Kriminalität und Strafvollzug wurden im 19. Jahrhundert heiß diskutiert: von Kriminalisten, Reformern, Journalisten. Doch was dachten und erlebten die Betroffenen selbst? Warum gerieten die Straftäter auf die schiefe Bahn? Welche Erfahrungen machten sie in den Strafanstalten? Gelang es ihnen später, sich von ihrer kriminellen Vergangenheit zu lösen, was half ihnen und was hinderte sie? Und wie sah ihr Leben jenseits der Gefängnisse aus? Antworten auf diese Fragen geben zahlreiche Lebensgeschichten, die die Häftlinge zumeist im Gefängnis verfasst haben. Der reformierte Strafvollzug des 19. Jahrhunderts hatte sich die "moralische Besserung" auf die Fahnen geschrieben und die Häftlinge zum Schreiben aufgefordert. Das Buch stellt kompetent die verschiedenen Reformansätze dar, zeigt aber auch deren Grenzen in der Praxis. Der Leser nimmt teil an den Erfahrungen von Prostituierten und Mördern, von Dieben und Betrügern, Revolutionären und Anarchisten, er erfährt von der ambivalenten Rolle der Polizei bei der Verbrechensbekämpfung und erhält Einblick in die Welt der Bordelle, Spielhöllen und Obdachlosenasyle.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Auf einen Dostojewski ist Daniel Jütte in den von Heike Talkenberger zusammengtragenen Selbstzeugnissen aus der Feder von Verbrechern, politischen Gefangenen und Prostituierten nicht gestoßen. Literarische Qualität kann er so manchem Text allerdings durchaus attestieren. Andere wieder stechen durch die Eitelkeit des Delinquenten, der sich seiner Taten rühmt, hervor oder durch auf die Häftlinge übertragene Moralvorstellungen von Anstaltsleitern oder Gefängnisgeistlichen. Alles in allem jedenfalls empfindet Jütte den Band als willkommene Abwechslung zu den Verlautbarungen der im Besserungsdiskurs verhafteten Reformer. Ein gelungener Perspektivwechsel, meint er, der die Kriminalitätsgeschichte des 19. Jahrhunderts neu aufrollt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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