The handsome, heroic heir to a vast estate, raised as a man to follow a man's pursuits and to despise women, is devastated to learn at the age of seventeen that he is in fact a she. Gabriel courageously refuses to give up her male privileges, and her tragic struggle to work and fight and love in all the ways she knows how offers a window into the obstacles faced by George Sand, the prolific intellectual woman whom the popular press portrayed as a promiscuous, cigar-smoking oddity in trousers. "Strange that the most virile talent of our time should be a woman's!" exclaimed a reviewer in 1838. Kathleen Hart's introduction contextualizes the drama, discussing its relation to the theater of Sand's day, the sentimental tradition, the subversive workings of carnival and masquerade, and the vein of literary androgyny in Romantic works.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.03.2022Die ideale Frau
Zwischen den Geschlechtern: George Sands Gender-Trouble-Roman „Gabriel“ erstmals auf Deutsch
Die Veröffentlichung der ersten Übersetzung von George Sands Roman Gabriel ins Deutsche ist zeitlich günstig gewählt. Er erschien 1839 erstmals in Fortsetzungen als „Dialogroman“ und scheint dennoch auf beinahe wundersame Weise ins Zentrum von gegenwärtigen Debatten über soziales und biologisches Geschlecht zu treffen: Der titelgebenden Figur wird bei der Geburt aus Gründen der Erbfolgeregelungen das männliche Geschlecht zugewiesen, im Verlauf des Romans wird sie aber auch immer wieder eine Frau darstellen.
Gabriel wächst als Enkel des Fürsten Bramante abgeschieden auf dem Familiensitz auf und hat kaum Kontakt zu anderen Menschen. Sein Hauslehrer erzieht ihn dazu, Frauen als schwach und uninteressant zu verachten. Denn für sie ist all das nicht vorgesehen, was Gabriel selbst am höchsten schätzt im Leben: „Ich mag mein Pferd, Wind um die Ohren, Musik, Dichtung, Einsamkeit, Freiheit vor allen Dingen.“ Wenig überraschend stürzt er in eine tiefe existenzielle Krise, als ihm eines Tages eröffnet wird, dass er außerhalb dieser Abgeschiedenheit keinesfalls als Mann durchgehen würde.
Alle Verwicklungen der Handlung ergeben sich aus diesem Grundkonflikt: Gabriel ringt mit der Kategorie Geschlecht als willkürlicher Zuweisung und muss zudem verkraften, dass diese aus ökonomischem Kalkül oktroyiert wird. Das klingt zunächst sehr zeitgemäß, aber man sollte man sich nicht irren: Der Roman als literarischer Text ist es nicht unbedingt, angefangen damit, dass er als Dialogroman eben wie ein Dramentext verfasst ist. Es macht durchaus Mühe, die Handlung aus den Dialogen voller langatmiger Bekundungen romantischer Gefühle und Freiheitsliebe herauszulesen. George Sand modelliert ein Leben, das sowohl von ihrem eigenen, mehr noch aber von dem von Frauen und Männern des 21. Jahrhunderts weit entfernt ist. Sand, 1806 geboren als Amantine Aurore Lucile Dupin de Francueil, trat zeitlebens selbst immer wieder in Männerkleidung auf, sprach im Maskulinum von sich und lebte unverheiratet mit verschiedenen Männern zusammen. Auf Grund ihrer sozialen Stellung gelang ihr dies ungestraft und unter Applaus von Zeitgenossen – all das bleibt Gabriel versagt.
Sand mag noch eine Art Einhorn ihrer Generation gewesen sein, 180 Jahre später ist ihr Lebensweg für einige guter Standard. Ihr Roman Gabriel sollte von daher nicht als in erster Linie als ach so modern gelesen werden (auch wenn die erfreulich lebendige und leichtgängige Übersetzung von Elsbeth Ranke dazu einlädt), sondern auch in seiner historischen Eigentümlichkeit und damit als befremdlich bestehen.
In der ersten Phase tiefer Verzweiflung über sein Geschlecht begegnet Gabriel seinem Cousin Astolphe, den er sucht, um die für ihn ungünstige Regelung des Erbes ihres gemeinsamen Großvaters außer Kraft zu setzen. Sie begegnen sich in einer Spelunke, in der sie sogleich einem Mordversuch durch eine Bande von Wegelagerern entgehen. Angeheizt durch dieses Abenteuer entbrennt Astolphe geradezu in eine Freundschaft zu Gabriel, die er als sehr verwirrend erlebt, weil sie ihm Gefühle einflößt, die normalerweise nur für „das andere Geschlecht“ vorgesehen sind.
