Im Frühjahr 1992, als die serbische Armee mit der Blockade Sarajevos beginnt, gelingt dem damaligen Literaturstudenten Teodor Ceric die Flucht aus seiner Heimatstadt. Er reist ohne festes Ziel quer durch Europa, seinen Lebensunterhalt verdient er sich mit Gelegenheitsarbeiten. So findet er Anstellung als Hilfsgärtner auf einem Anwesen im englischen Surrey, wo einst ein Schmuckeremit lebte, der sich zu bestimmten Tageszeiten zeigen musste, um die Gäste des Parks mit seinem Anblick zu erfreuen. In der Nähe von Paris besucht er den Garten Samuel Becketts, der auch von Godot hätte stammen können: einfach, streng, traurig, aufopferungsvoll verteidigt gegen jeden einzelnen Maulwurf. In Rom findet er einen einsamen Park namens Monte Caprino, wo die Römer einst Verräter in den Tod stürzten und der heute nur nachts seinen Zauber entfaltet ...Viele Gärten entstehen aus Sehnsucht nach einer Lebensweise, die uns abhandengekommen, aber immer noch vertraut ist. Und gleichzeitig sind sie Ausdruck eines profunden Humanismus, denn jeder Gärtner weiß, sein Werk gehört ihm nie allein. Marco Martella hat Teodor Cerics Reiseberichte in einem Band vereint und so eine Ode an das Leben geschaffen - das erst an jenem Tag vollends beginnt, an dem man einen Garten anlegt.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Jörg Albrecht lässt die Bombe erst zum Schluss seiner Besprechung platzen: Den Literaturstudenten Teodor Ceric, der in den Neunzigerjahren vor dem Krieg in Sarajevo floh, durch Europa reiste und dichtete, Jahre später beschloss, nie wieder zu veröffentlichen - und nur noch diesen Band über bizarre Gärten vorlegte, hat es nie gegeben. Er ist schlicht eine Erfindung des hier als "Herausgeber" auftretenden Marco Martella. Macht aber nichts, versichert der Kritiker, denn die Gartenbesuche sind auch so mehr als lesenswert. So besucht der Kritiker etwa den Garten des britischen Filmemachers Derek Jarman, der nach einer Aids-Diagnose in der Nähe eines Atomkraftwerks einen kuriosen Garten aus Steinen, Schrott, Meerkohl und Stinkendem Pippau anlegte, oder den Garten von Samuel Beckett, der in seiner Trostlosigkeit wie die Bühne für "Warten auf Godot" wirkte. Nicht zuletzt liest der Kritiker hier einen Bildungsroman, der vor allem durch seine Rätselhaftigkeit und Zeitvergessenheit besticht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.03.2024Der Nymphe strenges Gebot
Auf Marbots Spuren:
Ein Gartenhistoriker überredet einen Dichter, seine idiosynkratische
Grand Tour durch Parks und andere Orte zu beschreiben.
Im Frühjahr 1992, als die serbische Armee beginnt, Sarajevo zu belagern, beschließt der zweiundzwanzigjährige Literaturstudent Teodor Ceric, vor dem Krieg davonzulaufen. Er begibt sich auf eine Odyssee durch Europa, schlägt sich jahrelang mit Hilfsarbeiten durch. Irgendwann kehrt er nach Bosnien zurück und lässt sich auf dem flachen Land nieder.
Dort beginnt er, Literaturkritiken zu schreiben, und publiziert einen Gedichtband mit dem Titel "Samo od poetike mo e poezija izdahnuti" (Nur das Poetische kann die Poesie töten), der weithin Beachtung findet. Ein neuer Ton der "bäuerlich einfachen und jedem Lyrismus fremden Romantik" werde da angestimmt, heißt es. Doch dann, mit 46 Jahren, auf dem Höhepunkt seines Erfolgs, gibt Ceric ein Interview und erklärt, nie wieder etwas veröffentlichen zu wollen. Fortan wolle er sich bloß noch seinem Garten widmen, fernab von jedem Trubel.
Die Kunde von dem geheimen Zufluchtsort verbreitet sich dennoch. Der Essayist und Gartenhistoriker Marco Martella, Herausgeber der Zeitschrift "Jardins", überredet den verstummten Dichter, noch einmal einige Texten herauszurücken. Unter dem Titel "Gärten in Zeiten des Krieges" sind sie jetzt auf Deutsch erschienen.
