Keine neue Nacherzählung, sondern eine Frage, nämlich die, ob es "1968" gegeben hat, ist Gegenstand dieses Essays. Natürlich hat es das Jahr 1968 gegeben. So wie auch die damit verknüpfte Studentenbewegung stattgefunden hat. Aber war "1968" wirklich der Umschlagpunkt, der eine verkrustete, unbewegliche Welt in eine offene Zukunft geführt hat? Jedenfalls ist der Mythos "1968" ein Erzählanlass, dem auf den Grund gegangen werden muss. Denn was für individuelle Biografien gilt - dass sie sich eingängiger erzählen lassen anhand eines kritischen, alles ändernden Ereignisses -, gilt auch für die Nacherzählung von gesellschaftlichen Entwicklungen: Wenn es einen Kairos gibt, den entscheidenden Moment, durch den das chronologische Nacheinander beeinflussbar ist, lässt sich - im Nachhinein - alles erklären. Da aber auch solche vermeintlichen Plötzlichkeiten nicht einfach vom Himmel fallen, sind auch sie erklärungsbedürftig. Zu klären ist, welche gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen und Veränderungen "1968" möglich gemacht haben. Ob "1968" Ursache oder Effekt von Veränderungen war. Und was davon geblieben ist.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.06.2018Was damals eigentlich geschah
Als das große Hinterfragen begann: Armin Nassehi seziert die Spuren von 1968 mit großem soziologischen Besteck. Im Erbe der Protestgeneration entdeckt er ein faszinierendes Paradox.
Es herrscht kein Mangel an Publikationen über die weltweite Protestbewegung, für die das Kürzel "1968" geprägt wurde. Da gibt es autobiographisch gefärbte Berichte von Zeitzeugen und beteiligten Protagonisten, es gibt historische Darstellungen und politische Streitschriften. Diese mehr oder weniger wissenschaftliche Aufarbeitung hat wenig daran geändert, dass die Ereignisse der Jahre zwischen dem Tod Benno Ohnesorgs im Juni 1967 und dem Sommer 1969 in Deutschland (in anderen Ländern wie Frankreich oder Amerika wäre die zeitliche Begrenzung anders zu ziehen) im öffentlichen Bewusstsein von Legenden durchsetzt bleiben und von Mythen überlagert werden.
Dabei ist längst widerlegt, dass die Protestbewegung die "bleierne" Restaurationszeit unter Adenauer beendet habe. Auch die These, 1968 habe ein Aufstand der Jungen gegen die in der Zeit des Nationalsozialismus aufgewachsenen Eltern stattgefunden, also ein politisch aufgeladener Generationenkonflikt, betrifft höchstens Einzelfälle, war aber kein dominantes Motiv. Reformbewegungen an den Hochschulen oder im Strafrecht hat es schon in den frühen Sechzigern gegeben, die Bildungsexpansion schritt voran: Allein die Zahl der Hochschulzugangsberechtigten verdoppelte sich zwischen 1960 und 1970 von sechs auf zwölf Prozent - die Proteste der Studenten waren sowohl Folge dieser Entwicklung als auch Motor ihrer weiteren Beschleunigung.
Das "Jubiläum" in diesem Jahr bot den Anlass für weitere Bücher zum Thema, und eine der interessanteren Abhandlungen ist Armin Nassehis Essay unter dem zunächst befremdlichen Titel "Gab es 1968?". Der in München lehrende, 1960 geborene Autor ist einer der produktivsten deutschen Soziologen; er gibt das "Kursbuch" heraus, das 1965 von Hans Magnus Enzensberger gegründet worden war und zu einem der wichtigen Publikations- und Selbstverständigungsorgane für die protestierende Generation wurde. Schon deshalb hat der Titel des Buches auch etwas Provozierendes, obwohl Nassehi, wie er selbst schreibt, gar kein politisches Urteil abgeben, sondern verstehen und erklären will, was damals "eigentlich" geschah.
