Produktdetails
  • Verlag: Bloomsbury Trade
  • Erscheinungstermin: Oktober 2008
  • Gewicht: 1106g
  • ISBN-13: 9780747594765
  • ISBN-10: 0747594767
  • Artikelnr.: 23496071
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.01.2009

Das Wunderbare ist rehabilitiert

Der Brite Gerald Martin hat eine große Biographie über Gabriel García Márquez geschrieben. Sie erzählt den Aufstieg des Kolumbianers vom bettelarmen Studenten zum Nobelpreisträger und Popstar, der so sicher auf seinem Thron sitzt wie Mickymaus.

MADRID, im Januar

Am 9. April 1948 gegen 13 Uhr verlässt Jorge Eliécer Gaitán, der charismatischste politische Führer, den Kolumbien im zwanzigsten Jahrhundert hervorgebracht hat, seine Anwaltskanzlei in Bogotá, um mit Kollegen aus der Liberalen Partei zu Mittag zu essen. Da tritt auf der Straße ein Mann auf ihn zu und feuert aus nächster Nähe mehrere Schüsse ab. Gaitán stirbt kurz darauf. Was folgt, ist völliges Chaos, das als "Bogotazo" in die Geschichte einging. Bei den Ausschreitungen und Plünderungen durch Gaitáns Anhänger, die hinter dem Mord die Konservativen vermuten, verlieren zahlreiche Menschen ihr Leben. Nicht weit entfernt hat ein junger Journalist namens Gabriel García Márquez in seiner billigen Pension gerade zu Mittag gegessen. Und nur ein paar hundert Meter weiter macht sich ein einundzwanzigjähriger kubanischer Studentenführer zu einer Verabredung bereit. Der blutjunge Fidel Castro muss Gaitán bei einem Treffen zwei Tage zuvor sehr beeindruckt haben, denn für den Tag, an dem er ermordet wurde, hatte der Führer der Liberalen ihm für 14 Uhr einen weiteren Termin gewährt.

Solche symbolisch aufgeladenen Koinzidenzen prägen das Leben von Gabriel García Márquez von Anfang an. Hier findet alles zusammen, der wache Sinn des jungen Autors, der Tumult, die Aura der Macht und der Fluch politischer Gewalt, der die Geschichte Lateinamerikas in so fürchterlicher Weise bestimmt. Viele Jahre später wird der "Bogotazo" märchenhafte Dimensionen annehmen. Seine Pension sei damals abgebrannt, behauptet der Nobelpreisträger, und alle seine Storys seien verloren gewesen. Die Wahrheit ist wohl, dass García Márquez und seine Freunde zu Ende aßen und sich danach an den Plünderungen beteiligten. Allenfalls der Verlust seiner Schreibmaschine dürfte authentisch sein, weil auch das Pfandleihhaus ausgeraubt worden war; dafür hielt sich der einundzwanzigjährige Nachwuchsautor mit einer erbeuteten Aktentasche aus Kalbsleder schadlos.

"Gabriel García Márquez: A Life", erschienen beim Londoner Bloomsbury Verlag, ist die umfangreichste und bestdokumentierte Biographie, die dem Kolumbianer jemals gewidmet wurde. Dass sie von Gerald Martin stammt, einem Experten für lateinamerikanische Literatur, hat nicht nur den Vorteil britischer Nüchternheit, sondern holt den schreibenden Weltstar auf den Boden der soziokulturellen Tatsachen zurück. Das macht ihn aber nicht kleiner, im Gegenteil. Martin argumentiert völlig überzeugend, dass García Márquez die alles beherrschende Figur nach dem Verschwinden der großen Modernisten ist. Drohte sich die literarische Debatte der Nachkriegszeit zwischen Engagement und Elfenbeinturm zu verzetteln, rissen die Bücher des magischen Realismus entschlossen die Fenster auf und zeigten den etwas ausgemergelten Schriftstellern Europas und Nordamerikas, dass man beides haben konnte. "Hundert Jahre Einsamkeit", der Roman, mit dem sich García Márquez 1967 in die Weltliteratur schrieb, verzückte die Universitätsphilologen ebenso wie das Massenpublikum. Epochengeschichtlich steht dieser erste "globale Roman", wie Martin ihn nennt, noch in Verbindung mit der Höhenkamm-Literatur der Moderne, kündigt aber schon spätere Bestseller-Phänomene wie Umberto Eco und Patrick Süskind an.

Es geht also nicht um die ansonsten übliche Frage, ob einem die Werke dieses Autors gefallen, sondern um die schlichte Erkenntnis, dass die Geschichte des literarischen Geschmacks der letzten Jahrzehnte ohne García Márquez nicht geschrieben werden könnte. Dieser Autor hat die Phantastik und das Wunderbare rehabilitiert. Millionen Leser beziehen ihre einzige Ahnung vom lateinamerikanischen Kontinent aus seinen Schilderungen. Viele seiner Buchtitel sind zu geflügelten Worten geworden. Ob er seine karibische Männerfreundschaft zu Fidel Castro pflegt oder die Lewinsky-Affäre mit einem frivolen Essay (Titel: "Warum mein Freund Bill lügen musste") begleitet, nichts kann ihm politisch etwas anhaben, weil er kein "Intellektueller" ist, sondern ein Massenphänomen, das seinerseits Politik betreibt. Vor und hinter den Kulissen.

