Nach einem recht oft hervorgekramten Zitat des Fußballers Adi Preißler ist alle Theorie grau, "maßgeblich ist auf dem Platz". Das stimmt natürlich nicht. Auf dem Platz ist das eine, aber der Fußball entfaltet seinen Zauber erst, wenn man von ihm erzählt. Von Torhütern, die erstaunlich viele Tore geschossen haben. Von Spielern, die den Verstand verloren haben. Von der genauen Zusammensetzung einer Stadionwurst, von den Zeiten, als mit Schädeln gespielt wurde und von der mittlerweile unüblichen Praxis der Ballgewinnung durch Enthauptung. Dabei ist die Anekdote dem Fußball ebenso nah wie die Liste, sei es eine Aufzählung rauchender Profis oder der Frauen, die George Best verlassen haben, seien es kirgisische Rekordmeister aus der Stadt Frunze oder die erstaunlichen Beinamen türkischer Klubs, oder sei es ein sehr genauer Überblick über die Mannschaftsbusse der Bundesligisten, inklusive PS-Zahl und vor allen Dingen Länge. Es gibt so viel wunderbares Wissen, das den Fußball umgibt; Wiss
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.09.2005Fußballschmankerl und Fußballschinkerl
Günther Kochs Sprechrhythmik reißt mit wie eine prächtige Laola-Welle. Doch trotz der feinen Stimmmelodie kann der allseits beliebte Radioreporter eines wirklich nicht: Lesen. Denn der Franke im Streifensakko ist Kommentator, und als solcher mag er bei der Buchvorstellung von „Fußball Unser” (SZ-Edition, 18 Euro) kaum einen Satz stehen lassen, ohne eine eigene Anekdote oder Pointe beizusteuern. Wie etwa vom „Nürnberger Präsidenten, dem ich ausdrücklich nicht den Rücktritt nahe gelegt habe, ihm jedoch empfohlen habe, endlich Ehrenpräsident zu werden”.
Das freilich stört überhaupt nicht, ist vielmehr ganz im Sinne der Autoren Christian Zaschke, Philipp von Keisenberg und Eduard Augustin, die am Donnerstagabend zur Lesung ins Haidhausener „Le Florida” eingeladen haben. Denn „Fußball Unser” ist gar kein Lesebuch. Sondern ein Sammelsurium, ein Skurrilitätenlexikon, ach was: es ist „wie eine Bibel”, sagt SZ-Sportreporter Zaschke und meint damit bestimmt nicht nur den gebetsbuchartigen, goldschwarzen Ledereinband. Zu dritt haben die Autoren uralte Fußballschmöker entstaubt und selbstverständlich auch Pressestellen, das Internet oder den FC Bayern-Hofkoch Alfons Schuhbeck bemüht, um herauszufinden: Der Tritt gegen das gegnerische Bein heißt in Wien „Schinkerl”, Rudi Gutendorf trainierte in 79 Lebensjahren 54 Fußballmannschaften (zuletzt Samoas Frauennationalteam) und der stets vor Spielen servierte FC Bayern-Salat enthält reichlich Bittersalate, aber nie müde machenden Feldsalat.
„Erschreckend” findet es Eduard Augustin, „wie viel Fußball sich bereits in meinem Gehirn festgesetzt hat”, vor Anbruch der Recherche habe er die allermeisten Geschichten bereits im Kopf gehabt. Derweil liest Günther Koch die Geschichte, wie ein HSV-Profi mit dem Zeh im Badewannenausguss hängen blieb und mehrere Wochen pausieren musste, darauf folgt die traurige Geschichte von den fünf Gehirnerschütterungen des Toni Schumacher. Oft lachen die fußballintellektuellen Zuhörer, die an diesem Abend bevorzugt Retrotrainingsjacken mit Aufschriften „Azzurri” oder „Libero” tragen, demonstrativ laut. Und wer sich nicht als Fußballidiot outen will, macht einfach mit.
