Der Sammelband gibt eine Antwort auf die in Politik und Wissenschaft verbreitete Totalitarismustheorie, die den deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag vom 23.8.1939 als Verständigung zweier wesensverwandter Diktaturen über die Aufteilung Europas und der Welt interpretiert. Die Beiträge erhellen den tatsächlichen Charakter des Vertrags, die deutschen und die sowjetischen Motive für seinen Abschluss sowie seine Bedeutung für die militärische Niederringung des Dritten Reiches und damit für die europäische Nachkriegsordnung. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei dem Scheitern der sowjetischen Bemühungen um die Schaffung einer britisch-französisch-sowjetischen Allianz gegen die Achsenmächte und den Auswirkungen des Vertrages auf die Organisationen des antifaschistischen Widerstands.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.04.2016Die Schuld der Westmächte?
Kuriose Deutungen des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes vom August 1939
"Gab es einen Stalin-Hitler-Pakt?" So ist die Dokumentation einer Tagung überschrieben, die 2014 an der Freien Universität Berlin stattfand. Gefördert von der Bundeszentrale für politische Bildung und dem VVN-BdA, beschirmt von Wladyslaw Bartoszewski, dem 2015 verstorbenen polnischen Widerstandskämpfer und Auschwitz-Überlebenden, Historiker und Außenminister, befassen sich die 13 Autoren mit dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt des Jahres 1939. Im Mittelpunkt stehen außenpolitische Überlegungen, die die verschiedenen Mächte im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs anstellten. Zum einen geht es um die diversen Bündnisoptionen und deren Scheitern trotz der weithin (an)erkannten Kriegsgefahr, die von Hitlers Reich ausging.
Mit vielen Details werden das Hin und Her auf dem diplomatischen Parkett, die Hinhaltetaktiken und das zwischen allen Akteuren herrschende Misstrauen ausgeleuchtet. Die Perspektiven umfassen nicht nur Darstellungen der jeweiligen Handlungsoptionen (Marek Kornat, Sergej Valerevic Kudrjasov, Stanislaw Zerko), sondern auch Beiträge, deren Ziel es ist, nicht nur die (Vor-)Geschichte des Vertrages zu analysieren, sondern die "Standardlügen über diesen Vertrag und seine Wirkungen" (Werner Röhr) zu benennen. Dazu gehört insbesondere der Nachweis, dass die Sowjetunion diesen Pakt im August 1939 quasi in Notwehr schloss, um sich gegen einen Angriff zu schützen. Dabei wirkt das in einigen Beiträgen bemühte Zeitgewinn- und Notwehrargument schwach, wenn man sich vor Augen führt, dass Stalin 1941 alle Warnungen vor einem deutschen Angriff in den Wind schlug und bis zuletzt Hitler vertraute.
Die Hauptschuld dafür, dass die Sowjetunion den Pakt mit Hitler einging, wird anderen zugewiesen: Frankreich, Großbritannien und Polen hätten der Sowjetunion keine andere Chance gelassen, um sich vor einem Krieg zu schützen. Polen wird dabei zum "Komplizen Hitlers", weil es 1934 einen Nichtangriffsvertrag mit dem Deutschen Reich geschlossen, die Annexion Österreichs und der Tschechoslowakei unterstützt, sich seinen Anteil an der Aufteilung des Nachbarlandes gesichert und sich schließlich 1939 einem Beistandsvertrag mit der Sowjetunion verweigert habe. Die Führer Frankreichs und Großbritanniens werden zu den eigentlichen Zwillingsbrüdern Hitlers erklärt, während Stalin im Beitrag des italienischen Altkommunisten Domenico Losurdo mit Lincoln gleichgesetzt wird.
Die Argumentation von Domenico Losurdo, Michael Jabara Carley oder Werner Röhr zielt darauf ab, die Sowjetunion als Opfer der Westmächte darzustellen. Ihre Beiträge eint die Verteidigung von Stalins beschönigend "Offensivverteidigung" genannten Invasionen, die Stalin entweder führen musste, weil er mit einem Angriff Hitlers rechnete oder aber weil er Hitler vertraute und nicht mit einem Angriff rechnete. In dieser Lesart bleibt Stalin in jedem Fall unangetastet: entweder als großer Stratege oder als Opfer. Wie der Herausgeber betont, sei es nicht die "Intention, die Persönlichkeit oder das Regime Stalins weißzuwaschen oder weichzuspülen".
Das Paradox, dass die Sowjetunion sich gegen einen Krieg schützen wollte und ihrerseits einen Krieg gegen Ostpolen, Finnland und die baltischen Staaten begann, wird als "Defensivmaßnahmen eines Staates, der sich allein auf seine eigenen Kräfte zurückgeworfen sieht" (so Christoph Koch), erklärt. Zwar wird eingeräumt, dass dies ein Bruch des Völkerrechts war. Der Herausgeber erklärt dies jedoch angesichts der "Zweckmäßigkeit" für durchaus zulässig. Denn diese "Defensivmaßnahmen" hätten der Sowjetunion zu jener militärischen Stärke verholfen, die es ihr ermöglichte, "das Wichtigste, das im 20. Jahrhundert zu tun war [...], den Sieg über den deutschen Faschismus" zu erringen. Außerdem habe die sowjetische Besetzung Polens 1939 dem Ziel gedient, Polen als Staat zu retten. Dies wird mit der zynisch anmutenden Frage verbunden, ob es die Opfer Stalins vorgezogen hätten, die Opfer Hitlers zu werden.
