Der Liberalismus ist in Verruf geraten. Oft wird er nur noch als Elitenattitüde wahrgenommen, als exklusive Kultur urbaner Globalisierungsgewinner. Wie konnte es so weit kommen? War der Liberalismus schon immer eine Sache arroganter, im Zweifelsfall heuchlerischer Moralisierer?
Jan-Werner Müller zeigt, wie und warum sich solche Vorstellungen nach dem Ende des Kalten Krieges entgegen allen Erwartungen liberaler Triumphalisten durchsetzten. Vor allem aber formuliert er auf den Spuren der in Deutschland immer noch weitgehend unbekannten Denkerin Judith Shklar einen Liberalismus, der sich an der Vorstellung eines Lebens ohne Furcht und Abhängigkeiten orientiert. Damit wird es möglich, sowohl Antidiskriminierunsgpolitik als auch soziale Sicherung neu zu begründen - anstatt sie immer wieder unproduktiv gegeneinander auszuspielen.
Jan-Werner Müller zeigt, wie und warum sich solche Vorstellungen nach dem Ende des Kalten Krieges entgegen allen Erwartungen liberaler Triumphalisten durchsetzten. Vor allem aber formuliert er auf den Spuren der in Deutschland immer noch weitgehend unbekannten Denkerin Judith Shklar einen Liberalismus, der sich an der Vorstellung eines Lebens ohne Furcht und Abhängigkeiten orientiert. Damit wird es möglich, sowohl Antidiskriminierunsgpolitik als auch soziale Sicherung neu zu begründen - anstatt sie immer wieder unproduktiv gegeneinander auszuspielen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.11.2019Eine Politik der richtigen Haltung
Jan-Werner Müller will zentrale Motive liberalen Denkens neu beleben
Wer heute noch oder wieder der Vorstellung anhängt, eine politische Ideologie könnte am Zustand der Gegenwart schuld sein, hat die Wahl zwischen Populismus und Liberalismus. Beide reden so viel und so gerne übereinander, dass es schwerfällt, sie noch anders als in den Begriffen des Gegners zu denken. Nicht nur der Populismus wird meistens von sogenannten liberalen Eliten definiert, auch das Bild des Liberalismus bestimmt die Liberalismuskritik: Er gilt bald als universalistischer Überbau des entfesselten Klassenkampfes der Globalisierung, bald als freundliche Bemäntelung der unvollkommenen Gegenwart (der Fortschritt kommt ja noch) und bald als identitätsseliger Firlefanz im Lebensstil der urbanen Anywheres: Liberale sind die, die dabei sind.
Der an der Universität Princeton lehrende Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller, der eben einen Ruf auf den Lehrstuhl von Herfried Münkler an der Berliner Humboldt-Universität abgelehnt hat, ist in den letzten Jahren mit einer liberalen Kritik des Populismus hervorgetreten, wonach das Problem populistischer Politik weniger in ihren Zielen als in ihrem Anspruch besteht, das wahre Volk allein zu repräsentieren. Populismus ist der rhetorische Ausschluss von Pluralität. Nun hat er einen Essay vorgelegt, der einen Begriff des Liberalismus entwickelt, der diese Kritik trägt und weiterdenkt. Die größte Stärke des Buches besteht sicher darin, dass sein Autor den alten Anspruch des Liberalismus, im Gegensatz zu Sozialismus und Konservativismus gerade keine Ideologie zu sein, nicht ironisch belächelt, sondern ausgesprochen erst nimmt, ja eigentlich zum Kern des liberalen Projekts erklärt. Was aber keine Ideologie ist, kann auch nicht die Form einer geschlossenen Theorie annehmen, sondern bleibt bewusst eine politische Haltung, eine Art, Fragen zu stellen.