Dazu holt er das große soziologische Besteck hervor, was die Lektüre des Buches, trotz aller Bemühung um Verständlichkeit, nicht immer einfach macht. Verkürzt gesagt, deutet Nassehi "1968" als "Ausdruck, als Effekt, als Resultante" eines Modernisierungsprozesses, der in der deutschen Gesellschaft (wie auch in anderen westlichen Industriestaaten) Inklusionsschübe auslöste, also mehr Menschen und neue Bevölkerungsschichten zur Teilhabe an öffentlichen Diskursen und zu politischem Engagement ertüchtigte. Dieser Modernisierungsprozess begann vor mehr als zwei Jahrhunderten und dauert bis heute an. Nach dem Krieg, in den fünfziger und sechziger Jahren, beschleunigte er sich, was alle wirtschaftlichen und sozialen Kennzahlen belegen.
Damit erschließt sich auch die Titelfrage des Buches. Natürlich gab es "1968" als Ereignis. Aber Nassehis Analyse deutet darauf hin, dass die Protestbewegung auch als bloße Begleiterscheinung eines umfassenden gesellschaftlichen Prozesses verstanden werden kann. Auf die Frage, ob sie überhaupt eine eigenständige Bedeutung hatte, bezieht sich der Untertitel des Buches: Es geht um die Spuren, die "1968" in der Gesellschaft hinterlassen hat. Nassehi geht dem in (West-)Deutschland nach, das nach dem Traditions- und Zivilisationsbruch der NS-Zeit innerlich weniger gefestigt war als andere Nationen; dennoch lassen sich seine Beobachtungen, wenigstens teilweise, auf andere Gesellschaften und Staaten übertragen, in denen es "1968" vergleichbare Protestbewegungen gab.
Die beiden großen Errungenschaften oder Fehlentwicklungen, je nach politischem Standpunkt, die Nassehi als Erbe der Protestbewegung aufführt, heißen Dauerreflexion und Dauermoralisierung. Der erste, von Helmut Schelsky entlehnte, Begriff besagt, dass Institutionen, Traditionen und bis dahin unbefragte Selbstverständlichkeiten der Lebensführung unter Begründungszwang gerieten und sich rechtfertigen mussten. Die Dauerreflexion in all ihren kommunikativen Formen (idealtypisch kodifiziert in Habermas' Formel vom herrschaftsfreien Diskurs) veränderte das kollektive Bewusstsein und wirkte damit auf die Gesellschaft ein. Weil den Idealen der linken Protestierer - mehr Freiheit, mehr Gleichberechtigung, mehr Gerechtigkeit und so fort - aus moralischer Sicht kaum zu widersprechen ist, ergibt sich dabei eine asymmetrische Argumentationslage: Wer im Namen hehrer Ideale spricht, neigt zu einer Dauermoralisierung, die sich gegen Argumente immunisiert, die "bloß" auf Erfahrungen beruhen, widerständige Realitäten ins Feld führen oder auf überlieferte Klugheitsregeln rekurrieren.
Gefördert wurde das noch dadurch, dass eine der Folgen von 1968 eine Akademisierung und Professionalisierung sozialer Betreuungsleistungen war, die sich zur regelrechten "Inklusionsindustrie" (Nassehi) entwickelte. Das war schon die Abkehr von "explizit" linken Ideen - also vom revolutionären Elan des harten Kerns der Studentenbewegung - hin zu einer "impliziten Linken", die sich im "sozialdemokratischen Jahrzehnt" auf einen reformistischen Kurs machte, der Gesellschaft und Individuum als sozialtechnologisch gestaltbare Größen betrachtete. Es war wiederum Helmut Schelsky, der in Aufsätzen, vor allem dem Essay über den "selbständigen und den betreuten Menschen" von 1976, auf die Irrtümer und negativen Konsequenzen dieser Weltverbesserungsideologie hinwies.
Nassehi selbst lässt seine Skepsis gegenüber den beiden "Spuren" von 1968 durchblicken. Die hergebrachte Gewissheiten permanent in Frage stellende Dauerreflexion stößt sich bald an den Trägheiten einer Gesellschaft, die "stabil strukturiert ist" und diese Stabilität zur Bewältigung des alltäglichen Lebensvollzugs auch benötigt, so wie das Arnold Gehlen in seiner Institutionenlehre, wenn auch heroisch übertreibend, gezeigt hat. Und die Moralisierung der Argumente, darauf hat Niklas Luhmann hingewiesen, befriedet nicht, sondern wirkt, beidseitig eingesetzt, streitverschärfend, weil sich die Positionen jeweils mit gutem Gewissen und deshalb unversöhnlich gegenüberstehen.
