Henry Neff verspürt trotz seiner jugendlichen vierundzwanzig Jahre keine Lust, auf der Karriereleiter nach oben zu kommen. Attraktive Angebote schlägt er aus und sucht stattdessen Unterschlupf im Fundbüro eines Hauptbahnhofs. "Mir genügt's, da zu bleiben, wo ich bin", ist sein Motto, und schon bald gewinnt er Gefallen an seinem neuen Arbeitsplatz, der reich an Kuriositäten und absonderlichen Vorkommnissen ist.Jeder Tag beschert ihm Begegnungen mit Menschen, die die unglaublichsten Dinge verlieren und liegen lassen. Mal vermisst ein Messerwerfer sein Handwerkszeug, mal tauchen im Zug zurückgelassene Liegestühle auf, und ein andermal wendet sich eine Schauspielerin hilfesuchend an Henry, weil sie ihr Textbuch nicht mehr findet. Um den "Besitznachweis" zu führen, fordert Henry sie mit dem ihm eigenen Charme auf, Passagen aus dem Theaterstück im Fundbüro zu rezitieren.
Siegfried Lenz' warmherziger Humor lässt die farbige Szenerie eines unvergleichlichen Schauplatzes vor die Leser tret
Siegfried Lenz' warmherziger Humor lässt die farbige Szenerie eines unvergleichlichen Schauplatzes vor die Leser tret
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.05.2003Fundbüro
Der neue Roman von Siegfried Lenz als Vorabdruck in der F.A.Z.
Wer sich das Fundbüro als Hort der Hoffnung, als letzte Rettung der vom Verlust Niedergedrückten und als Ort des wiedergefundenen Glücks vorstellt, wird im neuen Roman von Siegfried Lenz eines Besseren belehrt. Das Fundbüro, in das Harry Neff versetzt wird, gemahnt denn jungen Mann zunächst stark an einen Beichtstuhl: "Nirgendwo sonst gibt es einen Ort, wo Sie soviel Zerknirschung erleben, soviel Bangen und Selbstanklagen, na ja, Sie werden es ja erfahren." Mit diesen Worten empfängt Hannes Harms, Leiter des Fundbüros bei der Eisenbahn, seinen neuen Mitarbeiter. Neff, vierundzwanzig, das schwarze Schaf einer Familie, die seit Generationen das beste Porzellangeschäft in der Stadt besitzt, war Zugbegleiter, bevor er sich versetzen ließ. Zur Verwunderung seiner neuen Kollegen zeigt er sich zufrieden mit seiner neuen Aufgabe. Denn Neffs Ehrgeiz hält sich in Grenzen, am beruflichen Aufstieg ist er nicht interessiert, wie er ohnehin nicht viel von "Klimmzügen" hält. Die gutgemeinte Mahnung des Chefs, er solle nicht den Rest seines Lebens auf dem Abstellgleis verbringen, schlägt er in den Wind.
Neff ist ein Leichtfuß. Mit dem Kollegen Bußmann trinkt er Schnaps hinter Regalen, der kaum älteren Paula Blohm, dem "Zentrum des Fundbüros", macht er schöne Augen und den nicht ganz ernstgemeinten Vorschlag, mit einer größeren Geldsumme die plötzlich im Fundamt auftaucht, durchzubrennen: Tahiti, wenn auch nur für zwei Wochen. Als ein Artist seine Wurfmesser, die er im Zug vergessen hatte, zurückverlangt, läßt Neff sich den obligaten Eigentumsnachweis der Fundsache auf ungewöhnliche Weise vorlegen: Er stellt sich vor eine Holzwand und läßt den Messerwerfer seine Kunstfertigkeit mit einigen Würfen unter Beweis stellen.
Weil Neff nicht einmal die fundamentale Philosophie des Fundamtes anerkennen will, muß Harms endgültig an dem neuen Mitarbeiter verzweifeln. Denn daß nicht jedes Ding ohne weiteres ersetzbar und jeder Verlust binnen kurzem zu verschmerzen sein darf, ist nun einmal die Existenzbedingung der Institution, die Neff aufgenommen hat und die nun überdies von außen bedroht ist. Denn die Bahn steht vor einer ihrer gefürchteten Strukturreformen, fünfzigtausend Stellen, so wird gemunkelt, sollten gestrichen werden, und schon taucht eine Art Gutachter im Fundbüro auf, der die kleine Belegschaft um ihre Arbeitsplätze fürchten läßt.
Zwischen Schirmen und Büchern, die bei den regelmäßig durchgeführten Auktionen nicht abgeholter Fundsachen nur im Dutzend versteigert werden, zwischen Reisetaschen und Rucksäcken gehen die Tage dahin, und Neff geht allen weiterreichenden Gedanken aus dem Weg. Die seltsamen Dinge, die um ihn herum geschehen, nimmt er zunächst kaum wahr. Woher kommt die Puppe, in deren Bauch zwölftausend Mark versteckt sind. Wer ist der gutgekleidete Mann, der seinen Aktenkoffer zunächst auf dem Bahngleis stehenläßt und später aus dem anfahrenden Zug wirft? Was hat es mit dem seltsamen Inhalt des Koffers auf sich, und was planen die vermummten Motorradfahrer, die so bedrohlich um Neffs Haus donnern und schließlich seinen neuen Freund, den baschkirischen Mathematiker Fedor, attackieren?
Das Fundbüro, das dem neuen Buch des Autors der "Deutschstunde" und von "Arnes Nachlaß" seinen Titel gab, ist nicht so geheuer, wie es zunächst den Anschein hat. Heute beginnen wir mit dem Vorabdruck des neuen Romans von Siegfried Lenz.
