In Gästebuch erkundet eine der originellsten Erzählerinnen und Künstlerinnen der Gegenwart die gleichermaßen flirrenden wie verstörenden Ereignisse, die Menschen im Leben heimsuchen können, von denen sie sich aber kaum zu erzählen trauen. Ein Tennis-Wunderkind kollabiert nach jedem gewonnen Match und schreibt den Sieg einer unsichtbaren, nicht ganz wohlwollenden Existenz zu. Eine Frau kehrt mit einem seltsamen Gefühl von einer Besichtigung der ehemaligen Gefängnisinsel Alcatraz zurück. Der Geist eines Gefangenen habe sich an sie geheftet, behauptet eine Freundin. Er habe ihr Mitleid für seinesgleichen gespürt. Ein Mann in einem blauen Anzug taucht auf zahllosen Society-Events überall in der Stadt auf - am selben Tag, zur selben Zeit.
Leanne Shapton komponiert zahlreiche solcher Geschichten und Erinnerungen mit anderem Material - zufällig vorgefundenen Fotografien, eigenen Zeichnungen, Instagram-artigen Porträts - zu einem vielschichtigen Kuriositätenkabinett und verwandelt damit die klassische Geistergeschichte in etwas völlig Neues.
Leanne Shapton komponiert zahlreiche solcher Geschichten und Erinnerungen mit anderem Material - zufällig vorgefundenen Fotografien, eigenen Zeichnungen, Instagram-artigen Porträts - zu einem vielschichtigen Kuriositätenkabinett und verwandelt damit die klassische Geistergeschichte in etwas völlig Neues.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rezensentin Angela Schader ist entzückt von Leanne Shaptons Buch, in dem Texte und alte Archivbilder in spannende Assoziations- oder Dissoziationsverhältnisse treten, so Schader. So fülle Shapton mal die Leerstellen von Archivfotos mit unheimlichen Geschichten aus, lasse aber auch manchmal Fotostrecken für sich sprechen oder führe eigens zu Bildern verfasste Kommentare ohne das entsprechende Bild vor, staunt Schader. Den daraus resultierenden Effekt einer Grenzverwischung zwischen Dokumentation und Imagination findet die Rezensentin beeindruckend und Shaptons Buch "hochpräzise" gearbeitet und kreativ.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.11.2020Wir sind doch glücklich
Genau das Richtige für die Zeit der Phantomschmerzen: Die kanadische Künstlerin Leanne Shapton und ihr
sinnliches „Gästebuch“ der Heimsuchungen, der Erinnerungen und enttäuschten Erwartungen
VON MEIKE FESSMANN
Ein Gespräch über Geister sei kein gutes Thema für eine Cocktailparty, heißt es in diesem Buch. Seine Stunde ist gekommen, wenn die Gäste gegangen sind. Gäste, welche Gäste? Womöglich solche, die es gar nicht gibt. Heimsuchungen, Gespenster, Vorstellungen spuken durch das illustrierte „Gästebuch“, das die in New York lebende Kanadierin Leanne Shapton eingerichtet hat, als wäre es ein lebendiges Museum unserer Ängste und Wünsche.