Um ihre freundschaftliche Liebe noch enger werden zu lassen, beschließen die beiden, dass Gabriel in Zukunft als Frau namens Gabrielle an der Seite Astolphes auftreten soll, dem es reizvoll erscheint, sich dadurch in der „idealen Frau“ zu spiegeln, die Gabriel abgeben würde. Für diejenigen Frauen, deren Weg in ihre Geschlechtsidentität weniger verwickelt war als der Gabriel/les, hat er nicht viel übrig: „Was soll ich denn mit einem kleinen Dummchen, das nichts kann außer sticken und sich bekreuzigen? Es gibt da auch ein paar Kokette und Aufgeweckte, die einem vom Weihwasserbecken her verzehrende Blicke zuwerfen. Die sind schlimmer als unsere Kurtisanen.“
Durch Zufall stellt er eines Tages fest, dass Gabriel/le jedoch mindestens einige körperliche Merkmale mit genau diesen Koketten, Aufgeweckten oder Kurtisanen teilt, was ihm insofern entgegenkommt, als dass er nun eine legale Ehe mit seinem vermeintlichen Cousin eingehen könnte. Ein Leben als Ehefrau, so erkennt Gabrielle, die eine Zeit lang mit Astolphe zusammenlebt, bedeutet jedoch geradezu eine Mutation; das Einzwängen ein Korsett, das Anfertigen von Stickereien in einem engen häuslichen Radius, ständige moralische Vorhaltungen durch die Verwandtschaft.
Vermutlich hätten dennoch zur gleichen Zeit viele Frauen ein solches Leben der harten körperlichen Arbeit in den Haushalten der gehobenen Gesellschaft und auf dem Feld vorgezogen – aber George Sand imaginiert hier eben eine Renaissance, die sich neben dem Problem von Gender nicht auch noch das der Klasse aufhalst. Hier verlieben sich Fürstensprösslinge ineinander, deren Subjektivität von der bürgerlichen Liebesordnung, die sich zur Lebenszeit Sands entwickelte, noch nichts wissen kann.
Sichtbar wird unter anderem an diesem Punkt, warum Sand, genauso wie viele heutige Autorinnen und Autoren für einen diskursiv so aufgeladenen Roman ein historisches Setting wählt: Während ein mehr oder weniger realistischer Rahmen für die Handlung erhalten bleibt, projiziert sie doch Sensibilitäten und Interessen ihrer eigenen Gegenwart in eine Renaissance, die als Epoche so gut erkennbar bleibt wie eine mit stark verwässerter Aquarellfarbe hingetupfte Kulisse.
Vor dieser entfaltet sich dann der dramatische Höhepunkt des Romans, der erreicht wird, als Gabriel/le den Heiratsantrag Astolphes zurückweist, um einem Leben als genau die Karikatur von Frau zu entgehen, die ihr Galan so abfällig beschrieben hatte. Gabriel/le bleibt schließlich nur die Flucht in Männerkleidern aus dem Leben eines Mannes, der für sie Verwandter, Bedränger und Geliebter zugleich ist.
Da jedoch nicht nur er, sondern auch der Rest der Familie Gabriel/les Freiheitsstreben nicht gutheißen kann, ermordet ihn ein Häscher am Ufer des Tibers. Es wäre schön, wenn nicht ausgerechnet dieser Teil des Romans jener wäre, der vor dem Hintergrund der Morde an trans Personen und all jenen, die für die autonome Entscheidung über Geschlechtsidentität kämpfen, der aktuellste wäre.
HANNA ENGELMEIER
Der Roman spielt
in der Renaissance, doch die
Epoche bleibt Kulisse
George Sand:
Gabriel.
Ein Dialogroman.
Aus dem Französischen von Elsbeth Ranke.
Reclam, Ditzingen 2022.