Man liest hinein und staunt. Keine Schwärmereien von englischen Landschaftsgärten, alten Rosensorten oder üppigen Staudenbeeten werden hier ausgebreitet. Im Gegenteil geht es los mit der Beschreibung einer schwarz geteerten Fischerhütte auf der Landspitze Dungeness, die der britische Maler und Filmemacher Derek Jarman 1986 gekauft hatte, nachdem er erfahren musste, dass er unheilbar an Aids erkrankt sei. Er nannte sie "Prospect Cottage".
Über die baum- und trostlose Ebene fegt ein ewiger Wind. Einzige Attraktion ist das Atomkraftwerk am Ende der Küstenstraße. Mit ungeschütztem Blick auf Reaktorblöcke und Hochspannungsmasten ging Derek Jarman daran, sein letztes Werk zu gestalten. Er schleppte Steine, Strandgut und Schrott herbei, arrangierte sie zu einem Memento mori und übte sich in Betrachtungen über Gott und die Welt. Es wächst, was sich auf dem kargen Boden behaupten kann: Meerkohl, Zypressenkraut, Ginster, Baldrian und bald sogar eine vom Aussterben bedrohte Art, der Stinkende Pippau. Acht Jahre lang, in denen er seine Sehkraft immer mehr verlor, hat Jarman diesen Flecken Erde bearbeitet. Der Garten hat ihn überdauert und ist zu einer Pilgerstätte für Freunde des Bizarren geworden. Teodor Ceric schrieb nach seinem Besuch auf Dungeness, er habe in dem verstorbenen Künstler einen Bruder im Geiste erkannt, der ihn auf seinem weiteren Weg begleiten sollte. Die nächste Station hieß Kreta. In einem dunklen, verrauchten Café in einem Vorort von Heraklion hört der Dichter zum ersten Mal den Namen des Sängers Anatólios Smith, eines längst vergessenen Anführers der studentischen Proteste gegen die griechische Militärjunta, der von den Obristen eingesperrt und gefoltert worden war. Nach seiner Entlassung hätte er sich, hochgradig verwirrt, in eine Höhle in den Bergen zurückgezogen.
Ceric spürt ihn auf, bringt ihn zum Reden und erfährt, dass Anatólios einer Nymphe verfallen ist. Sie habe ihm Augenblicke derart intensiver Lust bereitet, dass sich sein Geist für immer trübte. Als Gegenleistung habe sie von ihm verlangt, einen Wald anzulegen. Seitdem habe er Tausende von Zypressen, Olivenbäumen, Myrten und Steineichen gepflanzt. Nachts lausche er den Eulen und sei glücklich.
Um sein Gedächtnis auf die Probe zu stellen, singt Ceric dem seltsamen Heiligen zum Abschied ein paar Zeilen aus dem Protestsong vor, mit dem dieser damals berühmt wurde: "One day I will quit this war/I will bury my rifle in the ground/ Will a tree grow out of it?/O I'm just a lonely, lonely soldier . . ." Der Alte dreht sich wortlos um und verschwindet zwischen seinen Bäumen.
So reist Teodor Ceric von einer Begegnung zur nächsten. In Rom mischt er sich nachts unter die Homosexuellen, die sich im Park am Fuße des Monte Caprino, des Ziegenbergs, treffen. Stundenlang sitzt er auf einer Bank, hängt seinen Gedanken nach, bis die Morgendämmerung kommt, immer viel zu schnell, wie er findet. In Frankreich besucht er das Haus, das sich der Schriftsteller Samuel Beckett in Ussy-sur-Marne errichten ließ, samt kurz gemähtem Rasen und einer Art Gefängnismauer, passende Bühne für sein Theaterstück "Warten auf Godot".
In England bewirbt sich Ceric als Hilfsgärtner im historischen Park von Painshill. Er findet eine künstliche Grotte, in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts ein Schmuck-Eremit gelebt haben soll, der unter anderem dazu verpflichtet war, sich sieben Jahre lang weder das Haar noch den Bart oder die Nägel zu schneiden und mit niemandem zu reden.
Die Grand Tour endet in Graz, wo der Dichter von einer zurückgezogen lebenden Dame als Privatlehrer engagiert wird, um ihr Unterricht in Serbokroatisch zu geben. Eines Tages überrascht er sie in ihrem winzigen, von Farngewächsen aus aller Herren Länder überwucherten Innenhof. Da geht ihm auf, dass es an der Zeit ist, heimzukehren.
Ein Bildungsroman, wie man ihn kürzer und exemplarischer kaum zu Papier bringen kann: Wie nur wenigen Autoren gelingt es Teodor Ceric, die seltenen Momente einzufangen, die einen aus dem seelischen Gleichgewicht geratenen Menschen zurück ins Lot bringen können: Zeitvergessen, der Geschichte enthoben, sprachlos im vermeintlichen Einklang mit der Natur und, ja, auch ein wenig verblödet.
