Band 23: Die Bundesrepublik Deutschland (1949 - 1990)Die erste moderne Gesamtdarstellung der Bundesrepublik DeutschlandEine moderne, multiperspektivische Gesamtdarstellung der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland; gleichgewichtig behandelt Edgar Wolfrum Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und Mentalitäten. Zugleich bettet er die Geschichte der Bundesrepublik in die europäische und internationale Geschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein. Die bundesdeutsche Geschichte wird auf jeweils drei gleichgewichtigen Ebenen lebendig geschildert. Zuerst geht es um die Innenpolitik. Sodann steht die Außenpolitik im Zentrum und schließlich wird die Sozialkultur betrachtet. So entsteht ein faszinierendes Bild sowohl der Strukturen und Ereignisse als auch der handelnden Personen und der bundesdeutschen Gesellschaft.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.05.2006Mehr Licht als Schatten
Gebhardts Handbuch: Geschichte der Bundesrepublik von der Gründung bis zur Wiedervereinigung
1976 erschien der letzte Band der 9. Auflage des Gebhardt, des wohl bis heute wichtigsten Handbuchs der deutschen Geschichte. Sein Verfasser war Karl Dietrich Erdmann (1910 bis 1990), und sein Werk spiegelte den Anspruch des 1891/92 begründeten Gebhardt insgesamt, deutsche Geschichte als Nationalgeschichte zu schreiben. Erdmanns Ansatz, die Frühzeit der Bundesrepublik, der DDR und der österreichischen Nachkriegsrepublik integriert in einem Band zu behandeln und sich vehement dagegen zu verwahren, die deutsche Geschichte auf die Historie eines ihrer Teilstaaten einzuschrumpfen, demonstrierte aber auch die Schwierigkeit, die Eigenstaatlichkeit und Eigenentwicklung der Bundesrepublik Deutschland historiographisch zu behandeln, ohne sich damit dem Verdacht auszusetzen, die deutsche Teilung akzeptiert und die Hoffnung auf eine Wiedervereinigung aufgegeben zu haben.
Edgar Wolfrum, Verfasser des der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1949 und 1990 gewidmeten Bandes der 10. Auflage des Gebhardt, hat anders als Erdmann keine Schwierigkeit, der Geschichte der Bundesrepublik Eigen-Sinn abzugewinnen. Dieser Eigen-Sinn des temporär postnationalen westdeutschen Staates bildet das interpretatorische Zentrum seiner Handbuchdarstellung. Ein solcher Zugang ist angemessen, weil er der Geschichte der "alten" Bundesrepublik Rechnung trägt, die über die vier Jahrzehnte ihrer Existenz auch als Geschichte einer Lockerung des Bandes der Nation und des Verlustes nationaler Gemeinsamkeiten (gesellschaftlich, kulturell, mentalitär) von West- und Ostdeutschen zu begreifen ist. Diese Prozesse der Entnationalisierung wurden zunächst politisch, später auch soziokulturell noch verstärkt durch die nach Westen gerichtete Supranationalisierung der Bundesrepublik.
Die Darstellung setzt punktgenau mit dem 23. Mai 1949 ein, und allenfalls chronologisch ist der 9. November 1989 oder der 3. Oktober 1990 ihr Fluchtpunkt. Während für Erdmann das Jahr 1945 ganz eindeutig einen Endpunkt markierte, dominiert für Wolfrum die Perspektive des Anfangs. Das hat nichts mit Stunde-Null-Interpretationen zu tun, aber Wolfrums Buch ist in viel stärkerem Maße nach vorne gerichtet als Erdmanns. Es gewinnt seine leitenden Begriffe nicht aus nationalisierender Retrospektive, sondern aus der Entwicklung der Bundesrepublik seit 1949 selbst heraus. Leitkategorien der Darstellung sind Stabilisierung, Pluralisierung und Internationalisierung, allesamt Prozeßbegriffe, die sich daher auf die gesamte Geschichte der "alten" Bundesrepublik anlegen lassen. Und indem Wolfrum diesen Begriffen letztlich eine positive Konnotation verleiht, kann er die Geschichte der Bundesrepublik als Erfolgsgeschichte schreiben.