Das birgt ein durchaus unmenschliches Potential, weil die Moralisierung den Gegner von vornherein ins Unrecht setzt und ihm damit die Satisfaktionsfähigkeit, im Extremfall sogar die Existenzberechtigung, abspricht. Auch der Kern der Modernisierung, die Inklusion, die von immer mehr und immer neuen Minderheiten beziehungsweise von deren Sprechern beansprucht wird, führt letztlich in absurde Situationen: Nassehi schildert akademische Debatten, in denen darüber gestritten wird, wer berechtigt ist, für wen zu sprechen oder etwas zu fordern, wenn es nicht die betroffenen Individuen selbst sind.
Als drittes Erbe von 1968 entdeckt Nassehi, auf den Spuren von Theoretikern wie Diedrich Diederichsen wandelnd, die Popkultur als "Dauerberieselung" und Pose. Man muss ihm da nicht auf allen Höhenflügen und durch alle Untiefen folgen, um von dem Paradox fasziniert zu sein, das er formuliert: Eine Protestbewegung, die sich unter anderem auf die Kritik der Unterhaltungsindustrie von Horkheimer und Adorno berief, landet in ihren späten Ausläufern bei einer systemkonformen Subversion in Form von folgenlosen Posen, was das genaue Gegenteil "einer Idee von Reflexion, guten Gründen und Zielführung" ist.
Hier kommt die Vermutung ins Spiel, dass das meiste, was man als "Erbe von 1968" bezeichnen könnte, sich erschöpft hat. Die gegenwärtige Generationslage scheint Nassehi unter einer "rechten Signatur" zu stehen, abzulesen an der "Renationalisierung und Reethnisierung von Konflikten", an der "Betonung des Eigenen", an identitären Formen der Selbstbeschreibung. Das heißt für ihn nicht, "dass alle ,Rechte' geworden seien, es meint, dass die gesellschaftlichen Konflikte auf diesem Feld geführt werden" und dabei "Formen eines Kulturkampfes" annehmen. Was das bedeutet, kann zurzeit jeder Fernsehzuschauer in politischen Diskussionen, auf Parteitagen oder im Bundestag bis in die Talkshows erleben.
GÜNTHER NONNENMACHER
Armin Nassehi: "Gab es 1968?" Eine Spurensuche.
Kursbuch Edition,
Hamburg 2018. 232 S.,
geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Als das große Hinterfragen begann: Armin Nassehi seziert die Spuren von 1968 mit großem soziologischen Besteck. Im Erbe der Protestgeneration entdeckt er ein faszinierendes Paradox.
Es herrscht kein Mangel an Publikationen über die weltweite Protestbewegung, für die das Kürzel "1968" geprägt wurde. Da gibt es autobiographisch gefärbte Berichte von Zeitzeugen und beteiligten Protagonisten, es gibt historische Darstellungen und politische Streitschriften. Diese mehr oder weniger wissenschaftliche Aufarbeitung hat wenig daran geändert, dass die Ereignisse der Jahre zwischen dem Tod Benno Ohnesorgs im Juni 1967 und dem Sommer 1969 in Deutschland (in anderen Ländern wie Frankreich oder Amerika wäre die zeitliche Begrenzung anders zu ziehen) im öffentlichen Bewusstsein von Legenden durchsetzt bleiben und von Mythen überlagert werden.
Dabei ist längst widerlegt, dass die Protestbewegung die "bleierne" Restaurationszeit unter Adenauer beendet habe. Auch die These, 1968 habe ein Aufstand der Jungen gegen die in der Zeit des Nationalsozialismus aufgewachsenen Eltern stattgefunden, also ein politisch aufgeladener Generationenkonflikt, betrifft höchstens Einzelfälle, war aber kein dominantes Motiv. Reformbewegungen an den Hochschulen oder im Strafrecht hat es schon in den frühen Sechzigern gegeben, die Bildungsexpansion schritt voran: Allein die Zahl der Hochschulzugangsberechtigten verdoppelte sich zwischen 1960 und 1970 von sechs auf zwölf Prozent - die Proteste der Studenten waren sowohl Folge dieser Entwicklung als auch Motor ihrer weiteren Beschleunigung.