Jan Grossarth
Fußball-Lesung mit Fußballstimme: Günther Koch im Le Florida. Foto: cath
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Günther Kochs Sprechrhythmik reißt mit wie eine prächtige Laola-Welle. Doch trotz der feinen Stimmmelodie kann der allseits beliebte Radioreporter eines wirklich nicht: Lesen. Denn der Franke im Streifensakko ist Kommentator, und als solcher mag er bei der Buchvorstellung von „Fußball Unser” (SZ-Edition, 18 Euro) kaum einen Satz stehen lassen, ohne eine eigene Anekdote oder Pointe beizusteuern. Wie etwa vom „Nürnberger Präsidenten, dem ich ausdrücklich nicht den Rücktritt nahe gelegt habe, ihm jedoch empfohlen habe, endlich Ehrenpräsident zu werden”.
Das freilich stört überhaupt nicht, ist vielmehr ganz im Sinne der Autoren Christian Zaschke, Philipp von Keisenberg und Eduard Augustin, die am Donnerstagabend zur Lesung ins Haidhausener „Le Florida” eingeladen haben. Denn „Fußball Unser” ist gar kein Lesebuch. Sondern ein Sammelsurium, ein Skurrilitätenlexikon, ach was: es ist „wie eine Bibel”, sagt SZ-Sportreporter Zaschke und meint damit bestimmt nicht nur den gebetsbuchartigen, goldschwarzen Ledereinband. Zu dritt haben die Autoren uralte Fußballschmöker entstaubt und selbstverständlich auch Pressestellen, das Internet oder den FC Bayern-Hofkoch Alfons Schuhbeck bemüht, um herauszufinden: Der Tritt gegen das gegnerische Bein heißt in Wien „Schinkerl”, Rudi Gutendorf trainierte in 79 Lebensjahren 54 Fußballmannschaften (zuletzt Samoas Frauennationalteam) und der stets vor Spielen servierte FC Bayern-Salat enthält reichlich Bittersalate, aber nie müde machenden Feldsalat.
„Erschreckend” findet es Eduard Augustin, „wie viel Fußball sich bereits in meinem Gehirn festgesetzt hat”, vor Anbruch der Recherche habe er die allermeisten Geschichten bereits im Kopf gehabt. Derweil liest Günther Koch die Geschichte, wie ein HSV-Profi mit dem Zeh im Badewannenausguss hängen blieb und mehrere Wochen pausieren musste, darauf folgt die traurige Geschichte von den fünf Gehirnerschütterungen des Toni Schumacher. Oft lachen die fußballintellektuellen Zuhörer, die an diesem Abend bevorzugt Retrotrainingsjacken mit Aufschriften „Azzurri” oder „Libero” tragen, demonstrativ laut. Und wer sich nicht als Fußballidiot outen will, macht einfach mit.
Jan Grossarth
Fußball-Lesung mit Fußballstimme: Günther Koch im Le Florida. Foto: cath
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.11.2005Bibeln für das Jahr der Götter
Schön, daß es in diesem Jahr so einfach ist, Weihnachtsgeschenke zu kaufen. Denn es ist eben das letzte Weihnachtsfest vor dem Jahr der Weltmeisterschaft, und man muß also thematisch schenken. Ganz klar. Das ergibt sich von selbst. Nächstes Jahr ist Fußball und sonst nichts, und den Fans unter den guten Freunden schenkt man Expertenwerke, Handbücher, Vertiefendes zum Thema. Und den anderen eher so ins Themenfeld Hineinführendes. Was gut aussieht, sich gut anfühlt, wenig voraussetzt und Interesse weckt. Oder einfach: sich gut liest.
Wie "Futebol" von Alex Bellos. Über "die brasilianische Kunst des Lebens", so heißt es im Untertitel und also über - Fußball. Alex Bellos arbeitete jahrelang als Korrespondent für den "Guardian" in Brasilien, kam als Fußballahnungsloser ins Land und verließ es als großer Lebens- und Spielexperte. Er hat Geschichten über Geschichten gesammelt, mit Spielerberatern, Agenten, Trainern, Präsidenten gesprochen, mit Fans und Priestern, Transvestiten, Schönheitsköniginnen und Politikern und erzählt die Geschichte des Landes als Fußball-Roman. Und weil er als Ahnungsloser das Land betrat, gerät er nie in Gefahr, ein Expertenbuch für Experten zu schreiben. Sondern als unglaublichen Brasilien-Roman für jeden. Ein Buch der Lebenskunst, der Genialitäten und des größten Unglücks.
Der traurige Dribbelkönig.