Während einerseits argumentiert wird, die Sowjetunion hätte ihre Nachbarländer besetzen müssen, um sich eine "Atempause" zu verschaffen, argumentiert Werner Röhr aus einer "völkischen Perspektive", wenn er ausführt, "dass sich die sowjetische Regierung auch nicht gleichgültig gegenüber der Tatsache verhalten" konnte, dass "die blutsverwandte ukrainische und belorussische Bevölkerung" dann "ihrem Schicksal überlassen und wehrlos blieb". Wieso die sowjetische Regierung dann diese Bevölkerung, die sie zu schützen vorgab, mit Mord und Terror überzog, wird nicht erklärt.
Der Herausgeber verspricht nicht zu viel, wenn er in seiner Einleitung auf die "Vielfalt der unterschiedlichen Ein- und Aussichten", die auf der Tagung diskutiert wurden, verweist. Das Ziel sei es, zu einer Versachlichung der wissenschaftlichen Diskussion beizutragen und diese aus dem "Zugriff des interessegeleiteten politischen Meinungskampfes" zu lösen. Bei diesem Unterfangen wähnt sich zumindest ein Autor - Bert Brecht zitierend - von "herrschenden Mächten" umgeben, die die Verbreitung der Wahrheit "mit allen verfügbaren Mitteln, mit terroristischer Gewalt wie mit der Gewalt der Medien zu be- und verhindern trachten" . Zumindest für einige der Beiträge in diesem Band kann man der Einschätzung des Herausgebers, dass die hier geäußerten Gedanken "nicht darauf rechnen, ohne weiteres auf allgemeine Zustimmung zu stoßen", nichts weiter hinzufügen. Dabei wäre es interessant gewesen, die in der Einführung angedeutete sachliche Auseinandersetzung über die sehr unterschiedlichen Standpunkte auch in Bezügen der Beiträge unter- und aufeinander wiederzufinden.
ANNA KAMINSKY.
Christoph Koch (Herausgeber): Gab es einen Stalin-Hitler-Pakt? Charakter, Bedeutung und Deutung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrages vom 23. August 1939. Peter Lang Edition, Frankfurt am Main 2015. 329 S., 59,95 [Euro].
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Kuriose Deutungen des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes vom August 1939
"Gab es einen Stalin-Hitler-Pakt?" So ist die Dokumentation einer Tagung überschrieben, die 2014 an der Freien Universität Berlin stattfand. Gefördert von der Bundeszentrale für politische Bildung und dem VVN-BdA, beschirmt von Wladyslaw Bartoszewski, dem 2015 verstorbenen polnischen Widerstandskämpfer und Auschwitz-Überlebenden, Historiker und Außenminister, befassen sich die 13 Autoren mit dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt des Jahres 1939. Im Mittelpunkt stehen außenpolitische Überlegungen, die die verschiedenen Mächte im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs anstellten. Zum einen geht es um die diversen Bündnisoptionen und deren Scheitern trotz der weithin (an)erkannten Kriegsgefahr, die von Hitlers Reich ausging.
Mit vielen Details werden das Hin und Her auf dem diplomatischen Parkett, die Hinhaltetaktiken und das zwischen allen Akteuren herrschende Misstrauen ausgeleuchtet. Die Perspektiven umfassen nicht nur Darstellungen der jeweiligen Handlungsoptionen (Marek Kornat, Sergej Valerevic Kudrjasov, Stanislaw Zerko), sondern auch Beiträge, deren Ziel es ist, nicht nur die (Vor-)Geschichte des Vertrages zu analysieren, sondern die "Standardlügen über diesen Vertrag und seine Wirkungen" (Werner Röhr) zu benennen. Dazu gehört insbesondere der Nachweis, dass die Sowjetunion diesen Pakt im August 1939 quasi in Notwehr schloss, um sich gegen einen Angriff zu schützen. Dabei wirkt das in einigen Beiträgen bemühte Zeitgewinn- und Notwehrargument schwach, wenn man sich vor Augen führt, dass Stalin 1941 alle Warnungen vor einem deutschen Angriff in den Wind schlug und bis zuletzt Hitler vertraute.
Die Hauptschuld dafür, dass die Sowjetunion den Pakt mit Hitler einging, wird anderen zugewiesen: Frankreich, Großbritannien und Polen hätten der Sowjetunion keine andere Chance gelassen, um sich vor einem Krieg zu schützen. Polen wird dabei zum "Komplizen Hitlers", weil es 1934 einen Nichtangriffsvertrag mit dem Deutschen Reich geschlossen, die Annexion Österreichs und der Tschechoslowakei unterstützt, sich seinen Anteil an der Aufteilung des Nachbarlandes gesichert und sich schließlich 1939 einem Beistandsvertrag mit der Sowjetunion verweigert habe. Die Führer Frankreichs und Großbritanniens werden zu den eigentlichen Zwillingsbrüdern Hitlers erklärt, während Stalin im Beitrag des italienischen Altkommunisten Domenico Losurdo mit Lincoln gleichgesetzt wird.