Man öffnet es mit leichtem Schaudern, es ist schön und unheimlich, affiziert sofort mit geprägten Lettern auf dem Umschlag. Im rohweißen Schattenriss steht dort „Gespenstergeschichten“ unter dem roten Haupttitel, dazu stilisierte goldene Blüten, blass verwoben mit der Textur des Leineneinbands. Auf dem ersten Foto, es ist schwarz-weiß, blicken wir in die Augen eines kanadischen Kampfpiloten des Zweiten Weltkriegs. Sie sind blau, erfahren wir, und dass er Vögel auf der Fensterbank landen lässt, konservative Politiker mag und zu 75 Prozent taub ist. Er liegt auf einem Sofa, in Hemd und Krawatte, den rechten Arm erhoben, die Rückseite der Hand auf die Stirn gestützt: „Er zeigt sich in der Spiegelung der Terrassentür.“
Leanne Shapton, 1973 in Toronto geboren, ist Schriftstellerin, Künstlerin und Illustratorin. Sie hat schon einige bemerkenswerte Bücher gemacht, etwa das mit dem Esprit „gackernder Hühner“ in Szene gesetzte Paperback über „Frauen und Kleider“. In munteren Skype-Sitzungen mit der Kanadierin Sheila Heti und der US-Amerikanerin Heidi Julavits ersonnen, schildern 561 Frauen aus verschiedenen Kulturkreisen ihren Umgang mit Kleidung. Von Wasser und Ehrgeiz erzählt die ehemalige Leistungsschwimmerin in „Bahnen ziehen“. Aquarelle und Zeichnungen lassen sprachliche und bildliche Dimensionen zusammenfließen. Leanne Shapton, deren Mutter von den Philippinen stammt, hat großes Vertrauen in die Aussagekraft von Gegenständen und findet erzählerische Formen, die zeitgemäß und realistisch wirken, selbst wenn sich auf vermeintlichen Oberflächen fantastische Abgründe des Imaginären auftun. „Bedeutende Objekte und persönliche Besitzstücke aus der Sammlung von Leonore Doolan und Harold Morris, darunter Bücher, Mode und Schmuck“ lautet der verschwenderische Titel eines im Original 2009 erschienenen, von Rebecca Casati 2010 ins Deutsche übertragenen Buches, das in Form eines fiktiven Auktionskatalog vom Ende einer vierjährigen Beziehung erzählt.
Der seltsame symbolische Überschuss, der an Objekten haftet, die eine Geschichte versprechen, bekommt in diesem neuen Buch noch mehr Raum. Überhaupt ist dessen Lektüre eine dreidimensionale Erfahrung: Sie erfordert Zeit und Kontemplation. Man muss knobeln, erkunden – und, klar, auch immer wieder googeln. Dieses „Gästebuch“ spielt mit dem, was wir zu wissen glauben, und erst recht mit dem, was sich in unserem Unbewussten abgelagert hat. Das Unheimliche und seine Verbindung zum Heimlichen, zu kindlichen Geborgenheitshoffnungen sind die Klaviatur, auf der jede Schauergeschichte spielt.
Leanne Shapton verwendet Fotos, um uns zu triggern: Manche wirken so intim wie Fotos aus der eigenen Familie, andere, als wären sie einem Lehrbuch über Traumdeutung entnommen – leere Flure, Dachkammern, verwinkelte Treppenhäuser, Kellerräume –, wiederum andere, als kämen sie direkt aus einer Illustrierten: Bunte Party-Fotos mit Gläser schwenkenden Prominenten, der Blick springt zwischen Bild und Bildunterschrift hin und her, wie bei einer Zeitschrift. Nur seltsam, dass man keinen kennt. Oder doch nicht seltsam? Denn es gibt sie nicht, zumindest nicht als Promis, die man in Suchmaschinen finden könnte.
So werden inszenierte Gesten bloßgestellt, etwa die „Was sind wir glücklich und erfolgreich“-Attitüde, von der auch soziale Netzwerke leben. Das lässt nicht nur jede Form von Authentizität fragwürdig werden. Es durchlöchert unser Realitätsgefühl. „Gästebuch“ baut ein exquisites Setting, eine Art literarischen Traumfänger für Befürchtungen und Hoffnungen. Es gleicht einem Schallverstärker, der das allmähliche Abgleiten jedes Stimmungsaufschwungs in die schon bereitstehende Enttäuschung aufnimmt.
Es gibt nur wenige durchgängig erzählte Geschichten hier, die sich bilderlos über mehrere Seiten erstrecken. Etwa die einer Frau, die nach einem Besuch der Gefängnisinsel Alcatraz das Gefühl nicht loswird, eine Katze streiche um ihre Beine. Es sei der Geist eines Gefangenen, der ihr Mitleid gespürt habe, erfährt sie von einem Akupunkteur, der ihr zur Austreibung mit Salbeirauch rät.
