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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.05.1998

Die Akademie des Fotografen
Verfrühte Nachrufe: Jeff Wall über das zähe Leben der Bilder

Kaum ein zeitgenössischer Fotograf hat die Möglichkeiten der computergestützten Bildproduktion so früh und entschieden genutzt wie Jeff Wall. Zugleich greift der Kanadier konsequent auf Vorbilder aus der Kunstgeschichte zurück, um sich der Verbindlichkeit seiner Bildsprache zu vergewissern. Wall bedient sich strahlender Leuchtkästen mit farbigen Cibachromen, wie sie aus der Werbung bekannt sind. Mit seinen Sujets spielt er noch einmal die gesamte Palette der historischen Gattungen durch: Landschaft, Interieur, Stilleben, Porträt, Genre, Historienbild, Schlachtenepos. Szenen aus dem urbanen Alltag schildern soziale Konflikte, Einsamkeit, Rassendiskriminierung, Gewalt, Krieg.

Typisch für den komplexen Begründungszusammenhang, mit dem Wall sein Werk umgibt, ist seine Äußerung aus einem im Jahre 1990 geführten Gespräch: "Ich denke, heute ist jeder Künstler seine eigene Akademie geworden." In den Kommentaren zu Künstlern und den Interviews zum eigenen Werk aus den Jahren 1981 bis 1994, die Gregor Stemmrich unter dem Titel "Szenarien im Bildraum der Wirklichkeit" zusammengefaßt hat, legt Wall seine eigene, von Hegel inspirierte Akademie offen. Der promovierte Kunsthistoriker, der an der Universität Vancouver lehrt, ist aus der Generation und der Geisteshaltung der Concept-art hervorgegangen. An ihr faszinierte ihn der reflektierte, ironische und spröde Umgang mit der Fotografie und dem Bildjournalismus, wie sie sich in den zwanziger und dreißiger Jahren als künstlerischer Stil etabliert hatten. Die Konzeptkunst, so Wall, habe die Fotografie bewußt "amateurisiert" und damit Kritik an Pop und Minimal-art erhoben, die damals die Kunstwelt beherrschten.

Wall sieht sich durchaus der gedanklichen Strenge und Klarheit der Konzeptkunst verpflichtet. Aber er zieht daraus eigene Konsequenzen. Auf das Fiktionale, Imaginäre und Gestellte, das in der Fotografie von Anfang an unterbelichtet geblieben sei, will er nicht verzichten. In diskursiven und sinnlich üppigen Bildern verbindet er vielmehr das Theatralische und den Geist der Kritik.

In der Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts interessieren Wall diejenigen Positionen, in denen sich Bildmacht und gesellschaftliche Kritik durchdringen. Folgerichtig nennt er als Leitgestirn und Vorbild den "Maler des modernen Lebens": Edouard Manet. Hier erkennt er bereits jene "klassische Formulierung der Entfremdung", die ihn selbst nachhaltig beschäftigt. Von Manets Spätwerk "Un Bar aux Folies-Bergère" schuf Wall als junger Künstler ein Remake. Um so überraschender, daß er es in seinem Manet-Essay von 1984 nicht erwähnt. Denn dieses Bild bestätigt wie kein anderes Walls Pointe: Manet habe die Perspektive, das Heiligtum der Malerei seit der Renaissance, bewußt in die Krise gestürzt, seine Figuren "dekonstruiert" und einen "fragmentarischen Menschentyp" dargestellt.

Einen besonderen Stellenwert nimmt für Wall das Historienbild im zwanzigsten Jahrhundert ein. Entgegen landläufiger Meinung sei es niemals untergegangen; es habe nur die Medien gewechselt und sei in die Reportagefotografie und den Film eingegangen, als die Malerei den Weg in die Gegenstandslosigkeit und die Monochromie einschlug. Diese beiden denkbar heterogenen Stränge - Bildjournalismus und monochrome Malerei - liefen in den frühen sechziger Jahren aufeinander zu und trafen sich an einem überraschenden Punkt: der Synthese von Malerei und Fotografie als Weichenstellung für Walls Werk. In Warhols "Desaster"-Serie, On Kawaras "Today Paintings" und, in den späten achtziger Jahren, in Gerhard Richters Stammheim-Zyklus zeige sich der grundsätzliche Charakter des Historienbildes: Die Künstler reagierten auf die Gegenwart, nicht auf die Vergangenheit.

Seinen eigenen Eintritt in die Kunstgeschichte lokalisiert Wall an dem Zeitpunkt, als die Konzeptkunst daran scheiterte, das Bildliche und Visuelle als Grundlage der Kunst außer Kraft zu setzen. Indem diese Revolution mißlungen sei, habe sich das "westliche" Bildkonzept wieder als zentrale Kategorie behauptet. "Der Photokonzeptualismus war insofern der letzte Moment in der Prähistorie der Photographie-als-Kunst." In Walls Szenarien im Bildraum der Wirklichkeit gaben Purismus, Kritik und Skepsis die Anstöße für die Pracht und Herrlichkeit der Bilder. Auch dies ist einer jener Widersprüche in der Kunst, in denen Wall die moderne Form des Schönen sieht. GEORG IMDAHL

Jeff Wall: "Szenarien im Bildraum der Wirklichkeit. Essays und Interviews". Herausgegeben von Gregor Stemmrich. Verlag der Kunst, Amsterdam und Dresden 1997. 463 S. geb., 28,- DM.

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