176 Seiten, 18 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Zwischen den Geschlechtern: George Sands Gender-Trouble-Roman „Gabriel“ erstmals auf Deutsch
Die Veröffentlichung der ersten Übersetzung von George Sands Roman Gabriel ins Deutsche ist zeitlich günstig gewählt. Er erschien 1839 erstmals in Fortsetzungen als „Dialogroman“ und scheint dennoch auf beinahe wundersame Weise ins Zentrum von gegenwärtigen Debatten über soziales und biologisches Geschlecht zu treffen: Der titelgebenden Figur wird bei der Geburt aus Gründen der Erbfolgeregelungen das männliche Geschlecht zugewiesen, im Verlauf des Romans wird sie aber auch immer wieder eine Frau darstellen.
Gabriel wächst als Enkel des Fürsten Bramante abgeschieden auf dem Familiensitz auf und hat kaum Kontakt zu anderen Menschen. Sein Hauslehrer erzieht ihn dazu, Frauen als schwach und uninteressant zu verachten. Denn für sie ist all das nicht vorgesehen, was Gabriel selbst am höchsten schätzt im Leben: „Ich mag mein Pferd, Wind um die Ohren, Musik, Dichtung, Einsamkeit, Freiheit vor allen Dingen.“ Wenig überraschend stürzt er in eine tiefe existenzielle Krise, als ihm eines Tages eröffnet wird, dass er außerhalb dieser Abgeschiedenheit keinesfalls als Mann durchgehen würde.
Alle Verwicklungen der Handlung ergeben sich aus diesem Grundkonflikt: Gabriel ringt mit der Kategorie Geschlecht als willkürlicher Zuweisung und muss zudem verkraften, dass diese aus ökonomischem Kalkül oktroyiert wird. Das klingt zunächst sehr zeitgemäß, aber man sollte man sich nicht irren: Der Roman als literarischer Text ist es nicht unbedingt, angefangen damit, dass er als Dialogroman eben wie ein Dramentext verfasst ist. Es macht durchaus Mühe, die Handlung aus den Dialogen voller langatmiger Bekundungen romantischer Gefühle und Freiheitsliebe herauszulesen. George Sand modelliert ein Leben, das sowohl von ihrem eigenen, mehr noch aber von dem von Frauen und Männern des 21. Jahrhunderts weit entfernt ist. Sand, 1806 geboren als Amantine Aurore Lucile Dupin de Francueil, trat zeitlebens selbst immer wieder in Männerkleidung auf, sprach im Maskulinum von sich und lebte unverheiratet mit verschiedenen Männern zusammen. Auf Grund ihrer sozialen Stellung gelang ihr dies ungestraft und unter Applaus von Zeitgenossen – all das bleibt Gabriel versagt.
Sand mag noch eine Art Einhorn ihrer Generation gewesen sein, 180 Jahre später ist ihr Lebensweg für einige guter Standard. Ihr Roman Gabriel sollte von daher nicht als in erster Linie als ach so modern gelesen werden (auch wenn die erfreulich lebendige und leichtgängige Übersetzung von Elsbeth Ranke dazu einlädt), sondern auch in seiner historischen Eigentümlichkeit und damit als befremdlich bestehen.
In der ersten Phase tiefer Verzweiflung über sein Geschlecht begegnet Gabriel seinem Cousin Astolphe, den er sucht, um die für ihn ungünstige Regelung des Erbes ihres gemeinsamen Großvaters außer Kraft zu setzen. Sie begegnen sich in einer Spelunke, in der sie sogleich einem Mordversuch durch eine Bande von Wegelagerern entgehen. Angeheizt durch dieses Abenteuer entbrennt Astolphe geradezu in eine Freundschaft zu Gabriel, die er als sehr verwirrend erlebt, weil sie ihm Gefühle einflößt, die normalerweise nur für „das andere Geschlecht“ vorgesehen sind.
Um ihre freundschaftliche Liebe noch enger werden zu lassen, beschließen die beiden, dass Gabriel in Zukunft als Frau namens Gabrielle an der Seite Astolphes auftreten soll, dem es reizvoll erscheint, sich dadurch in der „idealen Frau“ zu spiegeln, die Gabriel abgeben würde. Für diejenigen Frauen, deren Weg in ihre Geschlechtsidentität weniger verwickelt war als der Gabriel/les, hat er nicht viel übrig: „Was soll ich denn mit einem kleinen Dummchen, das nichts kann außer sticken und sich bekreuzigen? Es gibt da auch ein paar Kokette und Aufgeweckte, die einem vom Weihwasserbecken her verzehrende Blicke zuwerfen. Die sind schlimmer als unsere Kurtisanen.“
Durch Zufall stellt er eines Tages fest, dass Gabriel/le jedoch mindestens einige körperliche Merkmale mit genau diesen Koketten, Aufgeweckten oder Kurtisanen teilt, was ihm insofern entgegenkommt, als dass er nun eine legale Ehe mit seinem vermeintlichen Cousin eingehen könnte. Ein Leben als Ehefrau, so erkennt Gabrielle, die eine Zeit lang mit Astolphe zusammenlebt, bedeutet jedoch geradezu eine Mutation; das Einzwängen ein Korsett, das Anfertigen von Stickereien in einem engen häuslichen Radius, ständige moralische Vorhaltungen durch die Verwandtschaft.
