wunschvorstellungen Aubins gelehrte Arbeit bestimmten, sondern umgekehrt wissenschaftliche Denkmuster sein Bild vom Lebenskampf prägten. Ein Volk hatte sich nicht anders zu behaupten als ein Fach. Daß Aubin 1942 den Gedanken formulierte, die deutsche Ostkolonisation sei irgendwann nicht mehr auf Zuwanderer angewiesen gewesen, sondern habe sich aus sich selbst gespeist, würdigt Mühle als Erkenntnisfortschritt. Als märchenhaftes Abbild der Eigendynamik wissenschaftlicher Erkenntnis kann einem die Ostbewegung erscheinen, von der Aubin erzählte. Der schlesische Stamm war in "seiner alten rastlos vorwärtsschreitenden Tätigkeit" zu beobachten, Aubin hätte mit Weber sagen können: Prinzipiell geht dieser Fortschritt in das Unendliche. Das "Vortragen deutschen Wesens" bestimmte Aubin 1928 als den Hauptinhalt der deutschen Volksgeschichte, und sein eigener Beitrag zur Fortschreibung dieser Geschichte und zum Weitertragen dieses Wesens war die Vortragstätigkeit.
PATRICK BAHNERS
Eduard Mühle: "Für Volk und deutschen Osten". Der Historiker Hermann Aubin und die deutsche Ostforschung. Schriften des Bundesarchivs, Band 65. Droste Verlag, Düsseldorf 2005. 732 S., Abb., geb., 50,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ostfrontmann: Eduard Mühle über den Historiker Hermann Aubin
Hermann Aubin erfand die Wissenschaft vom deutschen Osten und traf vor, unter und nach Hitler als Festredner auf dankbare Hörer: ein Lehrstück über den disziplinären Ehrgeiz politischer Wissenschaft auf der Höhe der Zeit.
1937 veröffentlichte der Breslauer Historiker Hermann Aubin (1885 bis 1969) im ersten Band der Zeitschrift "Deutsches Archiv für Landes- und Volksforschung" einen dreiteiligen Aufsatz "Zur Erforschung der deutschen Ostbewegung". Aus Sicht der Geschichtswissenschaft bewertete der Autor, was andere Disziplinen zum Thema beitragen konnten. Unter anderem nahm er zu den Arbeiten eines Universitätskollegen Stellung, des 1929 von der Medizinischen Fakultät habilitierten Anthropologen Egon von Eickstedt, der 1934 mit einer "Rassenkunde und Rassengeschichte der Menschheit" hervorgetreten war und im selben Jahr ein umfassendes Forschungsprojekt in Gang gesetzt hatte, eine "Rassenuntersuchung Schlesien". Aubin stellte fest, daß sich nach gegebenem Kenntnis- und Methodenstand weder die slawische Bevölkerung noch die deutschen Stämme rassenkundlich aufschlüsseln ließen. Es seien bei den "kausalen Fragen", die "den Geschichtsforscher in erster Linie interessieren", noch nicht einmal die Grundlagen erarbeitet worden.
Zehn Jahre später hielt Aubin, inzwischen Ordinarius in Hamburg, im Rahmen einer "Woche für den geistigen Aufbau im Bereich der Schule" einen Vortrag über "Die Stellung der Geschichte heute". Einer erneuerten Geschichtswissenschaft stellte er die Aufgabe, hinter dem "Schild" ihrer Methode "den Kampf gegen den Einbruch der naturwissenschaftlichen Kausalitätsvorstellungen" aufzunehmen. Kann man sich vorstellen, daß der Gelehrte innerhalb eines Jahrzehnts jegliches Interesse an der Kausalität verloren hatte? Nun zwang die Katastrophe von 1945 die deutschen Historiker zur Überprüfung der Vorannahmen ihrer Arbeit. Zu dieser Revision des deutschen Geschichtsbildes, wie das zeitgenössische Schlagwort lautete, leistete Aubin mit der Hamburger Rede seinen Beitrag. Wenn er seine Zunft aufrief, "die Sauberkeit ihrer Methode" zu verteidigen, war damit indes gesagt, daß der Beitrag der Historiker zur Selbstreinigung der Nation theoretischer Natur bleiben sollte: Braune Flecken auf der Weste des ordentlichen deutschen Geschichtsprofessors konnte Aubin nicht entdecken.