In manchen Geschichten scheinen Fotos, Zeichnungen, Aquarelle und der Text etwas miteinander zu tun zu haben, gelegentlich widersprechen sie sich, oft nistet sich in der Kluft zwischen beidem eine merkwürdige Form der Poesie ein. Aquarelle von Tadzio aus Viscontis „Tod in Venedig“ zum Beispiel zeigen dessen Grazie in einer weißen, aus einer aquarellierten Fläche ausgesparten Figur. Sie haben aber nicht wirklich etwas mit der kleinen Geschichte zu tun, die auf dem unteren Drittel der Seiten erzählt wird. Und doch spielt etwas von der Ruhe der Aquarelle in die Geschichte herüber.
Sie handelt von einer Tochter, die von ihrem Vater nach der Weihnachtsfeier ins Auto getragen wird und plötzlich – wahrscheinlich, vielleicht, womöglich – eine Erwachsene ist, nämlich die dreiundvierzigjährige Frau, die das Hupen auf der Fifth Avenue vor ihrem Küchenfenster wahrnimmt. Sie hat – vermutlich – eine Tochter, welche nur eine Seite später wiederum das Kind auf dem Rücksitz ist. Fließend sind die Übergänge zwischen den Personalpronomen, die Perspektiven wechseln. Das sinnlich Wahrnehmbare verbindet sich mit Vermutungen und der Tiefendimension von Erfahrungen. Sechs knappe Zeilen rufen das Haus auf, in dem diese Frau früher gewohnt hat. Es soll zufälliggenau das sein, an dem Bob Dylan auf dem Plattencover seines zweiten Studioalbums „The Freewheelin’ Bob Dylan“ vorbeigeht, an ihn geschmiegt seine Freundin Suze Rotolo, „an einem verschneiten Wintertag“, vor rund sechzig Jahren. Fast täglich seien dort Paare zu sehen gewesen, die das „Tableau Vivant“ nachstellten, oft riskant mit Selbstauslöser, mitten auf der Straße.
Andere Fotos beschwören rätselhafte Tode, die sich durch den Tod eines Tieres ankündigen. Sie sollen sich an einem Ort namens Goldbourne zugetragen haben. Im Netz findet man zu diesem Stichwort das Angebot, den erfundenen Namen als Markennamen erwerben zu können (für etwas mehr als 1 500 Euro), mitsamt der dazugehörigen Domain, einem Logo und einer Erklärung, warum sich der Name nach einem guten Ort in ländlicher Szenerie anhört. Einen originellen Namen hat auch Sinforosa, die Großtante einer Ich-Erzählerin, die den Geist ihres Bruders in der Nacht seines Todes erkannt hat: „Ich kenne seine Füße“, hatte sie gesagt, erzählt die Mutter, die selbst nie einen Geist gesehen hat, aber den Seifengeruch ihres Lieblingslehrers wahrnahm, als er starb. Ein großes Tuch, in verschiedenen Posen fotografiert, gleicht einem Geist und ähnelt einem Tschador, aber man denkt auch an Casey Affleck als verstorbenen männlichen Part eines jungen Paars in „A Ghost Story“.
Paare in Auflösung, Patchworkverhältnisse, familiäre Konstellationen, die nicht mehr sind, was man sich von ihnen erhoffte, bilden das häufigste Motiv. Die Innenseite der Buchdeckel ist mit Weihnachtsmotiven geschmückt, diesem Inbegriff des Familiären. In seiner wunderbaren Seltsamkeit ist das von Sophie Zeitz stimmig übersetzte „Gästebuch“ wie gemacht für unsere gespenstische Gegenwart, in der selbstverständlich erscheinende Dinge und Ereignisse ausgesetzt werden müssen. Wer in dieser Zeit voller Phantomschmerzen ein Trostbuch braucht, das intellektuell auf der Höhe ist und sich gesellig anfühlt, taucht mit diesen Geistergeschichten in ein unerschöpfliches Reservoir des heimelig Unheimlichen ab.
Leanne Shapton: Gästebuch. Gespenstergeschichten. Aus dem amerikanischen Englisch von Sophie Zeitz. Suhrkamp, Berlin 2020. 320 Seiten, 24 Euro.
„Denk daran, was du nicht
zu sehen bekommst“,
schreibt Leanne Shapton
unter diese Blumenaquarelle.
Manchmal gehören
Geschichten zu den Bildern,
manchmal nur einzelne Zeilen.
