Die gemeinsame Kultur und der Zusammenhalt der Europäischen Union stehen auf dem Prüfstand der Geschichte. Eine Selbstvergewisserung dessen, was Europa ausmacht, ist daher eine vorrangige Aufgabe unserer Zeit. Der Band ist als wissenschaftliche Bestandsaufnahme unserer kulturellen Identität zu verstehen. Die Kenntnis der Bedingungen europäischer Freiheitswirklichkeit ist für die Stärkung der Resilienz und Handlungsfähigkeit der Europäischen Union unentbehrlich.
Verteidigungspolitik hat ein ganz bestimmtes, konkretes Freiheitsbewusstsein zur Grundlage. Geschichtlich erworbene Gestaltungen der Freiheit haben ein philosophisch begründbares Fundament. Denn als bloß geschichtliche Fakten sind sie noch nicht legitimiert bzw. als vernünftig anerkannt. Sie müssen sich vielmehr am Begriff der Freiheit und dessen Fortschritt messen lassen. Zehn Autoren haben sich der Herausforderung gestellt, unser geistiges Fundament in einer systematischen Einheit darzustellen.
Verteidigungspolitik hat ein ganz bestimmtes, konkretes Freiheitsbewusstsein zur Grundlage. Geschichtlich erworbene Gestaltungen der Freiheit haben ein philosophisch begründbares Fundament. Denn als bloß geschichtliche Fakten sind sie noch nicht legitimiert bzw. als vernünftig anerkannt. Sie müssen sich vielmehr am Begriff der Freiheit und dessen Fortschritt messen lassen. Zehn Autoren haben sich der Herausforderung gestellt, unser geistiges Fundament in einer systematischen Einheit darzustellen.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent und Historiker Sönke Neitzel bekommt beim Lesen des von Johann Frank und Johannes Berchtold herausgegebenen Sammelbands den Eindruck, dass eine starke EU aufgrund der Verschiedenheit der historischen Erfahrungen ihrer Mitglieder ein frommer Wunsch bleiben muss. Ein Beitrag von Herfried Münkler über das Scheitern ökonomischer Allianz im Euro-Raum trifft es in dieser Hinsicht genau, findet er. Andere Beiträge im Band über europäische Identität in ihren Einzelaspekten, wie Technik, Staat, Freiheit irritieren den Rezensenten mitunter durch ihren Glauben an die Möglichkeit der EU zur Einbindung anderer Weltmächte. Für Neitzel eine Illusion.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.05.2023Die Welt, wie sie nicht geworden ist
Europa sieht sich und die von ihm verkörperten Werte nie dagewesenen Herausforderungen ausgesetzt. Ein Sammelband, noch vor dem Überfall auf die Ukraine abgeschlossen, referiert noch einmal vergangene Träume und zeigt Auswege, die zu beschreiten schwer wird.
Der russische Überfall auf die Ukraine hat die Europäische Union im Februar 2022 aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt. Frieden und Freiheit in Europa mit Diplomatie, Wirtschaft und Kultur zu sichern ist zumindest in der Auseinandersetzung mit Russland spektakulär gescheitert. Seitdem beteiligen sich die Europäer auch an der militärischen Unterstützung der Ukraine. Die Debatten über die Waffenlieferungen zeigen, wie sehr die europäischen Öffentlichkeiten um diesen Kurswechsel ringen. Wie soll sichergestellt werden, dass die Ukraine ihre Souveränität behält und zugleich möglichst rasch wieder Frieden herrscht? Letztlich geht es um die Frage, welche Rolle die EU in Zukunft sicherheitspolitisch spielen will.
Der vorliegende, von der österreichischen Landesverteidigungsakademie herausgegebene Sammelband spürt den geistigen Grundlagen einer europäischen Verteidigungsbereitschaft nach. Im Zentrum der 18 Beiträge, die vor Februar 2022 abgeschlossen wurden, steht die wissenschaftliche Ausmessung der europäischen Identität: Freiheit, Staat, Medien, Fortschritt und Technik werden ausführlich behandelt, ebenso Themen der Migration und Integration sowie Bildung und Wissenschaft.