Das "Jubiläum" in diesem Jahr bot den Anlass für weitere Bücher zum Thema, und eine der interessanteren Abhandlungen ist Armin Nassehis Essay unter dem zunächst befremdlichen Titel "Gab es 1968?". Der in München lehrende, 1960 geborene Autor ist einer der produktivsten deutschen Soziologen; er gibt das "Kursbuch" heraus, das 1965 von Hans Magnus Enzensberger gegründet worden war und zu einem der wichtigen Publikations- und Selbstverständigungsorgane für die protestierende Generation wurde. Schon deshalb hat der Titel des Buches auch etwas Provozierendes, obwohl Nassehi, wie er selbst schreibt, gar kein politisches Urteil abgeben, sondern verstehen und erklären will, was damals "eigentlich" geschah.
Dazu holt er das große soziologische Besteck hervor, was die Lektüre des Buches, trotz aller Bemühung um Verständlichkeit, nicht immer einfach macht. Verkürzt gesagt, deutet Nassehi "1968" als "Ausdruck, als Effekt, als Resultante" eines Modernisierungsprozesses, der in der deutschen Gesellschaft (wie auch in anderen westlichen Industriestaaten) Inklusionsschübe auslöste, also mehr Menschen und neue Bevölkerungsschichten zur Teilhabe an öffentlichen Diskursen und zu politischem Engagement ertüchtigte. Dieser Modernisierungsprozess begann vor mehr als zwei Jahrhunderten und dauert bis heute an. Nach dem Krieg, in den fünfziger und sechziger Jahren, beschleunigte er sich, was alle wirtschaftlichen und sozialen Kennzahlen belegen.
Damit erschließt sich auch die Titelfrage des Buches. Natürlich gab es "1968" als Ereignis. Aber Nassehis Analyse deutet darauf hin, dass die Protestbewegung auch als bloße Begleiterscheinung eines umfassenden gesellschaftlichen Prozesses verstanden werden kann. Auf die Frage, ob sie überhaupt eine eigenständige Bedeutung hatte, bezieht sich der Untertitel des Buches: Es geht um die Spuren, die "1968" in der Gesellschaft hinterlassen hat. Nassehi geht dem in (West-)Deutschland nach, das nach dem Traditions- und Zivilisationsbruch der NS-Zeit innerlich weniger gefestigt war als andere Nationen; dennoch lassen sich seine Beobachtungen, wenigstens teilweise, auf andere Gesellschaften und Staaten übertragen, in denen es "1968" vergleichbare Protestbewegungen gab.
Die beiden großen Errungenschaften oder Fehlentwicklungen, je nach politischem Standpunkt, die Nassehi als Erbe der Protestbewegung aufführt, heißen Dauerreflexion und Dauermoralisierung. Der erste, von Helmut Schelsky entlehnte, Begriff besagt, dass Institutionen, Traditionen und bis dahin unbefragte Selbstverständlichkeiten der Lebensführung unter Begründungszwang gerieten und sich rechtfertigen mussten. Die Dauerreflexion in all ihren kommunikativen Formen (idealtypisch kodifiziert in Habermas' Formel vom herrschaftsfreien Diskurs) veränderte das kollektive Bewusstsein und wirkte damit auf die Gesellschaft ein. Weil den Idealen der linken Protestierer - mehr Freiheit, mehr Gleichberechtigung, mehr Gerechtigkeit und so fort - aus moralischer Sicht kaum zu widersprechen ist, ergibt sich dabei eine asymmetrische Argumentationslage: Wer im Namen hehrer Ideale spricht, neigt zu einer Dauermoralisierung, die sich gegen Argumente immunisiert, die "bloß" auf Erfahrungen beruhen, widerständige Realitäten ins Feld führen oder auf überlieferte Klugheitsregeln rekurrieren.
Gefördert wurde das noch dadurch, dass eine der Folgen von 1968 eine Akademisierung und Professionalisierung sozialer Betreuungsleistungen war, die sich zur regelrechten "Inklusionsindustrie" (Nassehi) entwickelte. Das war schon die Abkehr von "explizit" linken Ideen - also vom revolutionären Elan des harten Kerns der Studentenbewegung - hin zu einer "impliziten Linken", die sich im "sozialdemokratischen Jahrzehnt" auf einen reformistischen Kurs machte, der Gesellschaft und Individuum als sozialtechnologisch gestaltbare Größen betrachtete. Es war wiederum Helmut Schelsky, der in Aufsätzen, vor allem dem Essay über den "selbständigen und den betreuten Menschen" von 1976, auf die Irrtümer und negativen Konsequenzen dieser Weltverbesserungsideologie hinwies.