„Wer kommt da?“
heißt ein Bilderbogen mit
Betttuch (rechts).
Foto: Leanne Shapton/
Suhrkamp Verlag
Leanne Shapton wurde 1973 in Toronto geboren, sie lebt heute in Manhattan, über das sie ein Buch mit den deutschen Journalisten Niklas Maak gemacht hat. Sie arbeitet als Autorin, Künstlerin und Art-Direktorin.
Foto: K. Ryan / Suhrkamp
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Genau das Richtige für die Zeit der Phantomschmerzen: Die kanadische Künstlerin Leanne Shapton und ihr
sinnliches „Gästebuch“ der Heimsuchungen, der Erinnerungen und enttäuschten Erwartungen
VON MEIKE FESSMANN
Ein Gespräch über Geister sei kein gutes Thema für eine Cocktailparty, heißt es in diesem Buch. Seine Stunde ist gekommen, wenn die Gäste gegangen sind. Gäste, welche Gäste? Womöglich solche, die es gar nicht gibt. Heimsuchungen, Gespenster, Vorstellungen spuken durch das illustrierte „Gästebuch“, das die in New York lebende Kanadierin Leanne Shapton eingerichtet hat, als wäre es ein lebendiges Museum unserer Ängste und Wünsche.
Man öffnet es mit leichtem Schaudern, es ist schön und unheimlich, affiziert sofort mit geprägten Lettern auf dem Umschlag. Im rohweißen Schattenriss steht dort „Gespenstergeschichten“ unter dem roten Haupttitel, dazu stilisierte goldene Blüten, blass verwoben mit der Textur des Leineneinbands. Auf dem ersten Foto, es ist schwarz-weiß, blicken wir in die Augen eines kanadischen Kampfpiloten des Zweiten Weltkriegs. Sie sind blau, erfahren wir, und dass er Vögel auf der Fensterbank landen lässt, konservative Politiker mag und zu 75 Prozent taub ist. Er liegt auf einem Sofa, in Hemd und Krawatte, den rechten Arm erhoben, die Rückseite der Hand auf die Stirn gestützt: „Er zeigt sich in der Spiegelung der Terrassentür.“
Leanne Shapton, 1973 in Toronto geboren, ist Schriftstellerin, Künstlerin und Illustratorin. Sie hat schon einige bemerkenswerte Bücher gemacht, etwa das mit dem Esprit „gackernder Hühner“ in Szene gesetzte Paperback über „Frauen und Kleider“. In munteren Skype-Sitzungen mit der Kanadierin Sheila Heti und der US-Amerikanerin Heidi Julavits ersonnen, schildern 561 Frauen aus verschiedenen Kulturkreisen ihren Umgang mit Kleidung. Von Wasser und Ehrgeiz erzählt die ehemalige Leistungsschwimmerin in „Bahnen ziehen“. Aquarelle und Zeichnungen lassen sprachliche und bildliche Dimensionen zusammenfließen. Leanne Shapton, deren Mutter von den Philippinen stammt, hat großes Vertrauen in die Aussagekraft von Gegenständen und findet erzählerische Formen, die zeitgemäß und realistisch wirken, selbst wenn sich auf vermeintlichen Oberflächen fantastische Abgründe des Imaginären auftun. „Bedeutende Objekte und persönliche Besitzstücke aus der Sammlung von Leonore Doolan und Harold Morris, darunter Bücher, Mode und Schmuck“ lautet der verschwenderische Titel eines im Original 2009 erschienenen, von Rebecca Casati 2010 ins Deutsche übertragenen Buches, das in Form eines fiktiven Auktionskatalog vom Ende einer vierjährigen Beziehung erzählt.
Der seltsame symbolische Überschuss, der an Objekten haftet, die eine Geschichte versprechen, bekommt in diesem neuen Buch noch mehr Raum. Überhaupt ist dessen Lektüre eine dreidimensionale Erfahrung: Sie erfordert Zeit und Kontemplation. Man muss knobeln, erkunden – und, klar, auch immer wieder googeln. Dieses „Gästebuch“ spielt mit dem, was wir zu wissen glauben, und erst recht mit dem, was sich in unserem Unbewussten abgelagert hat. Das Unheimliche und seine Verbindung zum Heimlichen, zu kindlichen Geborgenheitshoffnungen sind die Klaviatur, auf der jede Schauergeschichte spielt.