Interessant ist, dass Mitherausgeber Johannes Berchtold in seinem Aufsatz "Die EU zwischen Staatenbund und Bundesstaat" im Zwang zum politischen Konsens gerade in Zeiten des rapiden Wandels eher einen Stabilitätsfaktor denn eine Schwäche sieht. Er argumentiert, dass "die großen Zwecksetzungen" etwa im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik in nationaler Hand verbleiben müssten. Die Staaten müssten freilich in diesem Bereich weit stärker kooperieren. Der Theaterwissenschaftler Heinz-Uwe Haus zitiert in seinem Beitrag über "Kultur und Identität im sicherheitspolitischen Diskurs" den scheidenden deutschen Botschafter in Moskau, Géza von Geyr. 2018 forderte dieser, dass es eines gemeinsamen Verteidigungsnarrativs bedürfe, mit dem der Begriff der Europäischen Verteidigungsunion weit in die Gesellschaft der europäischen Bürger hineintransportiert werden müsse.
Solche Appelle sind natürlich aller Ehren wert. Sie verhallten bisher allerdings ungehört. Und so lassen einen die vielen Verweise des Bandes darauf, was die Europäische Union tun müsste, um wehrhafter zu werden eher ratlos zurück. Es mag ja ein hehres Ziel sein, Systemrivalen wie China und Russland einzuhegen - Peter Sloterdijk fügt in seinem Beitrag auch die Mäßigung des amerikanischen Imperialismus hinzu - und in die Verantwortung für die Lösung globaler Probleme wie Klima oder Migration einzubinden. Die Vorstellung, dass die EU auf weltweiter Ebene andere Machtzentren "einbinden" könnte, ist freilich eine Illusion. Sie ist zuweilen noch in mancher Thinktank-Runde zu hören und verdeutlicht, dass auch hier sich manche noch nicht ganz aus ihren Träumen haben befreien können. Und so ist auch in diesem Band zu lesen, dass die Universalität der europäischen Werte und ihre Ausformung im europäischen Recht eine starke kulturprägende Botschaft und eine gefürchtete Waffe seien. Gewiss betrachtet mancher Diktator zu viel Demokratie in der Nähe seines Staates als Gefahr. Und das europäische Modell ist für viele Menschen attraktiv, was sich nicht zuletzt in den hohen Migrationszahlen ausdrückt. Gerade die Ukrainekrise hat der EU aber in bitterer Weise verdeutlicht, dass die europäischen Werte und Normen eben keine globale Gültigkeit mehr haben.
Herfried Münkler legt in seinem luziden Beitrag zu "Sicherheitspolitischen Modellen für ein Europa der Zukunft" den Finger in die Wunde. Europa ist das, was die Welt gemäß der Hoffnungen der 1990er-Jahre hätte werden sollen. Allerdings ist das Projekt gescheitert, den Globus in einen wirtschaftlich verflochtenen Raum zu verwandeln, in dem ökonomische Kooperation die politische oder militärische Konkurrenz ersetzt und Streitpunkte durch Gerichte oder in Schiedsverfahren geklärt werden. Europa dürfe nun nicht so tun, als ob eine regelbasierte globale Ordnung noch existiere, so Münkler. Und der Kontinent habe auch keine Zeit mehr, in Ruhe darüber zu sinnieren, was er sein und werden will. Der Handlungsdruck sei angesichts der Politik der USA, Russlands und Chinas zu groß.
Die Schlussfolgerungen liegen für Münkler klar auf der Hand: Es ist notwendig, "sich auf die eigenen Beine zu stellen und selbst Gehen zu lernen". "Tun (die Europäer) das nicht, wird sich das Projekt der Europäischen Union, gleichgültig, welchem Modell sie nun folgt, so oder so erledigen." Es sei an der Zeit, nicht mehr die Harmonisierung der Wirtschafts- Fiskal und Sozialpolitik, sondern eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik in den Mittelpunkt des Handelns zu stellen. Dadurch könne es gelingen den zentrifugalen Kräften zentripedale entgegenzusetzen. Die EU müsse fähig werden, in der Außen- und Sicherheitspolitik einen eigenen Willen zu artikulieren und diesen geltend zu machen. Sodann müsse Europa in der Lage sein, die europäischen Peripherien zu pazifizieren.
Münkler hat mit seiner Analyse zweifellos recht. Doch wird sein Ruf gehört? Sosehr die Europäer willens waren, einen gemeinsamen Wirtschafts- und Währungsraum ohne Binnengrenzen zu schaffen, so sehr blieben sie verteidigungspolitisch Zwerge. In diesem Kernbereich staatlicher Souveränität gab es keine nennenswerten Fortschritte der Integration. Man hat sich ja noch nicht einmal getraut, die deutsch-französische Brigade - dieses 1989 so hoffnungsvoll gestartete Symbol einer europäischen militärischen Zusammenarbeit - unter einem gemeinsamen Mandat in den Einsatz nach Mali zu schicken. Und der Ukrainekrieg hat an diesem Befund nichts geändert. 450 Millionen EU-Europäer benötigen amerikanischen Beistand, um der Ukraine einige Dutzend Kampfpanzer zu liefern. Eine deutlichere Aussage über den Zustand der sicherheitspolitischen Souveränität Europas lässt sich kaum machen.
