Produktdetails
- EVA Taschenbücher Bd.104
- Verlag: Europäische Verlagsanstalt
- Seitenzahl: 354
- Deutsch
- Abmessung: 190mm
- Gewicht: 404g
- ISBN-13: 9783434461043
- ISBN-10: 3434461043
- Artikelnr.: 10304618
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.02.1995Kalifat in Istanbul
Ein Vorschlag zur Lösung des islamischen Dilemmas
Özay Mehmet: Fundamentalismus und Nationalstaat. Der Islam und die Moderne. Aus dem Englischen von Uwe Ahrens. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 1994. 355 Seiten, 48,- Mark.
Der türkisch-zypriotische, in Kanada lehrende Politikwissenschaftler Özay Mehmet behandelt das Dilemma des Islam und der Muslime in der modernen Welt. Darüber scheint man in der Türkei freier als hierzulande sprechen zu können. "Bin ich zuerst Muslim oder Bürger des Staates, in dem ich lebe?" - so lautet die Grundfrage, die Mehmet einleitend stellt. Sie betrifft auch die türkische Gemeinde in Deutschland; die zweite Generation der hier geborenen Türken entwickelt nicht mehr ein türkisches, sondern ein islamisches Bewußtsein. Ein Muslim ist demnach ein Mitglied einer universellen Umma (Gemeinschaft) und hat keine Loyalität dem Staat gegenüber, in dem er lebt. Die Befürworter einer doppelten Staatsangehörigkeit, die wenig oder nichts über den Islam wissen, geraten angesichts dieser Situation in große Verlegenheit. Mehmets Buch ist eine von einem aufgeklärten Muslim verfaßte, hervorragende Informationsquelle über dieses islamische Dilemma: "Wie läßt sich der Universalismus des Islam mit der Moderne versöhnen, die sich in der nationalstaatlichen Realität verkörpert?"
In der jungen türkischen Geschichte hatte die kemalistische Revolution nach der Auflösung des islamischen Kalifats eine dezidierte Antwort darauf: den laizistischen Kemalismus. Er "ist die säkularistische Antithese zum Islam, weil der Kemalismus der islamischen Theokratie jegliche identitätsstiftende Kraft abspricht". Seitdem gilt in der Türkei die moderne Nation als Identitätsrahmen. Dieser Lösung stimmt auch Mehmet zu. Doch werde sie durch eine Wiederbelebung des Islam in Gestalt eines religiösen Fundamentalismus, der "universalistisch und daher expansiv" sei, in Frage gestellt. Die islamischen Fundamentalisten, zu denen auch die türkischen Gegner des kemalistischen Modells gehören, "ersehnen die Wiederherstellung des islamischen ,Goldenen Zeitalters'".
In der Türkei gibt es legale Fundamentalisten wie die Refah-(Wohlfahrts-)Partei, die aus Opportunität auf die Spielregeln der demokratischen Verfassung ihres Landes eingehen. Jene radikalen Fundamentalisten aber, die dazu nicht bereit sind, kommen als politische Asylanten nach Deutschland und bekämpfen, wie ihr Führer - der "Chomeini von Köln" - Çemaleddin Hoco glu/Kaplan (in seinen in Köln in deutscher Sprache verbreiteten Flugschriften nennt er sich "Staatsoberhaupt und Kalifatsregent"), die Verbindung von "Demokratie und dem laizistischen System". Vom deutschen Exil aus rufen die islamischen Fundamentalisten in ihren Flugschriften zum Kampf gegen "Verrat und die Untreue von Mustafa Kemal" und den Kemalisten auf. "Wir Muslime . . . fordern unser Recht, wir fordern die Rückgabe unseres Landes."