Die Argumentation von Domenico Losurdo, Michael Jabara Carley oder Werner Röhr zielt darauf ab, die Sowjetunion als Opfer der Westmächte darzustellen. Ihre Beiträge eint die Verteidigung von Stalins beschönigend "Offensivverteidigung" genannten Invasionen, die Stalin entweder führen musste, weil er mit einem Angriff Hitlers rechnete oder aber weil er Hitler vertraute und nicht mit einem Angriff rechnete. In dieser Lesart bleibt Stalin in jedem Fall unangetastet: entweder als großer Stratege oder als Opfer. Wie der Herausgeber betont, sei es nicht die "Intention, die Persönlichkeit oder das Regime Stalins weißzuwaschen oder weichzuspülen".
Das Paradox, dass die Sowjetunion sich gegen einen Krieg schützen wollte und ihrerseits einen Krieg gegen Ostpolen, Finnland und die baltischen Staaten begann, wird als "Defensivmaßnahmen eines Staates, der sich allein auf seine eigenen Kräfte zurückgeworfen sieht" (so Christoph Koch), erklärt. Zwar wird eingeräumt, dass dies ein Bruch des Völkerrechts war. Der Herausgeber erklärt dies jedoch angesichts der "Zweckmäßigkeit" für durchaus zulässig. Denn diese "Defensivmaßnahmen" hätten der Sowjetunion zu jener militärischen Stärke verholfen, die es ihr ermöglichte, "das Wichtigste, das im 20. Jahrhundert zu tun war [...], den Sieg über den deutschen Faschismus" zu erringen. Außerdem habe die sowjetische Besetzung Polens 1939 dem Ziel gedient, Polen als Staat zu retten. Dies wird mit der zynisch anmutenden Frage verbunden, ob es die Opfer Stalins vorgezogen hätten, die Opfer Hitlers zu werden.
Während einerseits argumentiert wird, die Sowjetunion hätte ihre Nachbarländer besetzen müssen, um sich eine "Atempause" zu verschaffen, argumentiert Werner Röhr aus einer "völkischen Perspektive", wenn er ausführt, "dass sich die sowjetische Regierung auch nicht gleichgültig gegenüber der Tatsache verhalten" konnte, dass "die blutsverwandte ukrainische und belorussische Bevölkerung" dann "ihrem Schicksal überlassen und wehrlos blieb". Wieso die sowjetische Regierung dann diese Bevölkerung, die sie zu schützen vorgab, mit Mord und Terror überzog, wird nicht erklärt.
Der Herausgeber verspricht nicht zu viel, wenn er in seiner Einleitung auf die "Vielfalt der unterschiedlichen Ein- und Aussichten", die auf der Tagung diskutiert wurden, verweist. Das Ziel sei es, zu einer Versachlichung der wissenschaftlichen Diskussion beizutragen und diese aus dem "Zugriff des interessegeleiteten politischen Meinungskampfes" zu lösen. Bei diesem Unterfangen wähnt sich zumindest ein Autor - Bert Brecht zitierend - von "herrschenden Mächten" umgeben, die die Verbreitung der Wahrheit "mit allen verfügbaren Mitteln, mit terroristischer Gewalt wie mit der Gewalt der Medien zu be- und verhindern trachten" . Zumindest für einige der Beiträge in diesem Band kann man der Einschätzung des Herausgebers, dass die hier geäußerten Gedanken "nicht darauf rechnen, ohne weiteres auf allgemeine Zustimmung zu stoßen", nichts weiter hinzufügen. Dabei wäre es interessant gewesen, die in der Einführung angedeutete sachliche Auseinandersetzung über die sehr unterschiedlichen Standpunkte auch in Bezügen der Beiträge unter- und aufeinander wiederzufinden.
ANNA KAMINSKY.
Christoph Koch (Herausgeber): Gab es einen Stalin-Hitler-Pakt? Charakter, Bedeutung und Deutung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrages vom 23. August 1939. Peter Lang Edition, Frankfurt am Main 2015. 329 S., 59,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Anna Kaminsky verkrampft sich etwas bei der Besprechung dieses Bandes, der eine Tagung an der FU unter dem gleichen absurden Titel dokumentiert. Den hanebüchenen Thesen bietet sie, immerhin Geschäftisführerin der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, nicht wirklich Paroli. "Kurios" findet sie, dass Stalin immer unschuldig bleibt am unschönen Pakt mit Hitler: Bei den einen hat er zum Mittel der "Offensivverteidigung" greifen müssen, weil er mit einem deutschen Angriff rechnete, bei den anderen, weil er völlig von dem Angriff überrascht war. Auch die Besetzung Polens und der baltischen Staaten erweist sich für die meisten als Ausdruck des Stalinscher Antifaschismus.
© Perlentaucher Medien GmbH
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