Leanne Shapton verwendet Fotos, um uns zu triggern: Manche wirken so intim wie Fotos aus der eigenen Familie, andere, als wären sie einem Lehrbuch über Traumdeutung entnommen – leere Flure, Dachkammern, verwinkelte Treppenhäuser, Kellerräume –, wiederum andere, als kämen sie direkt aus einer Illustrierten: Bunte Party-Fotos mit Gläser schwenkenden Prominenten, der Blick springt zwischen Bild und Bildunterschrift hin und her, wie bei einer Zeitschrift. Nur seltsam, dass man keinen kennt. Oder doch nicht seltsam? Denn es gibt sie nicht, zumindest nicht als Promis, die man in Suchmaschinen finden könnte.
So werden inszenierte Gesten bloßgestellt, etwa die „Was sind wir glücklich und erfolgreich“-Attitüde, von der auch soziale Netzwerke leben. Das lässt nicht nur jede Form von Authentizität fragwürdig werden. Es durchlöchert unser Realitätsgefühl. „Gästebuch“ baut ein exquisites Setting, eine Art literarischen Traumfänger für Befürchtungen und Hoffnungen. Es gleicht einem Schallverstärker, der das allmähliche Abgleiten jedes Stimmungsaufschwungs in die schon bereitstehende Enttäuschung aufnimmt.
Es gibt nur wenige durchgängig erzählte Geschichten hier, die sich bilderlos über mehrere Seiten erstrecken. Etwa die einer Frau, die nach einem Besuch der Gefängnisinsel Alcatraz das Gefühl nicht loswird, eine Katze streiche um ihre Beine. Es sei der Geist eines Gefangenen, der ihr Mitleid gespürt habe, erfährt sie von einem Akupunkteur, der ihr zur Austreibung mit Salbeirauch rät.
In manchen Geschichten scheinen Fotos, Zeichnungen, Aquarelle und der Text etwas miteinander zu tun zu haben, gelegentlich widersprechen sie sich, oft nistet sich in der Kluft zwischen beidem eine merkwürdige Form der Poesie ein. Aquarelle von Tadzio aus Viscontis „Tod in Venedig“ zum Beispiel zeigen dessen Grazie in einer weißen, aus einer aquarellierten Fläche ausgesparten Figur. Sie haben aber nicht wirklich etwas mit der kleinen Geschichte zu tun, die auf dem unteren Drittel der Seiten erzählt wird. Und doch spielt etwas von der Ruhe der Aquarelle in die Geschichte herüber.
Sie handelt von einer Tochter, die von ihrem Vater nach der Weihnachtsfeier ins Auto getragen wird und plötzlich – wahrscheinlich, vielleicht, womöglich – eine Erwachsene ist, nämlich die dreiundvierzigjährige Frau, die das Hupen auf der Fifth Avenue vor ihrem Küchenfenster wahrnimmt. Sie hat – vermutlich – eine Tochter, welche nur eine Seite später wiederum das Kind auf dem Rücksitz ist. Fließend sind die Übergänge zwischen den Personalpronomen, die Perspektiven wechseln. Das sinnlich Wahrnehmbare verbindet sich mit Vermutungen und der Tiefendimension von Erfahrungen. Sechs knappe Zeilen rufen das Haus auf, in dem diese Frau früher gewohnt hat. Es soll zufälliggenau das sein, an dem Bob Dylan auf dem Plattencover seines zweiten Studioalbums „The Freewheelin’ Bob Dylan“ vorbeigeht, an ihn geschmiegt seine Freundin Suze Rotolo, „an einem verschneiten Wintertag“, vor rund sechzig Jahren. Fast täglich seien dort Paare zu sehen gewesen, die das „Tableau Vivant“ nachstellten, oft riskant mit Selbstauslöser, mitten auf der Straße.