Nach der Lektüre dieses Sammelbandes drängt sich der Eindruck auf, dass die Verschiedenheit der Kulturen und historischen Erfahrungen eine sicherheitspolitisch handlungsstarke Europäische Union nicht zulassen. Auch andere historische Gebilde erwiesen sich aufgrund der Vielfalt ihrer Identitäten den Herausforderungen ihrer Zeit nicht gewachsen: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation fand keine Antwort auf die Französische Revolution und wurde von Napoleon zur Seite gefegt. Der Deutsche Bund erlag Preußen. Niemand kann in die Zukunft schauen, aber dass die Europäische Union die Lektionen berücksichtigt, die in diesem Band aufgezeigt werden, ist mehr als unwahrscheinlich. Vermutlich, weil wir Europäer so sind, wie wir sind. SÖNKE NEITZEL
Johann Frank / Johannes Berchtold (Herausgeber): Fundamente von Freiheit und Sicherheit in Europa.
Duncker & Humblot, Berlin 2023. 384 S., 34,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Europa sieht sich und die von ihm verkörperten Werte nie dagewesenen Herausforderungen ausgesetzt. Ein Sammelband, noch vor dem Überfall auf die Ukraine abgeschlossen, referiert noch einmal vergangene Träume und zeigt Auswege, die zu beschreiten schwer wird.
Der russische Überfall auf die Ukraine hat die Europäische Union im Februar 2022 aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt. Frieden und Freiheit in Europa mit Diplomatie, Wirtschaft und Kultur zu sichern ist zumindest in der Auseinandersetzung mit Russland spektakulär gescheitert. Seitdem beteiligen sich die Europäer auch an der militärischen Unterstützung der Ukraine. Die Debatten über die Waffenlieferungen zeigen, wie sehr die europäischen Öffentlichkeiten um diesen Kurswechsel ringen. Wie soll sichergestellt werden, dass die Ukraine ihre Souveränität behält und zugleich möglichst rasch wieder Frieden herrscht? Letztlich geht es um die Frage, welche Rolle die EU in Zukunft sicherheitspolitisch spielen will.
Der vorliegende, von der österreichischen Landesverteidigungsakademie herausgegebene Sammelband spürt den geistigen Grundlagen einer europäischen Verteidigungsbereitschaft nach. Im Zentrum der 18 Beiträge, die vor Februar 2022 abgeschlossen wurden, steht die wissenschaftliche Ausmessung der europäischen Identität: Freiheit, Staat, Medien, Fortschritt und Technik werden ausführlich behandelt, ebenso Themen der Migration und Integration sowie Bildung und Wissenschaft.
Interessant ist, dass Mitherausgeber Johannes Berchtold in seinem Aufsatz "Die EU zwischen Staatenbund und Bundesstaat" im Zwang zum politischen Konsens gerade in Zeiten des rapiden Wandels eher einen Stabilitätsfaktor denn eine Schwäche sieht. Er argumentiert, dass "die großen Zwecksetzungen" etwa im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik in nationaler Hand verbleiben müssten. Die Staaten müssten freilich in diesem Bereich weit stärker kooperieren. Der Theaterwissenschaftler Heinz-Uwe Haus zitiert in seinem Beitrag über "Kultur und Identität im sicherheitspolitischen Diskurs" den scheidenden deutschen Botschafter in Moskau, Géza von Geyr. 2018 forderte dieser, dass es eines gemeinsamen Verteidigungsnarrativs bedürfe, mit dem der Begriff der Europäischen Verteidigungsunion weit in die Gesellschaft der europäischen Bürger hineintransportiert werden müsse.