García Márquez, um es deutlich zu sagen, ist ein Junkie politischer Macht. Er hat über die Herrscher geschrieben, mit ihnen getafelt, sich an ihrem Glanz gewärmt und auch von dem seinen etwas an sie abgetreten, ein Geschäft auf Gegenseitigkeit für François Mitterrand, Felipe González, Papst Johannes Paul II. und viele andere. Damit pulverisiert der Nobelpreisträger die gängige Vorstellung, Schriftsteller müssten sich durch politische Statements "einmischen"; er tut viel mehr als das und denkt nicht daran, irgendjemandem Rechenschaft darüber abzulegen. Insofern ist er so wenig demontierbar wie Elvis, Marilyn Monroe oder Mickymaus. Selbst Menschen, die keine Neuerscheinungen lesen, reißen Straßenhändlern und Raubdruckern den neuen García Márquez aus den Händen. Wäre literarische Wirkung messbar, säße der Mann seit drei Jahrzehnten allein auf dem Thron.

Das Erstaunlichste daran ist, dass er den kommerziellen Erfolg nicht mit dem Naserümpfen der Snobs büßen musste. Als hätte er es den letzten Zweiflern zeigen wollen, lieferte er mit seinem zweiten großen Roman, "Der Herbst des Patriarchen", einen so wortgewaltigen Abkömmling der Faulkner-Schule, dass es den Lesern den Atem verschlug. Erwartungen zu enttäuschen gehört zu den Spezialitäten von García Márquez. Auf das Epos vom elefantengleichen Diktator, der in seinem stinkenden Palast verrottet, folgte die klassisch gebaute Novelle "Chronik eines angekündigten Todes", danach der üppige, geradezu menschenfreundliche Roman "Die Liebe in Zeiten der Cholera". In diesen vier überaus unterschiedlichen Büchern hat man den ganzen García Márquez, alle Stimmungen, Tonlagen und Pendelausschläge.

Die Anfänge waren härter, als man bisher wusste. Die Exotik seiner Bücher verschleiert, dass das introvertierte Kind praktisch ohne Eltern aufwuchs und die ganze Jugend hindurch nur der Außenseiter in einer ständig umgetopften Großfamilie in der Karibik war: ein gieriger Leser, der seinen Großvater verehrte, um die abwesende Mutter warb, seinen Vater kaum kannte und sporadisch Nachrichten von neuen, auch illegitimen Geschwistern erhielt; ein introvertierter Student im scheußlich kalten Bogotá; ein Verehrer von Kafka und Faulkner, der mehr Nestwärme in Bordellen fand als in den schmuddeligen Pensionen, deren Miete er kaum bezahlen konnte. Bis tief in seine Zwanziger war García Márquez arm, ob in Paris oder anderswo. Als er sich mit Ende dreißig in Mexiko-Stadt eine Auszeit nahm, um "Hundert Jahre Einsamkeit" zu schreiben, verkaufte seine Frau Mercedes erst das Auto, dann auch Radio, Fernseher, Kühlschrank. (Den Föhn behielt sie bis zuletzt.) Das Erscheinen des Romans verwandelte die Existenz seines Autors so umstürzend, wie es zehn Jahre zuvor Vladimir Nabokov mit "Lolita" widerfahren war.

"Gabo", wie ihn seine Umgebung nur nennt, ist ein scheuer und misstrauischer Mann. Am liebsten umgibt er sich mit Menschen, die er sein Leben lang kennt, und seit ihn der Weltruhm in eine Ikone verwandelt hat, sind seine öffentlichen Auftritte behutsam dosierte und sorgfältig inszenierte Medienereignisse. Es überrascht also nicht, dass Gerald Martin rund fünfzehn Jahre lang nur der "geduldete" und erst ganz zuletzt der "offizielle" Biograph war. Er führte Gespräche mit rund dreihundert Personen und erhielt Zugang zum Familienkreis, aber das Material musste er sich nicht nur beschaffen, sondern vor allem bewerten.

Denn Spinnereien, Übertreibungen und farbige Lügengeschichten um den großen Mann gibt es zuhauf, und Martin legt immer offen, wenn er nicht genau weiß, was wirklich geschah. (Der Faustschlag von Mario Vargas Llosa, der die Freundschaft zweier literarischer Schwergewichte beendete, gehört zu den bleibenden Rätseln.) Der Biograph behält auch seine Bewunderung für Gabos Werk, ohne zu verschweigen, dass dessen Memoiren mehr verhüllen als verraten oder dass die jüngste Novelle "Erinnerung an meine traurigen Huren" (2004) ein ziemlich schlappes Buch ist. In seinem Computer soll eine dreimal so lange Version dieser Biographie existieren; das mag eine beruhigende Aussicht für kommende Forschergenerationen sein. Doch die Druckversion von 650 Seiten hat gerade das richtige Maß.

Er habe drei Leben, hat Gabriel García Márquez einmal gesagt, ein öffentliches, ein privates und ein geheimes. Auch wenn wir das geheime Leben dieser literarischen Urkraft nie kennenlernen werden, ahnen wir, dass es in seinen Romanen auf chiffrierte Weise enthalten ist.

PAUL INGENDAAY

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