Daß diese Prozesse auch ihre Schattenseiten hatten, leugnet der Autor nicht, und er analysiert die Ambivalenzen dieser Entwicklungen gründlich. Doch alles in allem sieht er mehr Licht als Schatten, gewinnt diese Gesamteinschätzung aber nicht aus dem Umstand der unverhofften Vereinigung 1990, sondern aus der Analyse der 40 Jahre vor 1989/90. In gewisser Weise schließt Wolfrum damit weniger an die seit 1990 erschienenen Darstellungen der Geschichte der Bundesrepublik an als vielmehr an diejenigen Studien, die - noch ohne die Perspektive der Vereinigung - das vierzigjährige Bestehen der Bundesrepublik 1989 hervorbrachte.
Das heißt freilich keineswegs, daß Wolfrum den immensen Forschungsfortschritt der letzten 15 Jahre ignorierte. Das Gegenteil ist der Fall. Das Buch bewegt sich souverän auf dem Stand der Forschung. Interpretatorische Neuansätze wie beispielsweise mit Blick auf die fünfziger und sechziger Jahre das Konzept der soziopolitischen, sozioökonomischen und soziokulturellen "Westernisierung" oder der gesellschaftlichen Liberalisierung werden in die Darstellung integriert, und sie erweisen hier ihren Wert als tragfähige, ja unverzichtbare Grundkategorien jeder Auseinandersetzung mit der Geschichte der Bundesrepublik. Vor solchem Hintergrund wird nicht nur die alte, nie überzeugende Restaurationsthese endgültig zu Grabe getragen, sondern es wird nicht zuletzt auch das Jahr 1968, verstanden als Chiffre für eine angeblich erst jetzt erfolgte demokratische Transformation der Bundesrepublik, für ihre demokratische, ihre zivile Um- oder gar Neugründung, in seiner Bedeutung relativiert: "Die 68er waren nicht die Vorkämpfer von Emanzipation und Partizipation, denn die Dekade des Wandels und der Liberalisierung hatte bereits vor ihnen eingesetzt." Statt dessen betont Wolfrum den Beitrag der "45er" beim Aufbau der Republik zu einem liberalen Gemeinwesen, jener in den zwanziger und dreißiger Jahren geborenen und vom Nationalsozialismus als Kinder oder Jugendliche geprägten Generationskohorte, die sich in den sechziger und siebziger Jahren für Demokratisierung und "Westernisierung" engagierte und den Weg zu einer Bürgergesellschaft bahnen half. Konsequent bildet das Jahr 1968 in der Darstellung auch keine Zäsur und ebensowenig der "Machtwechsel" von 1969. Vielmehr gehören für Wolfrum sowohl das Jahr 1968 als auch die Jahre der Regierung Brandt in einen größeren Entwicklungskontext, der Ende der fünfziger Jahre beginnt und 1973/74 mit der Kanzlerschaft Brandts endet: etwa eineinhalb Jahrzehnte, die das Buch als "zweite formative Phase" der Bundesrepublik charakterisiert. Davor liegen als erste formative Phase die Gründerjahre der Republik seit 1949.
Eine Zäsursetzung 1973/74 scheint derzeit einen zeithistorischen Konsens zu bilden. Und zweifellos sprechen auch viele Indikatoren dafür, nicht zuletzt zeitgenössische Deutungen, die die "Grenzen des Wachstums" und das Ende des "Goldenen Zeitalters" (Hobsbawm) des Nachkriegsbooms erreicht sahen. Aber war die Zäsur wirklich so tief? Die Politik - nicht nur in der Bundesrepublik - strebte danach, schnellstmöglich zur Normalität des Wachstums zurückzukehren. Der Ost-West-Konflikt als formativer Rahmen der internationalen Beziehungen dauerte an. Und waren lebensweltliche und mentalitäre Veränderungen in der Gesellschaft wirklich so fundamental? Jene Suchbewegungen, all jene Sinn- und Identitätsfragen, die Wolfrum für die zweite Hälfte der siebziger und die achtziger Jahre beschreibt - dürfen wir sie bereits als Signum einer Epoche verstehen oder doch nur als Indikatoren von langfristigen Veränderungen, deren Ziel und Richtung unklar blieb und für deren Aufschlüsselung uns Begriffe und Kategorien im Grunde noch fehlen? Wohl auch deswegen gleicht der dritte und letzte Teil des Handbuchs einem noch unfertigen Mosaik, das noch kein ganzes Bild erkennen läßt und in dem noch viele Steinchen zu ergänzen sind, bevor interpretierende Gesamtdeutungen möglich werden. Und weil Wolfrums Darstellung nicht teleologisch auf die Vereinigung 1989/90 zuläuft, die folgerichtig ausgesprochen knapp behandelt wird, fehlt ihr gerade in diesem Abschnitt der analytische Fluchtpunkt. Ob die Perspektive der deutschen Vereinigung ausgereicht hätte, so unterschiedliche Entwicklungen wie den Aufstieg der Ökologiebewegung, die Idee der Postmoderne oder die Informationsrevolution deutend zu bündeln, darf allerdings bezweifelt werden.