Der Kampf gegen die "Synthese von Islam und Moderne" richtet sich gegen die Integration der Muslime in Europa. Fundamentalisten wollen nicht, daß islamische Migranten europäische Staatsbürger werden, die sich dann mit der jeweiligen demokratischen Ordnung identifizieren. Islamische Fundamentalisten fordern von ihrem deutschen Exil aus die Wiederherstellung des Kalifats. Auch der laizistische Muslim Özay Mehmet ist für das Kalifat, jedoch in einem rationalen Rahmen. Die Probleme von Islam und Moderne beziehen sich seiner Ansicht nach auf politische und wirtschaftliche Fragen. Politisch fordert er Loyalität gegenüber einem demokratischen Nationalstaat. Ökonomisch entwirft er ein marktwirtschaftliches Modell für die Entwicklung islamischer Länder: Ohne eine tragfähige Entwicklungspolitik lasse sich der moderne Nationalstaat in der islamischen Zivilisation nicht etablieren. Aber Özay Mehmet erkennt auch, daß Muslime für ihre Umma einen supranationalen Rahmen benötigen. Ebender ist für ihn "eine moderne Form des alten Kalifats". Mehmet empfindet es nicht als Widerspruch, für das Kalifat einzutreten und die laizistische Türkei im Rahmen der Organisation der islamischen Konferenz als Sitz hierfür vorzuschlagen. Die Türkei "könnte die Gründung eines modernen Kalifats anregen, das der Einheit der islamischen Welt gewidmet ist. Das neue islamische Oberhaupt würde analog dem römisch-katholischen Papst auf Lebenszeit von einer Konferenz der führenden Ulema gewählt und von der Organisation der islamischen Konferenz (OIC) formal ernannt werden. Als Sitz des Kalifats würde sich Istanbul geradezu anbieten."
Auf ihrem Gipfel in Casablanca im Dezember 1994 haben die dort versammelten 52 islamischen Staatschefs ihrem Gastgeber, König Hassan II., der ein Scharif aus der Prophetenfamilie ist, Beifall gezollt, als er in seiner Begrüßungsrede islamische Solidarität gegen Fundamentalismus und Terrorismus forderte. Sollte der Vorschlag von Özay Mehmet für einen modernen OIC-Kalifen Aufmerksamkeit erlangen, so könnte sich Hoco glu allerdings wenig Hoffnung machen, islamischer Kalif zu werden. BASSAM TIBI
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Vorschlag zur Lösung des islamischen Dilemmas
Özay Mehmet: Fundamentalismus und Nationalstaat. Der Islam und die Moderne. Aus dem Englischen von Uwe Ahrens. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 1994. 355 Seiten, 48,- Mark.
Der türkisch-zypriotische, in Kanada lehrende Politikwissenschaftler Özay Mehmet behandelt das Dilemma des Islam und der Muslime in der modernen Welt. Darüber scheint man in der Türkei freier als hierzulande sprechen zu können. "Bin ich zuerst Muslim oder Bürger des Staates, in dem ich lebe?" - so lautet die Grundfrage, die Mehmet einleitend stellt. Sie betrifft auch die türkische Gemeinde in Deutschland; die zweite Generation der hier geborenen Türken entwickelt nicht mehr ein türkisches, sondern ein islamisches Bewußtsein. Ein Muslim ist demnach ein Mitglied einer universellen Umma (Gemeinschaft) und hat keine Loyalität dem Staat gegenüber, in dem er lebt. Die Befürworter einer doppelten Staatsangehörigkeit, die wenig oder nichts über den Islam wissen, geraten angesichts dieser Situation in große Verlegenheit. Mehmets Buch ist eine von einem aufgeklärten Muslim verfaßte, hervorragende Informationsquelle über dieses islamische Dilemma: "Wie läßt sich der Universalismus des Islam mit der Moderne versöhnen, die sich in der nationalstaatlichen Realität verkörpert?"