Andere Fotos beschwören rätselhafte Tode, die sich durch den Tod eines Tieres ankündigen. Sie sollen sich an einem Ort namens Goldbourne zugetragen haben. Im Netz findet man zu diesem Stichwort das Angebot, den erfundenen Namen als Markennamen erwerben zu können (für etwas mehr als 1 500 Euro), mitsamt der dazugehörigen Domain, einem Logo und einer Erklärung, warum sich der Name nach einem guten Ort in ländlicher Szenerie anhört. Einen originellen Namen hat auch Sinforosa, die Großtante einer Ich-Erzählerin, die den Geist ihres Bruders in der Nacht seines Todes erkannt hat: „Ich kenne seine Füße“, hatte sie gesagt, erzählt die Mutter, die selbst nie einen Geist gesehen hat, aber den Seifengeruch ihres Lieblingslehrers wahrnahm, als er starb. Ein großes Tuch, in verschiedenen Posen fotografiert, gleicht einem Geist und ähnelt einem Tschador, aber man denkt auch an Casey Affleck als verstorbenen männlichen Part eines jungen Paars in „A Ghost Story“.
Paare in Auflösung, Patchworkverhältnisse, familiäre Konstellationen, die nicht mehr sind, was man sich von ihnen erhoffte, bilden das häufigste Motiv. Die Innenseite der Buchdeckel ist mit Weihnachtsmotiven geschmückt, diesem Inbegriff des Familiären. In seiner wunderbaren Seltsamkeit ist das von Sophie Zeitz stimmig übersetzte „Gästebuch“ wie gemacht für unsere gespenstische Gegenwart, in der selbstverständlich erscheinende Dinge und Ereignisse ausgesetzt werden müssen. Wer in dieser Zeit voller Phantomschmerzen ein Trostbuch braucht, das intellektuell auf der Höhe ist und sich gesellig anfühlt, taucht mit diesen Geistergeschichten in ein unerschöpfliches Reservoir des heimelig Unheimlichen ab.
Leanne Shapton: Gästebuch. Gespenstergeschichten. Aus dem amerikanischen Englisch von Sophie Zeitz. Suhrkamp, Berlin 2020. 320 Seiten, 24 Euro.
„Denk daran, was du nicht
zu sehen bekommst“,
schreibt Leanne Shapton
unter diese Blumenaquarelle.
Manchmal gehören
Geschichten zu den Bildern,
manchmal nur einzelne Zeilen.
„Wer kommt da?“
heißt ein Bilderbogen mit
Betttuch (rechts).
Foto: Leanne Shapton/
Suhrkamp Verlag
Leanne Shapton wurde 1973 in Toronto geboren, sie lebt heute in Manhattan, über das sie ein Buch mit den deutschen Journalisten Niklas Maak gemacht hat. Sie arbeitet als Autorin, Künstlerin und Art-Direktorin.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.11.2020Gespenster an Heiligabend
Es gibt in diesem Buch der kanadischen Künstlerin, Schriftstellerin und Illustratorin Leanne Shapton, das keinen echten Anfang hat und kein Ende, sondern eher so etwas wie eine Spurensuche ist, die zugleich selbst Spuren legt und uns zu Detektiven macht, eine "Heiligabend"-Erzählung: "Am Vorabend, dem Dreiundzwanzigsten", so beginnt diese Geschichte, "wurde auf der Party über Geister gesprochen. Sie fragte den Oscar-Preisträger, ob er an Geister glaube und ob er eine Geistergeschichte auf Lager habe. Er schüttelte den Kopf, setzte sich und unterhielt sich mit jemand anderem. Ihr kam der Gedanke, dass Geister vielleicht kein gutes Thema für Cocktail-Party-Smalltalk waren und dass es auch Geschichten gab, über die man nicht bei Kanapees plaudern konnte."