Vermutlich hätten dennoch zur gleichen Zeit viele Frauen ein solches Leben der harten körperlichen Arbeit in den Haushalten der gehobenen Gesellschaft und auf dem Feld vorgezogen – aber George Sand imaginiert hier eben eine Renaissance, die sich neben dem Problem von Gender nicht auch noch das der Klasse aufhalst. Hier verlieben sich Fürstensprösslinge ineinander, deren Subjektivität von der bürgerlichen Liebesordnung, die sich zur Lebenszeit Sands entwickelte, noch nichts wissen kann.
Sichtbar wird unter anderem an diesem Punkt, warum Sand, genauso wie viele heutige Autorinnen und Autoren für einen diskursiv so aufgeladenen Roman ein historisches Setting wählt: Während ein mehr oder weniger realistischer Rahmen für die Handlung erhalten bleibt, projiziert sie doch Sensibilitäten und Interessen ihrer eigenen Gegenwart in eine Renaissance, die als Epoche so gut erkennbar bleibt wie eine mit stark verwässerter Aquarellfarbe hingetupfte Kulisse.
Vor dieser entfaltet sich dann der dramatische Höhepunkt des Romans, der erreicht wird, als Gabriel/le den Heiratsantrag Astolphes zurückweist, um einem Leben als genau die Karikatur von Frau zu entgehen, die ihr Galan so abfällig beschrieben hatte. Gabriel/le bleibt schließlich nur die Flucht in Männerkleidern aus dem Leben eines Mannes, der für sie Verwandter, Bedränger und Geliebter zugleich ist.
Da jedoch nicht nur er, sondern auch der Rest der Familie Gabriel/les Freiheitsstreben nicht gutheißen kann, ermordet ihn ein Häscher am Ufer des Tibers. Es wäre schön, wenn nicht ausgerechnet dieser Teil des Romans jener wäre, der vor dem Hintergrund der Morde an trans Personen und all jenen, die für die autonome Entscheidung über Geschlechtsidentität kämpfen, der aktuellste wäre.
HANNA ENGELMEIER
Der Roman spielt
in der Renaissance, doch die
Epoche bleibt Kulisse
George Sand:
Gabriel.
Ein Dialogroman.
Aus dem Französischen von Elsbeth Ranke.
Reclam, Ditzingen 2022.
176 Seiten, 18 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.11.2022Fließende Geschlechteridentitäten? Alter Hut!
In Frankreich blühte das Genre schon vor zweihundert Jahren: Ein besonders gelungener Roman daraus ist George Sands "Gabriel"
Fließende Geschlechteridentitäten waren einst ein reizvolles literarisches Spiel, und die französische Literatur der Dreißigerjahre des neunzehnten Jahrhunderts hat es darin zur Meisterschaft gebracht. Am bekanntesten ist Honoré de Balzacs Novelle "Sarrasine" (1830), die von der leidenschaftlichen Liebe zu einem Kastraten erzählt; Roland Barthes hat ihr seine Studie "S/Z" gewidmet. Théophile Gautiers Roman "Mademoiselle de Maupin" (1835) ist nicht nur wegen des Vorworts, das die "L'art pour l'art"-These verteidigt, bekannt; er entwickelt ein reizvolles Spiel um die Identität einer jungen Frau, die sich als Mann ausgibt. In der Reihe fehlt noch ein weiblicher Beitrag, und den hat George Sand 1839 mit "Gabriel", einem "Dialogroman", geleistet.