HUBERT SPIEGEL
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der neue Roman von Siegfried Lenz als Vorabdruck in der F.A.Z.
Wer sich das Fundbüro als Hort der Hoffnung, als letzte Rettung der vom Verlust Niedergedrückten und als Ort des wiedergefundenen Glücks vorstellt, wird im neuen Roman von Siegfried Lenz eines Besseren belehrt. Das Fundbüro, in das Harry Neff versetzt wird, gemahnt denn jungen Mann zunächst stark an einen Beichtstuhl: "Nirgendwo sonst gibt es einen Ort, wo Sie soviel Zerknirschung erleben, soviel Bangen und Selbstanklagen, na ja, Sie werden es ja erfahren." Mit diesen Worten empfängt Hannes Harms, Leiter des Fundbüros bei der Eisenbahn, seinen neuen Mitarbeiter. Neff, vierundzwanzig, das schwarze Schaf einer Familie, die seit Generationen das beste Porzellangeschäft in der Stadt besitzt, war Zugbegleiter, bevor er sich versetzen ließ. Zur Verwunderung seiner neuen Kollegen zeigt er sich zufrieden mit seiner neuen Aufgabe. Denn Neffs Ehrgeiz hält sich in Grenzen, am beruflichen Aufstieg ist er nicht interessiert, wie er ohnehin nicht viel von "Klimmzügen" hält. Die gutgemeinte Mahnung des Chefs, er solle nicht den Rest seines Lebens auf dem Abstellgleis verbringen, schlägt er in den Wind.
Neff ist ein Leichtfuß. Mit dem Kollegen Bußmann trinkt er Schnaps hinter Regalen, der kaum älteren Paula Blohm, dem "Zentrum des Fundbüros", macht er schöne Augen und den nicht ganz ernstgemeinten Vorschlag, mit einer größeren Geldsumme die plötzlich im Fundamt auftaucht, durchzubrennen: Tahiti, wenn auch nur für zwei Wochen. Als ein Artist seine Wurfmesser, die er im Zug vergessen hatte, zurückverlangt, läßt Neff sich den obligaten Eigentumsnachweis der Fundsache auf ungewöhnliche Weise vorlegen: Er stellt sich vor eine Holzwand und läßt den Messerwerfer seine Kunstfertigkeit mit einigen Würfen unter Beweis stellen.
Weil Neff nicht einmal die fundamentale Philosophie des Fundamtes anerkennen will, muß Harms endgültig an dem neuen Mitarbeiter verzweifeln. Denn daß nicht jedes Ding ohne weiteres ersetzbar und jeder Verlust binnen kurzem zu verschmerzen sein darf, ist nun einmal die Existenzbedingung der Institution, die Neff aufgenommen hat und die nun überdies von außen bedroht ist. Denn die Bahn steht vor einer ihrer gefürchteten Strukturreformen, fünfzigtausend Stellen, so wird gemunkelt, sollten gestrichen werden, und schon taucht eine Art Gutachter im Fundbüro auf, der die kleine Belegschaft um ihre Arbeitsplätze fürchten läßt.
Zwischen Schirmen und Büchern, die bei den regelmäßig durchgeführten Auktionen nicht abgeholter Fundsachen nur im Dutzend versteigert werden, zwischen Reisetaschen und Rucksäcken gehen die Tage dahin, und Neff geht allen weiterreichenden Gedanken aus dem Weg. Die seltsamen Dinge, die um ihn herum geschehen, nimmt er zunächst kaum wahr. Woher kommt die Puppe, in deren Bauch zwölftausend Mark versteckt sind. Wer ist der gutgekleidete Mann, der seinen Aktenkoffer zunächst auf dem Bahngleis stehenläßt und später aus dem anfahrenden Zug wirft? Was hat es mit dem seltsamen Inhalt des Koffers auf sich, und was planen die vermummten Motorradfahrer, die so bedrohlich um Neffs Haus donnern und schließlich seinen neuen Freund, den baschkirischen Mathematiker Fedor, attackieren?
Das Fundbüro, das dem neuen Buch des Autors der "Deutschstunde" und von "Arnes Nachlaß" seinen Titel gab, ist nicht so geheuer, wie es zunächst den Anschein hat. Heute beginnen wir mit dem Vorabdruck des neuen Romans von Siegfried Lenz.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Der neue Lenz-Roman ist ein dramatisches, gut erzähltes Buch, findet Rezensent Kurt Flasch, der eigenem Bekunden zufolge außerdem durch rasche Handlungsumschwünge und realistische Einlagen gefesselt wurde. Doch dies Lob ist schnell relativiert: denn zusehends hat das "Papierene, das Lehrhafte" der Romanfiguren dem Rezensenten das Lesen erschwert, bis er schließlich zu dem Ergebnis kommt, dass ihnen nicht nur "psychologische Vertiefung", sondern das Leben fehlt. Besonders Protagonist Henry sei eine "Demonstrationsfigur", klagt Flasch. Aber auch andere Figuren des Romans halten dem Rezensenten zufolge ein Plakat hoch und geben eine Sentenz von sich, am liebsten eine "politische Maxime". Einen "Hauch poetischen Zaubers" freilich legt Lenz nach Ansicht des Rezensenten über den Roman, weil er einen der Protagonisten in der Sprache der Herder-Zeit reden lasse. Doch dann mindere Lenz den Wert dieser Erfindung, indem er als Erzähler selbst in diese Diktion falle. Das Humanitätspathos, das eben noch die fortlaufende Barbarisierung unserer Zeit für den Rezensenten hörbar machte, erscheint ihm in diesen Momenten als "forcierte Besinnlichkeit".
© Perlentaucher Medien GmbH
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