Tatsächlich dokumentieren gerade Aubins widersprüchliche Einlassungen zur Kausalität ein unerschüttertes methodisches Selbstbewußtsein. Die Methode eines Faches dient der Abgrenzung, und die Frontstellung war 1937 und 1947 dieselbe: Es galt, die Autonomie der Geschichtswissenschaft gegen die Naturwissenschaften zu verteidigen. Wenn den Denkformen der Naturforschung nach Aubins Worten der "Einbruch" auf dem Terrain der Geschichtserkenntnis schon gelungen war, so beschrieb er die Bedrohung in der Bildlichkeit, die er auch zur Beschwörung der allgemeinen zeithistorischen Erfahrung gebrauchte. In der Rede vor den Hamburger Lehrern bekundete er Mitleid mit den "Schwächeren", die von der Geschichte nichts mehr wissen wollten, "ermattet" durch "die auf sie einstürmenden Ereignisse". Zwei Jahre zuvor war die geschichtliche Welt untergegangen, die für Aubin Forschungsobjekt und Lebensinhalt gewesen war: Der deutsche Osten, den er definiert und zum Gegenstand einer eigenen historischen Subdisziplin, der Ostforschung, gemacht hatte, war ein Raub der aus dem tieferen Osten heranstürmenden Völker geworden, die man in Aubins Kreisen von jeher geringgeschätzt und gefürchtet hatte.
Eduard Mühle zitiert in seiner überaus gründlichen Aubin-Monographie aus den Denkschriften, die 1917 den durch den preußischen Kultusminister Becker betriebenen Ausbau der "Auslandsstudien" begründen sollten. Demnach stellten sich ausgewiesene Humanisten wie der Philosoph Eduard Spranger die Universität Königsberg, an der später Aubins Kollegen Rothfels, Conze und Schieder wirkten, als "Prellbock" vor "für die Fluten, die von fremden, weniger kultivierten Ländern hereinbrechen können", als "eiserne Mauer" oder "steinernen Wall" gegen das "Eindringen fremder Unkultur".
Am 13. Dezember 1939 hielt Aubin eine Ansprache bei der Eröffnung der Landesbücherei zu Kattowitz, in der er dem wiedervereinigten Oberschlesien die Aufgabe zuwies, den "Wall der Kulturscheide" am Rand der Provinz "gegen jeden Einbruch von Osten her bleibend zu sichern". Zwei Jahre vorher hatte der vielgefragte Redner in einem Vortrag zur Siebenhundertjahrfeier der Deutschordens- und Hansestadt Elbing, der 1965 unter seinen gesammelten Aufsätzen wiederveröffentlicht wurde, die Gegenbewegung ausgemalt: Erst die deutschen Siedler hätten den Slawen die Stadt gebracht, "die feudal-agrarische, eintönige Geschlossenheit der östlichen Lebensbedingungen" sei in einem "Ansturm mitteleuropäischer Gesittung" durchbrochen worden.