"Gabriel" erzählt von einer jungen Frau, die als adeliger Erbe herangezogen wird. Setting ist Italien, vermutlich in der Renaissance. Strippenzieher ist Gabriels Großvater, Fürst von Bramante: Ziel seines Manövers ist es, Astolphe, den zweiten Enkel und nichtsnutzigen Sohn eines ungeliebten Nachkommen, um sein Erbe zu bringen. Als Gabriel siebzehn Jahre alt ist, informiert der Fürst ihn über sein Geschlecht und stellt "dieses merkwürdige Geschöpf" vor die Wahl, ein herrschaftliches Leben als Mann oder eine Klosterexistenz als Frau zu führen. Verwirrt flieht Gabriel und trifft in einer Spelunke den Cousin Astolphe; sie rettet ihn vor Halsabschneidern - und verliebt sich. Als Gabriel sich bei einem Kostümball als Frau "verkleidet", gerät auch Astolphe durcheinander; schließlich entdeckt er, dass Gabriel in Wahrheit Gabrielle ist. Cousin und Cousine werden ein Paar, verbringen eine Hälfte des Jahres auf dem Land, die andere in der Stadt; in der Öffentlichkeit ist Gabriel Mann, privat Frau. Astolphe schwankt zwischen der Faszination für die Geliebte in männlicher Verkleidung und der eifersüchtigen Furcht, man könne sie ihm streitig machen. Gabriel lehnt Besitzdenken und Ehewünsche als "Tyrannei" ab, die Liebe schwindet. Währenddessen hat der Großvater seine Schergen auf sie angesetzt. Im römischen Karneval kommen die Ereignisse zu ihrem tragischen Ende.
Im Kern steht neben der Identitätsfrage die der großen Liebe. Gabriel - im Gedanken "der ruhmreichen Stellung des Mannes und von der Schmach der weiblichen Rolle in Natur und Gesellschaft" groß geworden - vertritt zugleich eine idealistische Liebesvorstellung, der Astolphe nicht gerecht zu werden vermag: "Ich will dich heilig lieben und dich in meiner Seele neben die Idee Gottes stellen, neben das Streben nach Vollkommenheit." So romantisch, so gut. Spannender ist das "naturphilosophische Experiment" selbst, das eine Frau zum Mann erzieht: "Und, was haben Sie herausgefunden? Dass eine Frau durch Erziehung genauso viel Logik, Erkenntnis und Mut erwerben kann wie ein Mann. Doch Sie konnten nicht verhindern, dass sie ein empfindsameres Herz hat und dass bei ihr die Liebe über die Hirngespinste des Ehrgeizes triumphiert."
Was Astolphe dem Präzeptor vorwirft, scheint das Ideal Sands darzustellen: die Kombination männlicher Freiheit und Willenskraft mit weiblicher Herzensreinheit. George Sand (1804 bis 1876), geborene Amantine Aurore Lucile Dupin de Francueil, eine Nachfahrin von August dem Starken, war selbst so frei, sich ein männliches Pseudonym zuzulegen und während ihrer Parisaufenthalte in Männerkleidung durch die Stadt zu gehen, um ungestört rauchen zu können. Sie verkehrte in Literatenzirkeln als Gleichberechtigte und trotzte dem starken Geschlecht Privilegien ab, etwa das, neben Männern - darunter Alfred de Musset und Frédéric Chopin - auch Frauen zu lieben. Gustave Flaubert nannte sie in seinen Briefen treffend "chère maître", "liebe Meister".
Das größte Privileg freilich war, als Frau des neunzehnten Jahrhunderts gut von ihrer Feder leben zu können. Sand schuf ein riesiges Werk, allein mehr als sechzig Romane, und platzierte es in zentralen Organen: "Gabriel" etwa, von der Vierunddreißigjährigen rasch in einem Gasthof inmitten spielender Kinder verfasst, erschien in der "Revue des Deux Mondes". Diesen biographischen und den Epochenkontext liefert das Nachwort von Walburga Hülk. Interessant wäre ein Wort zur deutschen Rezeption gewesen, schließlich wurde der Text schon 1840 von Ernst Susemihl übertragen (für Kollmann, Leipzig) - anders als vom Verlag behauptet, handelt es sich bei Elsbeth Rankes Übersetzung also nicht um die erste.