Man hätte gern mehr über den Autor erfahren. Doch die Fußnoten, die der Herausgeber gelegentlich einstreut, helfen nicht weiter. Cerics Gedichte lassen sich nirgendwo finden. Auch nicht sein Abschiedsinterview. Ominös bleibt so manches. Die Suche nach dem Sänger Anatólios Smith verläuft im Sande. Der Schmuck-Eremit von Painshill soll keine sieben Jahre ausgeharrt haben, sondern schon nach drei Wochen im nächsten Pub verschwunden sein. Das Porträtfoto des Autors im Verlagskatalog zeigt den Herausgeber. Und so fort.
Marco Martella, stellt sich heraus, hat den Autor Teodor Ceric und dessen Biographie schlicht erfunden. Ein literarischer Kunstgriff, der sich auch sonst in seinen Texten findet. Er schmälert den Wert seines Buchs nicht im Geringsten. JÖRG ALBRECHT
Teodor Ceric: "Gärten in Zeiten des Krieges". Reiseberichte aus Europa.
Hrsgg. von Marco Martella. A. d. Französischen von Tobias Scheffel. Illustriert von Anne-Laure Exbrayat. Liebeskind Verlag, München 2024. 120 S., geb., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Auf Marbots Spuren:
Ein Gartenhistoriker überredet einen Dichter, seine idiosynkratische
Grand Tour durch Parks und andere Orte zu beschreiben.
Im Frühjahr 1992, als die serbische Armee beginnt, Sarajevo zu belagern, beschließt der zweiundzwanzigjährige Literaturstudent Teodor Ceric, vor dem Krieg davonzulaufen. Er begibt sich auf eine Odyssee durch Europa, schlägt sich jahrelang mit Hilfsarbeiten durch. Irgendwann kehrt er nach Bosnien zurück und lässt sich auf dem flachen Land nieder.
Dort beginnt er, Literaturkritiken zu schreiben, und publiziert einen Gedichtband mit dem Titel "Samo od poetike mo e poezija izdahnuti" (Nur das Poetische kann die Poesie töten), der weithin Beachtung findet. Ein neuer Ton der "bäuerlich einfachen und jedem Lyrismus fremden Romantik" werde da angestimmt, heißt es. Doch dann, mit 46 Jahren, auf dem Höhepunkt seines Erfolgs, gibt Ceric ein Interview und erklärt, nie wieder etwas veröffentlichen zu wollen. Fortan wolle er sich bloß noch seinem Garten widmen, fernab von jedem Trubel.
Die Kunde von dem geheimen Zufluchtsort verbreitet sich dennoch. Der Essayist und Gartenhistoriker Marco Martella, Herausgeber der Zeitschrift "Jardins", überredet den verstummten Dichter, noch einmal einige Texten herauszurücken. Unter dem Titel "Gärten in Zeiten des Krieges" sind sie jetzt auf Deutsch erschienen.
Man liest hinein und staunt. Keine Schwärmereien von englischen Landschaftsgärten, alten Rosensorten oder üppigen Staudenbeeten werden hier ausgebreitet. Im Gegenteil geht es los mit der Beschreibung einer schwarz geteerten Fischerhütte auf der Landspitze Dungeness, die der britische Maler und Filmemacher Derek Jarman 1986 gekauft hatte, nachdem er erfahren musste, dass er unheilbar an Aids erkrankt sei. Er nannte sie "Prospect Cottage".
Über die baum- und trostlose Ebene fegt ein ewiger Wind. Einzige Attraktion ist das Atomkraftwerk am Ende der Küstenstraße. Mit ungeschütztem Blick auf Reaktorblöcke und Hochspannungsmasten ging Derek Jarman daran, sein letztes Werk zu gestalten. Er schleppte Steine, Strandgut und Schrott herbei, arrangierte sie zu einem Memento mori und übte sich in Betrachtungen über Gott und die Welt. Es wächst, was sich auf dem kargen Boden behaupten kann: Meerkohl, Zypressenkraut, Ginster, Baldrian und bald sogar eine vom Aussterben bedrohte Art, der Stinkende Pippau. Acht Jahre lang, in denen er seine Sehkraft immer mehr verlor, hat Jarman diesen Flecken Erde bearbeitet. Der Garten hat ihn überdauert und ist zu einer Pilgerstätte für Freunde des Bizarren geworden. Teodor Ceric schrieb nach seinem Besuch auf Dungeness, er habe in dem verstorbenen Künstler einen Bruder im Geiste erkannt, der ihn auf seinem weiteren Weg begleiten sollte. Die nächste Station hieß Kreta. In einem dunklen, verrauchten Café in einem Vorort von Heraklion hört der Dichter zum ersten Mal den Namen des Sängers Anatólios Smith, eines längst vergessenen Anführers der studentischen Proteste gegen die griechische Militärjunta, der von den Obristen eingesperrt und gefoltert worden war. Nach seiner Entlassung hätte er sich, hochgradig verwirrt, in eine Höhle in den Bergen zurückgezogen.