In der jungen türkischen Geschichte hatte die kemalistische Revolution nach der Auflösung des islamischen Kalifats eine dezidierte Antwort darauf: den laizistischen Kemalismus. Er "ist die säkularistische Antithese zum Islam, weil der Kemalismus der islamischen Theokratie jegliche identitätsstiftende Kraft abspricht". Seitdem gilt in der Türkei die moderne Nation als Identitätsrahmen. Dieser Lösung stimmt auch Mehmet zu. Doch werde sie durch eine Wiederbelebung des Islam in Gestalt eines religiösen Fundamentalismus, der "universalistisch und daher expansiv" sei, in Frage gestellt. Die islamischen Fundamentalisten, zu denen auch die türkischen Gegner des kemalistischen Modells gehören, "ersehnen die Wiederherstellung des islamischen ,Goldenen Zeitalters'".
In der Türkei gibt es legale Fundamentalisten wie die Refah-(Wohlfahrts-)Partei, die aus Opportunität auf die Spielregeln der demokratischen Verfassung ihres Landes eingehen. Jene radikalen Fundamentalisten aber, die dazu nicht bereit sind, kommen als politische Asylanten nach Deutschland und bekämpfen, wie ihr Führer - der "Chomeini von Köln" - Çemaleddin Hoco glu/Kaplan (in seinen in Köln in deutscher Sprache verbreiteten Flugschriften nennt er sich "Staatsoberhaupt und Kalifatsregent"), die Verbindung von "Demokratie und dem laizistischen System". Vom deutschen Exil aus rufen die islamischen Fundamentalisten in ihren Flugschriften zum Kampf gegen "Verrat und die Untreue von Mustafa Kemal" und den Kemalisten auf. "Wir Muslime . . . fordern unser Recht, wir fordern die Rückgabe unseres Landes."
Der Kampf gegen die "Synthese von Islam und Moderne" richtet sich gegen die Integration der Muslime in Europa. Fundamentalisten wollen nicht, daß islamische Migranten europäische Staatsbürger werden, die sich dann mit der jeweiligen demokratischen Ordnung identifizieren. Islamische Fundamentalisten fordern von ihrem deutschen Exil aus die Wiederherstellung des Kalifats. Auch der laizistische Muslim Özay Mehmet ist für das Kalifat, jedoch in einem rationalen Rahmen. Die Probleme von Islam und Moderne beziehen sich seiner Ansicht nach auf politische und wirtschaftliche Fragen. Politisch fordert er Loyalität gegenüber einem demokratischen Nationalstaat. Ökonomisch entwirft er ein marktwirtschaftliches Modell für die Entwicklung islamischer Länder: Ohne eine tragfähige Entwicklungspolitik lasse sich der moderne Nationalstaat in der islamischen Zivilisation nicht etablieren. Aber Özay Mehmet erkennt auch, daß Muslime für ihre Umma einen supranationalen Rahmen benötigen. Ebender ist für ihn "eine moderne Form des alten Kalifats". Mehmet empfindet es nicht als Widerspruch, für das Kalifat einzutreten und die laizistische Türkei im Rahmen der Organisation der islamischen Konferenz als Sitz hierfür vorzuschlagen. Die Türkei "könnte die Gründung eines modernen Kalifats anregen, das der Einheit der islamischen Welt gewidmet ist. Das neue islamische Oberhaupt würde analog dem römisch-katholischen Papst auf Lebenszeit von einer Konferenz der führenden Ulema gewählt und von der Organisation der islamischen Konferenz (OIC) formal ernannt werden. Als Sitz des Kalifats würde sich Istanbul geradezu anbieten."
Auf ihrem Gipfel in Casablanca im Dezember 1994 haben die dort versammelten 52 islamischen Staatschefs ihrem Gastgeber, König Hassan II., der ein Scharif aus der Prophetenfamilie ist, Beifall gezollt, als er in seiner Begrüßungsrede islamische Solidarität gegen Fundamentalismus und Terrorismus forderte. Sollte der Vorschlag von Özay Mehmet für einen modernen OIC-Kalifen Aufmerksamkeit erlangen, so könnte sich Hoco glu allerdings wenig Hoffnung machen, islamischer Kalif zu werden. BASSAM TIBI
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main