Aubins Name spricht von einer Familiengeschichte, die den Gedanken des Gesittungsexports durch Ostwanderung plausibel erscheinen ließ. Die Aubins waren Hugenotten, die zweihundertfünfzig Jahre lang das Bürgerrecht der Reichsstadt Frankfurt besaßen. Der Großvater des Historikers zog nach Berlin, der Vater weiter in das nordböhmische Industriezentrum Reichenberg, wo er eine Teppichfabrik leitete. Hermann Aubin empfand es nicht als Heimkehr, als er 1929 dem Ruf auf den Lehrstuhl für mittelalterliche Geschichte in Breslau folgte. Die "Verpflanzung aus dem Westen nach Ostdeutschland" erschien unverlockend, das "östliche Grenzland" war "kein Ziel", sondern in existentialistischer Diktion "lediglich Stätte des Daseins und des Aushaltens". Der akademische Hasard hatte ihn in den Osten verschlagen, der ihm zum "Schicksalsland" werden mußte. Die Loyalität zur geistigen Heimat war eine Willensanstrengung, nicht unähnlich dem von heutigen Professoren gepflegten Verfassungspatriotismus.
Im Winter 1932/33 schien sich Aubin die Chance zu eröffnen, an die Spitze des von Karl Lamprecht begründeten Leipziger Instituts für Kultur- und Universalgeschichte zu treten. Die Berufung kam unter dem neuen Regime nicht zustande, obwohl die Fakultät den Umbau des Instituts zu einem "Centrum für Deutschtumsforschung" in Aussicht stellte. Den nationalsozialistischen Studentenvertretern war auch dieses fachgrenzensprengende Projekt nicht modern genug; sie zogen ein Institut für politische Bildung vor, zu dessen Direktor an Aubins Stelle Hans Freyer ernannt wurde. Man ist versucht, das Umschalten von Weltgeschichte auf Deutschtumskunde für eine opportunistische Kehrtwende zu halten. In Wahrheit boten die nationalpsychologischen Spekulationen des alldeutschen Institutsgründers Anknüpfungspunkte genug, wie bis heute ein Vorteil transdisziplinärer Forschungsverbünde darin liegt, daß sie sich leicht auf neue Vorgaben einstellen.
Aubin hatte sich in Leipzig als forschender Wissenschaftsmanager empfohlen. Der Institutsleiter müsse, "wenn er der Forderung der Vielseitigkeit genügen soll, den festen Boden eigener Forschung unter den Füßen haben". Dann dürfe er hoffen, "dem überwältigenden Ansturm der Universalgeschichte standzuhalten". Ist die an einen Tick grenzende Neigung Aubins, Methodenfragen in martialische Metaphern zu kleiden, zurückzuführen auf das, was im Geist seines Freundes Siegfried August Kaehler sein Kriegserlebnis zu nennen wäre? Als österreichischer Artillerieoffizier wurde Aubin vierzehn Monate lang an der galizischen Ostfront eingesetzt. Es ist Mühles These, daß die Eindrücke an dieser vordersten Linie des Kampfes der Kulturen Aubins Geschichtsbild nicht oder nur negativ geprägt haben. Der Osten blieb der leere Raum, der der Besiedlung durch die deutsche Phantasie bedurfte.
Daß Mühles siebenhundert engbedruckte Seiten dickes Buch keine Biographie sein will, sondern nur eine Studie zu Leben und Werk unter dem Aspekt der Ostforschung, mag aberwitzig anmuten. Aber indem Mühle den Alltag eines Forschungsorganisators, Zunftfunktionärs und Festredners sozusagen in einer dichten Beschreibung wechselnder Kontexte dokumentiert, vermeidet er die politischen Pauschalurteile und konstruktivistischen Trivialitäten, die das Feld dominieren, seit auf dem legendären Frankfurter Historikertag 1998 unter der Schirmherrschaft von Johannes Fried die "kritische" Erforschung der Geschichtswissenschaft im Hitlerreich eingeläutet wurde. Überzeugend führt Mühle es auf Aubins Selbstgefühl, Sachwalter strenger Objektivität zu sein, zurück, daß er sich insgesamt als zuverlässiger politischer Professor erwies, obwohl sich in den Akten bis 1945 das Gerücht von seiner Unzuverlässigkeit hielt.