Allein die Geschichte des genialen Dribbelkönigs Garrincha, der mit so schiefen Beinen auf die Welt kam, daß Eltern und Verwandte schon damit rechneten, daß er nicht mal werde laufen können, und der dann trotz Verkrüppelung und gänzlich nicht-zielgerichteter Lebenslust zum besten brasilianischen Fußballspieler aller Zeiten wurde. Der mit seinen schiefen Beinen und tänzelnder Superselbstsicherheit jeden Gegner narrte, von Schiedsrichtern wegen zu langen Dribbelns schon vom Platz gestellt werden sollte und den Brasilianern 1958 im Spiel gegen die Sowjetunion die schönsten drei Minuten in der Fußballgeschichte ihres Landes schenkte. Der auch das WM-Finale von 1962 bestreiten durfte, obwohl er im Halbfinale von einem peruanischen Schiedsrichter vom Platz gestellt worden war, woraufhin der peruanische Staatspräsident beim Unparteiischen intervenierte und dieser Garrincha nicht belastete. Und dessen krumme Beine ihm am Ende zum Fluch wurden, als er kaum noch laufen konnte und ohne Geld und Glück, eine unglaubliche Familientragödie nach der anderen erleidend, schließlich im Alter von 49 Jahren, unerkannt, in einem brasilianischen Krankenhaus starb.
Bellos hat viele, viele Geschichten dieser Art gesammelt. Die meisten handeln vom Glück. Vom Glück des Fußballs, den unglaublichen Momenten, die nie wiederkehren. Heldenmomente. Am Ende trifft er den großen Fußballphilosophen, utopischen Sozialisten, Mittelfeldkönig und Kinderarzt Sokrates zum Gespräch über Weisheit, wahre Unabhängigkeit, die ewige Nummer zehn und die Zukunft des Spiels. Eine Art Wunder.
Soeben ist in der Edition "11-Freunde" der neue Sammelband "Fußballwunder" erschienen. "11 Freunde" kennen Sie ja sicher, ist ein monatlich erscheinendes, gutgelauntes Fußballmagazin aus Fan-Perspektive, das sich in letzter Zeit zunehmend professionalisiert. Reportagen aus aller Welt weiten den Blick, es gibt in jeder Ausgabe ein schönes Stadion-Poster, Fredi Bobic schreibt neuerdings eine schreckliche Kolumne, die Fotos sind oft sehr gut und anders, das Papier leider schlecht, es ist politisch, weltgewandt und unbedingt glaubwürdig. Allerdings ist es seit diesem Sommer eindeutig nur noch das zweitbeste Fußball-Magazin in Deutschland. (Wenn man das wöchentliche Standard-Werk "kicker" als selbstverständliche Grundlage von allem hier mal kurz beiseite läßt.) Denn seit dem Sommer gibt es "Rund", und "Rund" ist also so was von erfreulich und gut gemacht, daß es schon jetzt gar nicht mehr wegzudenken ist. Hier legt man Wert auf die Kunst des Interviews, auf kundig gestellte Fußball-Fachfragen, hier stehen Reportagen, die mit einem Aufwand betrieben werden, wie man ihn hierzulande in Fußballdingen fast noch nie unternahm, und Alltagsberichte aus dem Spieler-Leben. Große Kunst. Pablo Thiams Bericht über seine täglichen Reisen im ICE von Berlin nach Wolfsburg zum Training war zum Beispiel eines dieser nebensächlichen Glanzlichter. Es gibt absolute Experten-Rubriken, in denen auf kleinstem Raum Top-Auskenner von den aktuellen Entwicklungen in ihrem Bundesliga-Stammverein berichten, erstaunliche Statistiken und echten Fußball-Journalismus, was wöchentlich mehr auffällt, seit in der ARD-Sportschau Interviews überhaupt und grundsätzlich nur noch aus der Frage bestehen: "Wann werden Sie entlassen, Trainer?" oder: "Wann entlassen Sie den Trainer, Herr Präsident?" (nachdem die Frage nach Michael Ballacks Zukunft gestellt wurde, selbstverständlich).
Grönland gegen Tibet.