Die Infragestellung geschlechtlicher Identitäten gerade unter Rückgriff auf ein romantisches Standardvokabular, das 1839 längst zu erstarren drohte, trägt wesentlich zur Eigenart dieses konzentrierten Textes bei. Ein weiterer Punkt sind die burlesken Szenen, die sich aus den wankenden Rollenbildern ergeben - gern sieht man gestandene Mannsbilder wie Astolphes Rivalen Antonio vom Zweifel zerzaust. Nicht zuletzt macht die eigenwillige Form den Text für die Heutigen attraktiv: Der "Dialogroman" ist von seiner Anlage als Wechselrede her dramatisch; kurze Szenenangaben verstärken die Bühnentauglichkeit. Hinzu kommt eine Struktur in fünf Teilen, denen ein Prolog vorausgeht - die klassische Dramenform klingt an.
Die Behandlung von Ort und Zeit ist zwar großzügig, die Handlung erstreckt sich über Jahre, und es wird großzügig von Ort zu Ort gesprungen; aber all das war seit der Schlacht von "Hernani" (1830) und dem Sieg des romantischen Theaters gang und gäbe. Tatsächlich hat Sand von "Gabriel" später, nämlich 1852, eine illustrierte Bühnenfassung erstellt - die jedoch von den Theatern abgelehnt wurde. Das mag Sand geschmerzt haben, waren doch im Jahrhundert des Romans nach wie vor aller Augen auf die Bühne gerichtet. Vieles spricht dafür, dieses Versäumnis heute nachzuholen. Gern auch in Deutschland: Rankes Fassung trifft den idealisch-virilen Ton Sands wunderbar. NIKLAS BENDER
George Sand: "Gabriel". Ein Dialogroman.
Aus dem Französischen von Elsbeth Ranke. Nachwort von Walburga Hülk. Reclam, Ditzingen 2022. 176 S., geb., 18,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In Frankreich blühte das Genre schon vor zweihundert Jahren: Ein besonders gelungener Roman daraus ist George Sands "Gabriel"
Fließende Geschlechteridentitäten waren einst ein reizvolles literarisches Spiel, und die französische Literatur der Dreißigerjahre des neunzehnten Jahrhunderts hat es darin zur Meisterschaft gebracht. Am bekanntesten ist Honoré de Balzacs Novelle "Sarrasine" (1830), die von der leidenschaftlichen Liebe zu einem Kastraten erzählt; Roland Barthes hat ihr seine Studie "S/Z" gewidmet. Théophile Gautiers Roman "Mademoiselle de Maupin" (1835) ist nicht nur wegen des Vorworts, das die "L'art pour l'art"-These verteidigt, bekannt; er entwickelt ein reizvolles Spiel um die Identität einer jungen Frau, die sich als Mann ausgibt. In der Reihe fehlt noch ein weiblicher Beitrag, und den hat George Sand 1839 mit "Gabriel", einem "Dialogroman", geleistet.
"Gabriel" erzählt von einer jungen Frau, die als adeliger Erbe herangezogen wird. Setting ist Italien, vermutlich in der Renaissance. Strippenzieher ist Gabriels Großvater, Fürst von Bramante: Ziel seines Manövers ist es, Astolphe, den zweiten Enkel und nichtsnutzigen Sohn eines ungeliebten Nachkommen, um sein Erbe zu bringen. Als Gabriel siebzehn Jahre alt ist, informiert der Fürst ihn über sein Geschlecht und stellt "dieses merkwürdige Geschöpf" vor die Wahl, ein herrschaftliches Leben als Mann oder eine Klosterexistenz als Frau zu führen. Verwirrt flieht Gabriel und trifft in einer Spelunke den Cousin Astolphe; sie rettet ihn vor Halsabschneidern - und verliebt sich. Als Gabriel sich bei einem Kostümball als Frau "verkleidet", gerät auch Astolphe durcheinander; schließlich entdeckt er, dass Gabriel in Wahrheit Gabrielle ist. Cousin und Cousine werden ein Paar, verbringen eine Hälfte des Jahres auf dem Land, die andere in der Stadt; in der Öffentlichkeit ist Gabriel Mann, privat Frau. Astolphe schwankt zwischen der Faszination für die Geliebte in männlicher Verkleidung und der eifersüchtigen Furcht, man könne sie ihm streitig machen. Gabriel lehnt Besitzdenken und Ehewünsche als "Tyrannei" ab, die Liebe schwindet. Währenddessen hat der Großvater seine Schergen auf sie angesetzt. Im römischen Karneval kommen die Ereignisse zu ihrem tragischen Ende.