Nur gelegentlich finden sich bei Mühle die Formeln, die ein realistisches Bild vom geistigen Berufsleben unter der Tyrannis verstellen. So attestiert er Aubin eine "affirmativ-kollaborative Haltung" gegenüber dem "System". Doch inwiefern will man einen deutschen Staatsbeamten der Kollaboration bezichtigen? Das liefe auf die Wiederbelebung des Mythos von der Fremdherrschaft der Nazi-Clique hinaus. Hans Mommsens pathetische Floskel, der volkspolitische Ehrgeiz anpassungsbereiter Konservativer sei "der wirkliche Nationalsozialismus" gewesen, bringt das historische Problem zum Verschwinden, daß ein Mann wie Aubin sich als Sturmtruppenführer im geistigen Grenzkampf zur Verfügung hielt, obwohl er eben kein Nationalsozialist im Sinne der schwerlich mißverständlichen Weltanschauung Hitlers war.
Mühles Befunde legen die wissenssoziologische Pointe nahe, daß nicht politische Wunschvorstellungen Aubins gelehrte Arbeit bestimmten, sondern umgekehrt wissenschaftliche Denkmuster sein Bild vom Lebenskampf prägten. Ein Volk hatte sich nicht anders zu behaupten als ein Fach. Daß Aubin 1942 den Gedanken formulierte, die deutsche Ostkolonisation sei irgendwann nicht mehr auf Zuwanderer angewiesen gewesen, sondern habe sich aus sich selbst gespeist, würdigt Mühle als Erkenntnisfortschritt. Als märchenhaftes Abbild der Eigendynamik wissenschaftlicher Erkenntnis kann einem die Ostbewegung erscheinen, von der Aubin erzählte. Der schlesische Stamm war in "seiner alten rastlos vorwärtsschreitenden Tätigkeit" zu beobachten, Aubin hätte mit Weber sagen können: Prinzipiell geht dieser Fortschritt in das Unendliche. Das "Vortragen deutschen Wesens" bestimmte Aubin 1928 als den Hauptinhalt der deutschen Volksgeschichte, und sein eigener Beitrag zur Fortschreibung dieser Geschichte und zum Weitertragen dieses Wesens war die Vortragstätigkeit.
PATRICK BAHNERS
Eduard Mühle: "Für Volk und deutschen Osten". Der Historiker Hermann Aubin und die deutsche Ostforschung. Schriften des Bundesarchivs, Band 65. Droste Verlag, Düsseldorf 2005. 732 S., Abb., geb., 50,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Weitgehend einverstanden ist Patrick Bahners mit Eduard Mühles Monografie des Historikers Hermann Aubin (1885 bis 1969), der lange Zeit die "Ostforschung" prägte - die Erforschung des deutschen Volkstums in Ostmitteleuropa. Ausführlich geht er auf die Karriere Aubins ein, um sich dann der Arbeit Mühles zuzuwenden. Dessen umfangreiches Werk möchte nach Auskunft Bahners keine Biografie sein, sondern eine Studie über Leben und Werk des Historikers. Er bescheinigt Mühle, den Alltag Aubins als Forschungsorganisator, Zunftfunktionär und Festredner in einer "dichten Beschreibung wechselnder Kontexte" festzuhalten und so "politischen Pauschalurteilen" zu entgehen. Kritisch betrachtet Bahners hingegen einige Äußerungen Mühles, die für ihn einen unzutreffenden Eindruck vom Wirken Aubins unter der Nazi-Diktatur vermitteln. Dass der Autor Aubin eine "affirmativ-kollaborative Haltung" gegenüber dem "System" vorhält, weist der Rezensent mit der Frage zurück, wie man einen deutschen Staatsbeamten der Kollaboration bezichtigen wolle. Das eigentliche Problem sieht er nämlich darin, dass sich Aubin zwar als "Sturmtruppenführer im geistigen Grenzkampf zur Verfügung hielt", aber kein Nazi im weltanschaulichen Sinne Hitlers gewesen sei.
© Perlentaucher Medien GmbH
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