Nassehi selbst lässt seine Skepsis gegenüber den beiden "Spuren" von 1968 durchblicken. Die hergebrachte Gewissheiten permanent in Frage stellende Dauerreflexion stößt sich bald an den Trägheiten einer Gesellschaft, die "stabil strukturiert ist" und diese Stabilität zur Bewältigung des alltäglichen Lebensvollzugs auch benötigt, so wie das Arnold Gehlen in seiner Institutionenlehre, wenn auch heroisch übertreibend, gezeigt hat. Und die Moralisierung der Argumente, darauf hat Niklas Luhmann hingewiesen, befriedet nicht, sondern wirkt, beidseitig eingesetzt, streitverschärfend, weil sich die Positionen jeweils mit gutem Gewissen und deshalb unversöhnlich gegenüberstehen.
Das birgt ein durchaus unmenschliches Potential, weil die Moralisierung den Gegner von vornherein ins Unrecht setzt und ihm damit die Satisfaktionsfähigkeit, im Extremfall sogar die Existenzberechtigung, abspricht. Auch der Kern der Modernisierung, die Inklusion, die von immer mehr und immer neuen Minderheiten beziehungsweise von deren Sprechern beansprucht wird, führt letztlich in absurde Situationen: Nassehi schildert akademische Debatten, in denen darüber gestritten wird, wer berechtigt ist, für wen zu sprechen oder etwas zu fordern, wenn es nicht die betroffenen Individuen selbst sind.
Als drittes Erbe von 1968 entdeckt Nassehi, auf den Spuren von Theoretikern wie Diedrich Diederichsen wandelnd, die Popkultur als "Dauerberieselung" und Pose. Man muss ihm da nicht auf allen Höhenflügen und durch alle Untiefen folgen, um von dem Paradox fasziniert zu sein, das er formuliert: Eine Protestbewegung, die sich unter anderem auf die Kritik der Unterhaltungsindustrie von Horkheimer und Adorno berief, landet in ihren späten Ausläufern bei einer systemkonformen Subversion in Form von folgenlosen Posen, was das genaue Gegenteil "einer Idee von Reflexion, guten Gründen und Zielführung" ist.
Hier kommt die Vermutung ins Spiel, dass das meiste, was man als "Erbe von 1968" bezeichnen könnte, sich erschöpft hat. Die gegenwärtige Generationslage scheint Nassehi unter einer "rechten Signatur" zu stehen, abzulesen an der "Renationalisierung und Reethnisierung von Konflikten", an der "Betonung des Eigenen", an identitären Formen der Selbstbeschreibung. Das heißt für ihn nicht, "dass alle ,Rechte' geworden seien, es meint, dass die gesellschaftlichen Konflikte auf diesem Feld geführt werden" und dabei "Formen eines Kulturkampfes" annehmen. Was das bedeutet, kann zurzeit jeder Fernsehzuschauer in politischen Diskussionen, auf Parteitagen oder im Bundestag bis in die Talkshows erleben.
GÜNTHER NONNENMACHER
Armin Nassehi: "Gab es 1968?" Eine Spurensuche.
Kursbuch Edition,
Hamburg 2018. 232 S.,
geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Günther Nonnenmacher empfiehlt den Essay des Soziologen Armin Nassehi, für ihn eine der interessantesten Abhandlungen anlässlich des Jubiläums von "1968". So provozierend der Titel, meint Nonnenmacher, so anspruchsvoll die soziologische Analyse, mit der der Autor "1968" als Teil eines Moderninerungsprozesses ausmacht, der laut Nassehi zu mehr politischem Engagement führte, aber auch zu einer ermüdenden Dauermoralisierung und zur Pose der Popkultur. Faszinierend, meint Nonnemacher, auch wenn der Rezensent dem Autor nicht auf allen Höhenflügen und durch alle Untiefen der Reflexion folgen muss.
© Perlentaucher Medien GmbH
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