Aber halt!, das "Fußballwunder"-Buch. Davon sollte die Rede sein. Besteht aus kurzen Berichten von ebenjenen Wundern. Es sind meist die Standard-Wunder, die man sich in Erinnerung rufen kann (immerhin: jenes mit Nachnamen "von Bern" ist nicht dabei). Ein sehr schöner Bericht von Klaus Fischers 3:3 per Fallrückzieher gegen Frankreich oder auch die Geschichte des ersten Länderspiels der Nationalmannschaft Tibets. Gegen alle chinesischen Widerstände. Gegen Grönland. Ein echtes kleines Weltwunder. Endete 4:1 für Grönland. Aber auch nur, weil der Hälfte der Stamm-Tibeter kurzfristig doch das Visum verweigert wurde.
"Fußball unser" aus der SZ-Edition sieht aus wie ein Gebet- oder Kirchenliederbuch, schwarzes Scheinleder, goldene Prägung, goldener Seitenschnitt. Je nach Geschmack bißchen albern, blasphemisch oder toll. Die darin versammelten Statistiken jedenfalls sind großartig und absolut überflüssig und unverzichtbar. Die unnötigsten Verletzungen, alle Frauen, die George Best verlassen haben, die Weltfußballer des Jahres, die Dienstwagen der Spieler des FC Bayern München, die seltensten Sammelbilder der Panini-Alben seit der WM 1994. Ben Schotts Sammelsurium als Fußballwissensschatz. Großartig. Nur noch übertroffen von Christoph Biermanns Taschenbuch "Fast alles über Fußball". Das verzichtet auf Goldschnitt und Tamtam und hat einfach einen schwarz-weißen, erhabenen Fußball vorne auf dem Cover, kostet nur die Hälfte und ist ansonsten: beinahe identisch. Nach Schotts Riesen-Erfolg lag die Idee eines Fußball-Statistik-Buchs natürlich nahe, aber es ist schon erstaunlich, wie ähnlich sich die beiden Bücher sind. Für welches man sich entscheidet (und man muß sich für mindestens eines der beiden entscheiden) ist nur eine Geschmacksfrage.
Im Gegensatz zu den Porträt-Bildern Volker Schranks, von denen Sie hier auf dieser Seite zwei der besten sehen. Schrank hat für die Ausstellung "Rundleder-Welten" im Berliner Martin-Gropius-Bau die deutschen Weltmeister von 1974 noch einmal fotografiert. In den Trikots von damals, für den aktuellen Anlaß etwas weiter geschneidert. "Gesammelte Helden" hat er die Porträtreihe genannt. Und so hat man die Spieler von damals noch nie gesehen. Als Götter in Weiß und Grün. Mit grauem Haar und erstaunlichem Bauch. Entrückt in eine Ewigkeit, zu der für immer nur Weltmeister Zutritt haben werden. Franz Beckenbauer leuchtet als reiner weißer Engel aus dem Rahmen, und Horst-Dieter Höttges füllt das Bild als weiser buddhistischer Weltmeistergott ganz und gar aus. Es sind Lehr-Bilder über die Ewigkeit und das Alter, über entrückte Schönheit und Verehrung als Ironie und reine Wahrheit.
Dynamo Lüpertz.
"Wäre es nicht eine verwirklichte Utopie, wenn es ein ästhetisches Erleben gäbe, das von einer wahrhaft riesigen Zahl von Menschen geteilt würde", fragt der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht in einem Beitrag am Ende des Buches. Und die Antwort ist natürlich "Ja", und die Antwort ist natürlich "Fußball". Daß wir die Weltmeisterschaft im kommenden Jahr überhaupt in Deutschland feiern dürfen, haben wir alle, neben Beckenbauer, ja auch dem endgültigen Satire-Magazin "titanic" zu danken, das einem wankelmütigen Neuseeländer im entscheidenden Moment eine Kuckucksuhr versprach. Von dieser Geschichte berichtet Martin Sonneborn in seinem persönlichen Triumph-Buch "Ich tat es für mein Land".
Der einzige, so scheint es, der ihm und Beckenbauer überhaupt nicht danken möchte, ist der Dichter Durs Grünbein. Wunderbar, wie er sich für das WM-Kulturmagazin "Anstoß" mit dem Künstler und Fußball-Maniac Markus Lüpertz trifft, um kurz über sein persönliches Fußball-Trauma zu berichten, seinem Mitleid mit den geschundenen WM-Städten Ausdruck zu verleihen und dann ganz zu verstummen und nur noch Lüpertz schwärmen zu lassen. Von seinem Verein "Dynamo Lüpertz", dem Glück in jedem Stadion und dem kommenden Jahr.