Ausgangspunkt von Müllers Arguments ist die politische Erfahrung von Furcht, Einschüchterung und Grausamkeit. Es ist die Frage liberaler Politik überhaupt: Sind Freiheit und Furcht, wie bei Thomas Hobbes, ursprünglich identisch? Dann kommt es auf starke Institutionen an, die die Freiheit zivilisieren und dadurch von der Furcht trennen. Oder kommt die Furcht nur ins Spiel, wenn die Einzelnen in ihrem "Selbstvervollkommnungsliberalismus" ausgebremst werden? Oder kann schließlich nur liberal sein, wer keine Furcht zu haben braucht, weshalb sich der Liberalismus historisch gut mit ungleichen Marktchancen und sozial exklusiven Parlamenten arrangieren konnte? Furcht ist für Liberale allemal etwas anderes als Heideggers Angst, nichts Existentzielles, sondern etwas Politisches: Man muss angeben können, wer sie zu haben braucht und warum.
Mit Banalitäten wie den bekannten Unterschieden zwischen europäischem Liberalismus und amerikanischen Liberals hält Müller sich nicht lange auf, sondern entfaltet eine fulminante, mit stupender Übersicht geschriebene internationale Ideengeschichte des neuzeitlichen Diskurses über die politische Freiheit, die man nach diesem Essay, gerade was die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts betrifft, gerne noch einmal in einer gelehrten Langform läse. Seine Grundthese, wonach der Weg des Liberalismus in den westlichen Staaten nach dem Ende des Kalten Krieges maßgeblich von den sehr unterschiedlichen theoretisch-politischen Häutungen zuvor abhing, erlaubt es Müller, zahlreiche Themenfelder der Neuorientierung liberalen Denkens zu streifen und miteinander zu verknüpfen: den Umgang mit rechtspopulistischen Parteien, die Rechtsstaatlichkeitskrise in Osteuropa, die Geschlechterfrage oder die Redefreiheit an Universitäten.
Immer wieder zeigt Müller, wie fragwürdig das landläufige Bild von der Entwicklung liberalen Denkens im zwanzigsten Jahrhundert ist: Weder hält die Behauptung, Francis Fukuyama habe 1990 einfach den endgültigen Sieg des Liberalismus verkündet, einer Lektüre seines berühmten Buches stand, noch kann die Erzählung von der triumphalen liberalen Selbstgewissheit nach 1990 ohne weiteres stimmen: Gerade damals begann mit der Wiederkehr des Nationalismus auf dem Balkan und in Osteuropa die antiliberale Politik der Gegenwart.
Mit der amerikanischen Politologin Judith Shklar will Müller liberales Denken noch einmal von seinem stärksten Moment her neu erfinden: von der Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus des zwanzigsten Jahrhunderts. Er entwirft eine Politik der Furchtlosigkeit, deren wichtigste Regel nicht die rechtsstaatliche Freiheitsgewähr, sondern die Verhinderung von Grausamkeit zwischen Menschen ist. Dazu müsse man denen, die in Furcht leben, zunächst einmal zuhören, ihre Erfahrungen politisch relevant machen. Kitsch? Nicht unbedingt, denn Müllers Argument hat ein klares Ziel: Er will die eingeübte Allianz zwischen liberaler Theorie und einer funktionalen Rechtfertigung der Herrschaft entpolitisierter Institutionen in Frage stellen und denen, die aus einer Position der Schwäche heraus auf der Relevanz von Politik bestehen, eine Stimme geben. Das sei, Müller verwendet viel Mühe auf diese Abgrenzung, etwas anderes als Identitätspolitik: "Die Feststellung von Furcht ist erst einmal ein Anhaltspunkt, sie ist noch kein Argument."
Den Namen Sozialliberalismus, auf den dieses Kind hört, nennt Müller nur nebenbei, doch es ist natürlich auch und vor allem die theoretische wie praktische Leerstelle der sozialdemokratischen Politik, auf die Müllers Essay zielt. Die Transnationalisierung sozialer Konflikte macht die Opfer einerseits sichtbar, gerade das aber schürt die Furcht, die keinen Adressaten mehr hat. Schon Hobbes kannte das Problem, dass die Furcht den Blickt lenkt: Die vielen Individuen, die in dem berühmten Titelkupfer des Leviathan von 1651 den Kettenpanzer des Staates bilden, haben ihre Blicke zum Kopf des Staates erhoben. Das befriedete Land, das zu ihren Füßen liegt, sehen sie nicht.