Solche Appelle sind natürlich aller Ehren wert. Sie verhallten bisher allerdings ungehört. Und so lassen einen die vielen Verweise des Bandes darauf, was die Europäische Union tun müsste, um wehrhafter zu werden eher ratlos zurück. Es mag ja ein hehres Ziel sein, Systemrivalen wie China und Russland einzuhegen - Peter Sloterdijk fügt in seinem Beitrag auch die Mäßigung des amerikanischen Imperialismus hinzu - und in die Verantwortung für die Lösung globaler Probleme wie Klima oder Migration einzubinden. Die Vorstellung, dass die EU auf weltweiter Ebene andere Machtzentren "einbinden" könnte, ist freilich eine Illusion. Sie ist zuweilen noch in mancher Thinktank-Runde zu hören und verdeutlicht, dass auch hier sich manche noch nicht ganz aus ihren Träumen haben befreien können. Und so ist auch in diesem Band zu lesen, dass die Universalität der europäischen Werte und ihre Ausformung im europäischen Recht eine starke kulturprägende Botschaft und eine gefürchtete Waffe seien. Gewiss betrachtet mancher Diktator zu viel Demokratie in der Nähe seines Staates als Gefahr. Und das europäische Modell ist für viele Menschen attraktiv, was sich nicht zuletzt in den hohen Migrationszahlen ausdrückt. Gerade die Ukrainekrise hat der EU aber in bitterer Weise verdeutlicht, dass die europäischen Werte und Normen eben keine globale Gültigkeit mehr haben.
Herfried Münkler legt in seinem luziden Beitrag zu "Sicherheitspolitischen Modellen für ein Europa der Zukunft" den Finger in die Wunde. Europa ist das, was die Welt gemäß der Hoffnungen der 1990er-Jahre hätte werden sollen. Allerdings ist das Projekt gescheitert, den Globus in einen wirtschaftlich verflochtenen Raum zu verwandeln, in dem ökonomische Kooperation die politische oder militärische Konkurrenz ersetzt und Streitpunkte durch Gerichte oder in Schiedsverfahren geklärt werden. Europa dürfe nun nicht so tun, als ob eine regelbasierte globale Ordnung noch existiere, so Münkler. Und der Kontinent habe auch keine Zeit mehr, in Ruhe darüber zu sinnieren, was er sein und werden will. Der Handlungsdruck sei angesichts der Politik der USA, Russlands und Chinas zu groß.
Die Schlussfolgerungen liegen für Münkler klar auf der Hand: Es ist notwendig, "sich auf die eigenen Beine zu stellen und selbst Gehen zu lernen". "Tun (die Europäer) das nicht, wird sich das Projekt der Europäischen Union, gleichgültig, welchem Modell sie nun folgt, so oder so erledigen." Es sei an der Zeit, nicht mehr die Harmonisierung der Wirtschafts- Fiskal und Sozialpolitik, sondern eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik in den Mittelpunkt des Handelns zu stellen. Dadurch könne es gelingen den zentrifugalen Kräften zentripedale entgegenzusetzen. Die EU müsse fähig werden, in der Außen- und Sicherheitspolitik einen eigenen Willen zu artikulieren und diesen geltend zu machen. Sodann müsse Europa in der Lage sein, die europäischen Peripherien zu pazifizieren.
Münkler hat mit seiner Analyse zweifellos recht. Doch wird sein Ruf gehört? Sosehr die Europäer willens waren, einen gemeinsamen Wirtschafts- und Währungsraum ohne Binnengrenzen zu schaffen, so sehr blieben sie verteidigungspolitisch Zwerge. In diesem Kernbereich staatlicher Souveränität gab es keine nennenswerten Fortschritte der Integration. Man hat sich ja noch nicht einmal getraut, die deutsch-französische Brigade - dieses 1989 so hoffnungsvoll gestartete Symbol einer europäischen militärischen Zusammenarbeit - unter einem gemeinsamen Mandat in den Einsatz nach Mali zu schicken. Und der Ukrainekrieg hat an diesem Befund nichts geändert. 450 Millionen EU-Europäer benötigen amerikanischen Beistand, um der Ukraine einige Dutzend Kampfpanzer zu liefern. Eine deutlichere Aussage über den Zustand der sicherheitspolitischen Souveränität Europas lässt sich kaum machen.
Nach der Lektüre dieses Sammelbandes drängt sich der Eindruck auf, dass die Verschiedenheit der Kulturen und historischen Erfahrungen eine sicherheitspolitisch handlungsstarke Europäische Union nicht zulassen. Auch andere historische Gebilde erwiesen sich aufgrund der Vielfalt ihrer Identitäten den Herausforderungen ihrer Zeit nicht gewachsen: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation fand keine Antwort auf die Französische Revolution und wurde von Napoleon zur Seite gefegt. Der Deutsche Bund erlag Preußen. Niemand kann in die Zukunft schauen, aber dass die Europäische Union die Lektionen berücksichtigt, die in diesem Band aufgezeigt werden, ist mehr als unwahrscheinlich. Vermutlich, weil wir Europäer so sind, wie wir sind. SÖNKE NEITZEL
Johann Frank / Johannes Berchtold (Herausgeber): Fundamente von Freiheit und Sicherheit in Europa.
Duncker & Humblot, Berlin 2023. 384 S., 34,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main