Dem großen Fußballjahr.
VOLKER WEIDERMANN.
Eduard Augustin u.a.: "Fußball unser". SZ-Edition, 18 Euro.
Alex Bellos: "Futebol - Die brasilianische Kunst des Lebens". Gebunden: Edition Tiamat, 18 Euro. Taschenbuch: Fischer, 9,95 Euro.
Christoph Biermann: "Fast alles über Fußball". KiWi, 9,90 Euro.
Philipp Köster: "Fußballwunder". Edition 11 Freunde im Europa Verlag, 12,90 Euro.
Hans-Ulrich Gumbrecht: "Lob des Sports". Suhrkamp, 16,90 Euro.
Volker Schrank und Matthias Bullinger: "Gesammelte Helden". Edition Braus, 29,90 Euro.
Martin Sonneborn: "Ich tat es für mein Land". Bombus Verlag, 12,90 Euro.
"Anstoß" - Die Zeitschrift des Kunst- und Kulturprogramms der WM 2006. Pro Ausgabe 9,90 Euro.
Ein Jahresabonnement der Zeitschrift "11 Freunde" kostet 35 Euro.
Die Zeitschrift "Rund" kostet 33,60 Euro im Abonnement pro Jahr.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schön, daß es in diesem Jahr so einfach ist, Weihnachtsgeschenke zu kaufen. Denn es ist eben das letzte Weihnachtsfest vor dem Jahr der Weltmeisterschaft, und man muß also thematisch schenken. Ganz klar. Das ergibt sich von selbst. Nächstes Jahr ist Fußball und sonst nichts, und den Fans unter den guten Freunden schenkt man Expertenwerke, Handbücher, Vertiefendes zum Thema. Und den anderen eher so ins Themenfeld Hineinführendes. Was gut aussieht, sich gut anfühlt, wenig voraussetzt und Interesse weckt. Oder einfach: sich gut liest.
Wie "Futebol" von Alex Bellos. Über "die brasilianische Kunst des Lebens", so heißt es im Untertitel und also über - Fußball. Alex Bellos arbeitete jahrelang als Korrespondent für den "Guardian" in Brasilien, kam als Fußballahnungsloser ins Land und verließ es als großer Lebens- und Spielexperte. Er hat Geschichten über Geschichten gesammelt, mit Spielerberatern, Agenten, Trainern, Präsidenten gesprochen, mit Fans und Priestern, Transvestiten, Schönheitsköniginnen und Politikern und erzählt die Geschichte des Landes als Fußball-Roman. Und weil er als Ahnungsloser das Land betrat, gerät er nie in Gefahr, ein Expertenbuch für Experten zu schreiben. Sondern als unglaublichen Brasilien-Roman für jeden. Ein Buch der Lebenskunst, der Genialitäten und des größten Unglücks.
Der traurige Dribbelkönig.
Allein die Geschichte des genialen Dribbelkönigs Garrincha, der mit so schiefen Beinen auf die Welt kam, daß Eltern und Verwandte schon damit rechneten, daß er nicht mal werde laufen können, und der dann trotz Verkrüppelung und gänzlich nicht-zielgerichteter Lebenslust zum besten brasilianischen Fußballspieler aller Zeiten wurde. Der mit seinen schiefen Beinen und tänzelnder Superselbstsicherheit jeden Gegner narrte, von Schiedsrichtern wegen zu langen Dribbelns schon vom Platz gestellt werden sollte und den Brasilianern 1958 im Spiel gegen die Sowjetunion die schönsten drei Minuten in der Fußballgeschichte ihres Landes schenkte. Der auch das WM-Finale von 1962 bestreiten durfte, obwohl er im Halbfinale von einem peruanischen Schiedsrichter vom Platz gestellt worden war, woraufhin der peruanische Staatspräsident beim Unparteiischen intervenierte und dieser Garrincha nicht belastete. Und dessen krumme Beine ihm am Ende zum Fluch wurden, als er kaum noch laufen konnte und ohne Geld und Glück, eine unglaubliche Familientragödie nach der anderen erleidend, schließlich im Alter von 49 Jahren, unerkannt, in einem brasilianischen Krankenhaus starb.