FLORIAN MEINEL
Jan-Werner Müller: "Furcht und Freiheit". Für einen anderen Liberalismus.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 170 S., br., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jan-Werner Müller will zentrale Motive liberalen Denkens neu beleben
Wer heute noch oder wieder der Vorstellung anhängt, eine politische Ideologie könnte am Zustand der Gegenwart schuld sein, hat die Wahl zwischen Populismus und Liberalismus. Beide reden so viel und so gerne übereinander, dass es schwerfällt, sie noch anders als in den Begriffen des Gegners zu denken. Nicht nur der Populismus wird meistens von sogenannten liberalen Eliten definiert, auch das Bild des Liberalismus bestimmt die Liberalismuskritik: Er gilt bald als universalistischer Überbau des entfesselten Klassenkampfes der Globalisierung, bald als freundliche Bemäntelung der unvollkommenen Gegenwart (der Fortschritt kommt ja noch) und bald als identitätsseliger Firlefanz im Lebensstil der urbanen Anywheres: Liberale sind die, die dabei sind.
Der an der Universität Princeton lehrende Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller, der eben einen Ruf auf den Lehrstuhl von Herfried Münkler an der Berliner Humboldt-Universität abgelehnt hat, ist in den letzten Jahren mit einer liberalen Kritik des Populismus hervorgetreten, wonach das Problem populistischer Politik weniger in ihren Zielen als in ihrem Anspruch besteht, das wahre Volk allein zu repräsentieren. Populismus ist der rhetorische Ausschluss von Pluralität. Nun hat er einen Essay vorgelegt, der einen Begriff des Liberalismus entwickelt, der diese Kritik trägt und weiterdenkt. Die größte Stärke des Buches besteht sicher darin, dass sein Autor den alten Anspruch des Liberalismus, im Gegensatz zu Sozialismus und Konservativismus gerade keine Ideologie zu sein, nicht ironisch belächelt, sondern ausgesprochen erst nimmt, ja eigentlich zum Kern des liberalen Projekts erklärt. Was aber keine Ideologie ist, kann auch nicht die Form einer geschlossenen Theorie annehmen, sondern bleibt bewusst eine politische Haltung, eine Art, Fragen zu stellen.
Ausgangspunkt von Müllers Arguments ist die politische Erfahrung von Furcht, Einschüchterung und Grausamkeit. Es ist die Frage liberaler Politik überhaupt: Sind Freiheit und Furcht, wie bei Thomas Hobbes, ursprünglich identisch? Dann kommt es auf starke Institutionen an, die die Freiheit zivilisieren und dadurch von der Furcht trennen. Oder kommt die Furcht nur ins Spiel, wenn die Einzelnen in ihrem "Selbstvervollkommnungsliberalismus" ausgebremst werden? Oder kann schließlich nur liberal sein, wer keine Furcht zu haben braucht, weshalb sich der Liberalismus historisch gut mit ungleichen Marktchancen und sozial exklusiven Parlamenten arrangieren konnte? Furcht ist für Liberale allemal etwas anderes als Heideggers Angst, nichts Existentzielles, sondern etwas Politisches: Man muss angeben können, wer sie zu haben braucht und warum.