Im Kern steht neben der Identitätsfrage die der großen Liebe. Gabriel - im Gedanken "der ruhmreichen Stellung des Mannes und von der Schmach der weiblichen Rolle in Natur und Gesellschaft" groß geworden - vertritt zugleich eine idealistische Liebesvorstellung, der Astolphe nicht gerecht zu werden vermag: "Ich will dich heilig lieben und dich in meiner Seele neben die Idee Gottes stellen, neben das Streben nach Vollkommenheit." So romantisch, so gut. Spannender ist das "naturphilosophische Experiment" selbst, das eine Frau zum Mann erzieht: "Und, was haben Sie herausgefunden? Dass eine Frau durch Erziehung genauso viel Logik, Erkenntnis und Mut erwerben kann wie ein Mann. Doch Sie konnten nicht verhindern, dass sie ein empfindsameres Herz hat und dass bei ihr die Liebe über die Hirngespinste des Ehrgeizes triumphiert."
Was Astolphe dem Präzeptor vorwirft, scheint das Ideal Sands darzustellen: die Kombination männlicher Freiheit und Willenskraft mit weiblicher Herzensreinheit. George Sand (1804 bis 1876), geborene Amantine Aurore Lucile Dupin de Francueil, eine Nachfahrin von August dem Starken, war selbst so frei, sich ein männliches Pseudonym zuzulegen und während ihrer Parisaufenthalte in Männerkleidung durch die Stadt zu gehen, um ungestört rauchen zu können. Sie verkehrte in Literatenzirkeln als Gleichberechtigte und trotzte dem starken Geschlecht Privilegien ab, etwa das, neben Männern - darunter Alfred de Musset und Frédéric Chopin - auch Frauen zu lieben. Gustave Flaubert nannte sie in seinen Briefen treffend "chère maître", "liebe Meister".
Das größte Privileg freilich war, als Frau des neunzehnten Jahrhunderts gut von ihrer Feder leben zu können. Sand schuf ein riesiges Werk, allein mehr als sechzig Romane, und platzierte es in zentralen Organen: "Gabriel" etwa, von der Vierunddreißigjährigen rasch in einem Gasthof inmitten spielender Kinder verfasst, erschien in der "Revue des Deux Mondes". Diesen biographischen und den Epochenkontext liefert das Nachwort von Walburga Hülk. Interessant wäre ein Wort zur deutschen Rezeption gewesen, schließlich wurde der Text schon 1840 von Ernst Susemihl übertragen (für Kollmann, Leipzig) - anders als vom Verlag behauptet, handelt es sich bei Elsbeth Rankes Übersetzung also nicht um die erste.
Die Infragestellung geschlechtlicher Identitäten gerade unter Rückgriff auf ein romantisches Standardvokabular, das 1839 längst zu erstarren drohte, trägt wesentlich zur Eigenart dieses konzentrierten Textes bei. Ein weiterer Punkt sind die burlesken Szenen, die sich aus den wankenden Rollenbildern ergeben - gern sieht man gestandene Mannsbilder wie Astolphes Rivalen Antonio vom Zweifel zerzaust. Nicht zuletzt macht die eigenwillige Form den Text für die Heutigen attraktiv: Der "Dialogroman" ist von seiner Anlage als Wechselrede her dramatisch; kurze Szenenangaben verstärken die Bühnentauglichkeit. Hinzu kommt eine Struktur in fünf Teilen, denen ein Prolog vorausgeht - die klassische Dramenform klingt an.
Die Behandlung von Ort und Zeit ist zwar großzügig, die Handlung erstreckt sich über Jahre, und es wird großzügig von Ort zu Ort gesprungen; aber all das war seit der Schlacht von "Hernani" (1830) und dem Sieg des romantischen Theaters gang und gäbe. Tatsächlich hat Sand von "Gabriel" später, nämlich 1852, eine illustrierte Bühnenfassung erstellt - die jedoch von den Theatern abgelehnt wurde. Das mag Sand geschmerzt haben, waren doch im Jahrhundert des Romans nach wie vor aller Augen auf die Bühne gerichtet. Vieles spricht dafür, dieses Versäumnis heute nachzuholen. Gern auch in Deutschland: Rankes Fassung trifft den idealisch-virilen Ton Sands wunderbar. NIKLAS BENDER
George Sand: "Gabriel". Ein Dialogroman.
Aus dem Französischen von Elsbeth Ranke. Nachwort von Walburga Hülk. Reclam, Ditzingen 2022. 176 S., geb., 18,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main