Bellos hat viele, viele Geschichten dieser Art gesammelt. Die meisten handeln vom Glück. Vom Glück des Fußballs, den unglaublichen Momenten, die nie wiederkehren. Heldenmomente. Am Ende trifft er den großen Fußballphilosophen, utopischen Sozialisten, Mittelfeldkönig und Kinderarzt Sokrates zum Gespräch über Weisheit, wahre Unabhängigkeit, die ewige Nummer zehn und die Zukunft des Spiels. Eine Art Wunder.
Soeben ist in der Edition "11-Freunde" der neue Sammelband "Fußballwunder" erschienen. "11 Freunde" kennen Sie ja sicher, ist ein monatlich erscheinendes, gutgelauntes Fußballmagazin aus Fan-Perspektive, das sich in letzter Zeit zunehmend professionalisiert. Reportagen aus aller Welt weiten den Blick, es gibt in jeder Ausgabe ein schönes Stadion-Poster, Fredi Bobic schreibt neuerdings eine schreckliche Kolumne, die Fotos sind oft sehr gut und anders, das Papier leider schlecht, es ist politisch, weltgewandt und unbedingt glaubwürdig. Allerdings ist es seit diesem Sommer eindeutig nur noch das zweitbeste Fußball-Magazin in Deutschland. (Wenn man das wöchentliche Standard-Werk "kicker" als selbstverständliche Grundlage von allem hier mal kurz beiseite läßt.) Denn seit dem Sommer gibt es "Rund", und "Rund" ist also so was von erfreulich und gut gemacht, daß es schon jetzt gar nicht mehr wegzudenken ist. Hier legt man Wert auf die Kunst des Interviews, auf kundig gestellte Fußball-Fachfragen, hier stehen Reportagen, die mit einem Aufwand betrieben werden, wie man ihn hierzulande in Fußballdingen fast noch nie unternahm, und Alltagsberichte aus dem Spieler-Leben. Große Kunst. Pablo Thiams Bericht über seine täglichen Reisen im ICE von Berlin nach Wolfsburg zum Training war zum Beispiel eines dieser nebensächlichen Glanzlichter. Es gibt absolute Experten-Rubriken, in denen auf kleinstem Raum Top-Auskenner von den aktuellen Entwicklungen in ihrem Bundesliga-Stammverein berichten, erstaunliche Statistiken und echten Fußball-Journalismus, was wöchentlich mehr auffällt, seit in der ARD-Sportschau Interviews überhaupt und grundsätzlich nur noch aus der Frage bestehen: "Wann werden Sie entlassen, Trainer?" oder: "Wann entlassen Sie den Trainer, Herr Präsident?" (nachdem die Frage nach Michael Ballacks Zukunft gestellt wurde, selbstverständlich).
Grönland gegen Tibet.
Aber halt!, das "Fußballwunder"-Buch. Davon sollte die Rede sein. Besteht aus kurzen Berichten von ebenjenen Wundern. Es sind meist die Standard-Wunder, die man sich in Erinnerung rufen kann (immerhin: jenes mit Nachnamen "von Bern" ist nicht dabei). Ein sehr schöner Bericht von Klaus Fischers 3:3 per Fallrückzieher gegen Frankreich oder auch die Geschichte des ersten Länderspiels der Nationalmannschaft Tibets. Gegen alle chinesischen Widerstände. Gegen Grönland. Ein echtes kleines Weltwunder. Endete 4:1 für Grönland. Aber auch nur, weil der Hälfte der Stamm-Tibeter kurzfristig doch das Visum verweigert wurde.
"Fußball unser" aus der SZ-Edition sieht aus wie ein Gebet- oder Kirchenliederbuch, schwarzes Scheinleder, goldene Prägung, goldener Seitenschnitt. Je nach Geschmack bißchen albern, blasphemisch oder toll. Die darin versammelten Statistiken jedenfalls sind großartig und absolut überflüssig und unverzichtbar. Die unnötigsten Verletzungen, alle Frauen, die George Best verlassen haben, die Weltfußballer des Jahres, die Dienstwagen der Spieler des FC Bayern München, die seltensten Sammelbilder der Panini-Alben seit der WM 1994. Ben Schotts Sammelsurium als Fußballwissensschatz. Großartig. Nur noch übertroffen von Christoph Biermanns Taschenbuch "Fast alles über Fußball". Das verzichtet auf Goldschnitt und Tamtam und hat einfach einen schwarz-weißen, erhabenen Fußball vorne auf dem Cover, kostet nur die Hälfte und ist ansonsten: beinahe identisch. Nach Schotts Riesen-Erfolg lag die Idee eines Fußball-Statistik-Buchs natürlich nahe, aber es ist schon erstaunlich, wie ähnlich sich die beiden Bücher sind. Für welches man sich entscheidet (und man muß sich für mindestens eines der beiden entscheiden) ist nur eine Geschmacksfrage.