Mit Banalitäten wie den bekannten Unterschieden zwischen europäischem Liberalismus und amerikanischen Liberals hält Müller sich nicht lange auf, sondern entfaltet eine fulminante, mit stupender Übersicht geschriebene internationale Ideengeschichte des neuzeitlichen Diskurses über die politische Freiheit, die man nach diesem Essay, gerade was die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts betrifft, gerne noch einmal in einer gelehrten Langform läse. Seine Grundthese, wonach der Weg des Liberalismus in den westlichen Staaten nach dem Ende des Kalten Krieges maßgeblich von den sehr unterschiedlichen theoretisch-politischen Häutungen zuvor abhing, erlaubt es Müller, zahlreiche Themenfelder der Neuorientierung liberalen Denkens zu streifen und miteinander zu verknüpfen: den Umgang mit rechtspopulistischen Parteien, die Rechtsstaatlichkeitskrise in Osteuropa, die Geschlechterfrage oder die Redefreiheit an Universitäten.
Immer wieder zeigt Müller, wie fragwürdig das landläufige Bild von der Entwicklung liberalen Denkens im zwanzigsten Jahrhundert ist: Weder hält die Behauptung, Francis Fukuyama habe 1990 einfach den endgültigen Sieg des Liberalismus verkündet, einer Lektüre seines berühmten Buches stand, noch kann die Erzählung von der triumphalen liberalen Selbstgewissheit nach 1990 ohne weiteres stimmen: Gerade damals begann mit der Wiederkehr des Nationalismus auf dem Balkan und in Osteuropa die antiliberale Politik der Gegenwart.
Mit der amerikanischen Politologin Judith Shklar will Müller liberales Denken noch einmal von seinem stärksten Moment her neu erfinden: von der Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus des zwanzigsten Jahrhunderts. Er entwirft eine Politik der Furchtlosigkeit, deren wichtigste Regel nicht die rechtsstaatliche Freiheitsgewähr, sondern die Verhinderung von Grausamkeit zwischen Menschen ist. Dazu müsse man denen, die in Furcht leben, zunächst einmal zuhören, ihre Erfahrungen politisch relevant machen. Kitsch? Nicht unbedingt, denn Müllers Argument hat ein klares Ziel: Er will die eingeübte Allianz zwischen liberaler Theorie und einer funktionalen Rechtfertigung der Herrschaft entpolitisierter Institutionen in Frage stellen und denen, die aus einer Position der Schwäche heraus auf der Relevanz von Politik bestehen, eine Stimme geben. Das sei, Müller verwendet viel Mühe auf diese Abgrenzung, etwas anderes als Identitätspolitik: "Die Feststellung von Furcht ist erst einmal ein Anhaltspunkt, sie ist noch kein Argument."
Den Namen Sozialliberalismus, auf den dieses Kind hört, nennt Müller nur nebenbei, doch es ist natürlich auch und vor allem die theoretische wie praktische Leerstelle der sozialdemokratischen Politik, auf die Müllers Essay zielt. Die Transnationalisierung sozialer Konflikte macht die Opfer einerseits sichtbar, gerade das aber schürt die Furcht, die keinen Adressaten mehr hat. Schon Hobbes kannte das Problem, dass die Furcht den Blickt lenkt: Die vielen Individuen, die in dem berühmten Titelkupfer des Leviathan von 1651 den Kettenpanzer des Staates bilden, haben ihre Blicke zum Kopf des Staates erhoben. Das befriedete Land, das zu ihren Füßen liegt, sehen sie nicht.
FLORIAN MEINEL
Jan-Werner Müller: "Furcht und Freiheit". Für einen anderen Liberalismus.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 170 S., br., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Antiliberalismus, so argumentiert Müller zu Recht, führt zu Antipluralismus und Abbau von Demokratie. Auf das Recht von Menschen, Rechte zu haben, wie es Hannah Arendt formuliert hat, können wir nicht verzichten, wenn wir selbstbestimmt und frei leben wollen. Insofern weist Müllers kluges Buch über seinen Rahmen eines Plädoyers für einen anderen Liberalismus hinaus auf eine politische Theorie, die unsere gemeinsame Verantwortung für die Gesellschaft wie für den Planeten in den Mittelpunkt stellt.« Michael Wildt Der Tagesspiegel 20191211