Ceric spürt ihn auf, bringt ihn zum Reden und erfährt, dass Anatólios einer Nymphe verfallen ist. Sie habe ihm Augenblicke derart intensiver Lust bereitet, dass sich sein Geist für immer trübte. Als Gegenleistung habe sie von ihm verlangt, einen Wald anzulegen. Seitdem habe er Tausende von Zypressen, Olivenbäumen, Myrten und Steineichen gepflanzt. Nachts lausche er den Eulen und sei glücklich.
Um sein Gedächtnis auf die Probe zu stellen, singt Ceric dem seltsamen Heiligen zum Abschied ein paar Zeilen aus dem Protestsong vor, mit dem dieser damals berühmt wurde: "One day I will quit this war/I will bury my rifle in the ground/ Will a tree grow out of it?/O I'm just a lonely, lonely soldier . . ." Der Alte dreht sich wortlos um und verschwindet zwischen seinen Bäumen.
So reist Teodor Ceric von einer Begegnung zur nächsten. In Rom mischt er sich nachts unter die Homosexuellen, die sich im Park am Fuße des Monte Caprino, des Ziegenbergs, treffen. Stundenlang sitzt er auf einer Bank, hängt seinen Gedanken nach, bis die Morgendämmerung kommt, immer viel zu schnell, wie er findet. In Frankreich besucht er das Haus, das sich der Schriftsteller Samuel Beckett in Ussy-sur-Marne errichten ließ, samt kurz gemähtem Rasen und einer Art Gefängnismauer, passende Bühne für sein Theaterstück "Warten auf Godot".
In England bewirbt sich Ceric als Hilfsgärtner im historischen Park von Painshill. Er findet eine künstliche Grotte, in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts ein Schmuck-Eremit gelebt haben soll, der unter anderem dazu verpflichtet war, sich sieben Jahre lang weder das Haar noch den Bart oder die Nägel zu schneiden und mit niemandem zu reden.
Die Grand Tour endet in Graz, wo der Dichter von einer zurückgezogen lebenden Dame als Privatlehrer engagiert wird, um ihr Unterricht in Serbokroatisch zu geben. Eines Tages überrascht er sie in ihrem winzigen, von Farngewächsen aus aller Herren Länder überwucherten Innenhof. Da geht ihm auf, dass es an der Zeit ist, heimzukehren.
Ein Bildungsroman, wie man ihn kürzer und exemplarischer kaum zu Papier bringen kann: Wie nur wenigen Autoren gelingt es Teodor Ceric, die seltenen Momente einzufangen, die einen aus dem seelischen Gleichgewicht geratenen Menschen zurück ins Lot bringen können: Zeitvergessen, der Geschichte enthoben, sprachlos im vermeintlichen Einklang mit der Natur und, ja, auch ein wenig verblödet.
Man hätte gern mehr über den Autor erfahren. Doch die Fußnoten, die der Herausgeber gelegentlich einstreut, helfen nicht weiter. Cerics Gedichte lassen sich nirgendwo finden. Auch nicht sein Abschiedsinterview. Ominös bleibt so manches. Die Suche nach dem Sänger Anatólios Smith verläuft im Sande. Der Schmuck-Eremit von Painshill soll keine sieben Jahre ausgeharrt haben, sondern schon nach drei Wochen im nächsten Pub verschwunden sein. Das Porträtfoto des Autors im Verlagskatalog zeigt den Herausgeber. Und so fort.
Marco Martella, stellt sich heraus, hat den Autor Teodor Ceric und dessen Biographie schlicht erfunden. Ein literarischer Kunstgriff, der sich auch sonst in seinen Texten findet. Er schmälert den Wert seines Buchs nicht im Geringsten. JÖRG ALBRECHT
Teodor Ceric: "Gärten in Zeiten des Krieges". Reiseberichte aus Europa.
Hrsgg. von Marco Martella. A. d. Französischen von Tobias Scheffel. Illustriert von Anne-Laure Exbrayat. Liebeskind Verlag, München 2024. 120 S., geb., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main