Für ihr fabelhaftes "Gästebuch" hat Leanne Shapton nun solche "Gespenstergeschichten" versammelt, die sie gefunden hat - und sie hat neue erschaffen: Anekdoten von Erscheinungen, Geschichten von unheimlichen Häusern und ungebetenen Gästen, eine Schwarzweißfoto-Story über ein geheimes Treffen von Freunden in Ruinen; Berichte über seltsame Tode. Es sind einerseits Geschichten, die dem Gruselgenre nachempfunden sind. Manche erinnern vom Verfahren her an Geisterfotografien, wie sie in der Frühzeit der Fotografie durch lange Belichtungszeiten erzeugt wurden: Personen, die kurz in den Bildraum hineintraten, wurden wie übernatürliche Effekte als Schemen auf dem fertigen Foto dargestellt. Und dann gibt es Berichte von modernen Geistern wie die über den fiktiven Prominenten Edward Mintz, der es am Freitag, dem 2. November 2018, schafft, auf 45 Partys, Empfängen und Promi-Events gleichzeitig zu sein: von einem "privaten Abendessen für Lucien Pak im Terro New York" über das "Croix d'Espagne Dinner im Spanish Cultural Council" bis hin zur "Ankunft auf dem roten Teppich vor der Alice Tully Hall". "Ein Geist" heißt diese Geschichte, die die lustigste des ganzen Buches ist. Shapton hat ihre Freunde und Bekannten in den Rollen verschiedener Prominenter und Halbprominenter fotografisch in Szene gesetzt - und analysiert die so unwahrscheinliche Realität zeitgenössischer Instagram-Stars.
Julia Encke
Leanne Shapton: "Gästebuch - Gespenstergeschichten". Suhrkamp Verlag. Aus dem Englischen von Sophie Zeitz, 320 Seiten, 24 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Es gibt in diesem Buch der kanadischen Künstlerin, Schriftstellerin und Illustratorin Leanne Shapton, das keinen echten Anfang hat und kein Ende, sondern eher so etwas wie eine Spurensuche ist, die zugleich selbst Spuren legt und uns zu Detektiven macht, eine "Heiligabend"-Erzählung: "Am Vorabend, dem Dreiundzwanzigsten", so beginnt diese Geschichte, "wurde auf der Party über Geister gesprochen. Sie fragte den Oscar-Preisträger, ob er an Geister glaube und ob er eine Geistergeschichte auf Lager habe. Er schüttelte den Kopf, setzte sich und unterhielt sich mit jemand anderem. Ihr kam der Gedanke, dass Geister vielleicht kein gutes Thema für Cocktail-Party-Smalltalk waren und dass es auch Geschichten gab, über die man nicht bei Kanapees plaudern konnte."
Für ihr fabelhaftes "Gästebuch" hat Leanne Shapton nun solche "Gespenstergeschichten" versammelt, die sie gefunden hat - und sie hat neue erschaffen: Anekdoten von Erscheinungen, Geschichten von unheimlichen Häusern und ungebetenen Gästen, eine Schwarzweißfoto-Story über ein geheimes Treffen von Freunden in Ruinen; Berichte über seltsame Tode. Es sind einerseits Geschichten, die dem Gruselgenre nachempfunden sind. Manche erinnern vom Verfahren her an Geisterfotografien, wie sie in der Frühzeit der Fotografie durch lange Belichtungszeiten erzeugt wurden: Personen, die kurz in den Bildraum hineintraten, wurden wie übernatürliche Effekte als Schemen auf dem fertigen Foto dargestellt. Und dann gibt es Berichte von modernen Geistern wie die über den fiktiven Prominenten Edward Mintz, der es am Freitag, dem 2. November 2018, schafft, auf 45 Partys, Empfängen und Promi-Events gleichzeitig zu sein: von einem "privaten Abendessen für Lucien Pak im Terro New York" über das "Croix d'Espagne Dinner im Spanish Cultural Council" bis hin zur "Ankunft auf dem roten Teppich vor der Alice Tully Hall". "Ein Geist" heißt diese Geschichte, die die lustigste des ganzen Buches ist. Shapton hat ihre Freunde und Bekannten in den Rollen verschiedener Prominenter und Halbprominenter fotografisch in Szene gesetzt - und analysiert die so unwahrscheinliche Realität zeitgenössischer Instagram-Stars.
Julia Encke
Leanne Shapton: "Gästebuch - Gespenstergeschichten". Suhrkamp Verlag. Aus dem Englischen von Sophie Zeitz, 320 Seiten, 24 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»... neben diesem Buch sieht so einiges andere, was uns die Gegenwart bietet, ziemlich alt aus.« Angela Schader Neue Zürcher Zeitung 20210226