Im Gegensatz zu den Porträt-Bildern Volker Schranks, von denen Sie hier auf dieser Seite zwei der besten sehen. Schrank hat für die Ausstellung "Rundleder-Welten" im Berliner Martin-Gropius-Bau die deutschen Weltmeister von 1974 noch einmal fotografiert. In den Trikots von damals, für den aktuellen Anlaß etwas weiter geschneidert. "Gesammelte Helden" hat er die Porträtreihe genannt. Und so hat man die Spieler von damals noch nie gesehen. Als Götter in Weiß und Grün. Mit grauem Haar und erstaunlichem Bauch. Entrückt in eine Ewigkeit, zu der für immer nur Weltmeister Zutritt haben werden. Franz Beckenbauer leuchtet als reiner weißer Engel aus dem Rahmen, und Horst-Dieter Höttges füllt das Bild als weiser buddhistischer Weltmeistergott ganz und gar aus. Es sind Lehr-Bilder über die Ewigkeit und das Alter, über entrückte Schönheit und Verehrung als Ironie und reine Wahrheit.
Dynamo Lüpertz.
"Wäre es nicht eine verwirklichte Utopie, wenn es ein ästhetisches Erleben gäbe, das von einer wahrhaft riesigen Zahl von Menschen geteilt würde", fragt der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht in einem Beitrag am Ende des Buches. Und die Antwort ist natürlich "Ja", und die Antwort ist natürlich "Fußball". Daß wir die Weltmeisterschaft im kommenden Jahr überhaupt in Deutschland feiern dürfen, haben wir alle, neben Beckenbauer, ja auch dem endgültigen Satire-Magazin "titanic" zu danken, das einem wankelmütigen Neuseeländer im entscheidenden Moment eine Kuckucksuhr versprach. Von dieser Geschichte berichtet Martin Sonneborn in seinem persönlichen Triumph-Buch "Ich tat es für mein Land".
Der einzige, so scheint es, der ihm und Beckenbauer überhaupt nicht danken möchte, ist der Dichter Durs Grünbein. Wunderbar, wie er sich für das WM-Kulturmagazin "Anstoß" mit dem Künstler und Fußball-Maniac Markus Lüpertz trifft, um kurz über sein persönliches Fußball-Trauma zu berichten, seinem Mitleid mit den geschundenen WM-Städten Ausdruck zu verleihen und dann ganz zu verstummen und nur noch Lüpertz schwärmen zu lassen. Von seinem Verein "Dynamo Lüpertz", dem Glück in jedem Stadion und dem kommenden Jahr.
Dem großen Fußballjahr.
VOLKER WEIDERMANN.
Eduard Augustin u.a.: "Fußball unser". SZ-Edition, 18 Euro.
Alex Bellos: "Futebol - Die brasilianische Kunst des Lebens". Gebunden: Edition Tiamat, 18 Euro. Taschenbuch: Fischer, 9,95 Euro.
Christoph Biermann: "Fast alles über Fußball". KiWi, 9,90 Euro.
Philipp Köster: "Fußballwunder". Edition 11 Freunde im Europa Verlag, 12,90 Euro.
Hans-Ulrich Gumbrecht: "Lob des Sports". Suhrkamp, 16,90 Euro.
Volker Schrank und Matthias Bullinger: "Gesammelte Helden". Edition Braus, 29,90 Euro.
Martin Sonneborn: "Ich tat es für mein Land". Bombus Verlag, 12,90 Euro.
"Anstoß" - Die Zeitschrift des Kunst- und Kulturprogramms der WM 2006. Pro Ausgabe 9,90 Euro.
Ein Jahresabonnement der Zeitschrift "11 Freunde" kostet 35 Euro.
Die Zeitschrift "Rund" kostet 33,60 Euro im Abonnement pro Jahr.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main