So schreibt Wolfrum eine Geschichte der Bundesrepublik, die sich - wie ihr Gegenstand selbst - bewußt vom nationalen Paradigma löst. Und dennoch bleibt am Ende die Nation ein entscheidender Horizont der Darstellung. Das betrifft weniger die offene deutsche Frage als vielmehr die Frage des Umgangs der Bundesrepublik und ihrer Gesellschaft mit ihrer nationalen Vergangenheit und insbesondere dem Nationalsozialismus und seinen Verbrechen, die der Band durchgehend und hochdifferenziert behandelt. Dieser nationalen Klammer vermochte der Weststaat nicht zu entkommen. Ja, fast möchte man sagen: Je mehr sich die Westdeutschen von der Idee der Nation und des nationalen Staates lösten und je stärker politische, soziale und kulturelle Entnationalisierungsprozesse ihre Wirkung entfalteten, desto sperriger ragte diese Nation in das jeweilige Gegenwartsbewußtsein hinein. Und in diesem Sinne ist dann selbst Edgar Wolfrums Buch, wenn auch nicht in der Tradition des alten Gebhardt, ein Stück nationaler Geschichtsschreibung.
ECKART CONZE
Edgar Wolfrum: Die Bundesrepublik Deutschland 1949-1990, Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte, Band 23. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2005. 652 S., 42,- [Euro].
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Gebhardts Handbuch: Geschichte der Bundesrepublik von der Gründung bis zur Wiedervereinigung
1976 erschien der letzte Band der 9. Auflage des Gebhardt, des wohl bis heute wichtigsten Handbuchs der deutschen Geschichte. Sein Verfasser war Karl Dietrich Erdmann (1910 bis 1990), und sein Werk spiegelte den Anspruch des 1891/92 begründeten Gebhardt insgesamt, deutsche Geschichte als Nationalgeschichte zu schreiben. Erdmanns Ansatz, die Frühzeit der Bundesrepublik, der DDR und der österreichischen Nachkriegsrepublik integriert in einem Band zu behandeln und sich vehement dagegen zu verwahren, die deutsche Geschichte auf die Historie eines ihrer Teilstaaten einzuschrumpfen, demonstrierte aber auch die Schwierigkeit, die Eigenstaatlichkeit und Eigenentwicklung der Bundesrepublik Deutschland historiographisch zu behandeln, ohne sich damit dem Verdacht auszusetzen, die deutsche Teilung akzeptiert und die Hoffnung auf eine Wiedervereinigung aufgegeben zu haben.
Edgar Wolfrum, Verfasser des der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1949 und 1990 gewidmeten Bandes der 10. Auflage des Gebhardt, hat anders als Erdmann keine Schwierigkeit, der Geschichte der Bundesrepublik Eigen-Sinn abzugewinnen. Dieser Eigen-Sinn des temporär postnationalen westdeutschen Staates bildet das interpretatorische Zentrum seiner Handbuchdarstellung. Ein solcher Zugang ist angemessen, weil er der Geschichte der "alten" Bundesrepublik Rechnung trägt, die über die vier Jahrzehnte ihrer Existenz auch als Geschichte einer Lockerung des Bandes der Nation und des Verlustes nationaler Gemeinsamkeiten (gesellschaftlich, kulturell, mentalitär) von West- und Ostdeutschen zu begreifen ist. Diese Prozesse der Entnationalisierung wurden zunächst politisch, später auch soziokulturell noch verstärkt durch die nach Westen gerichtete Supranationalisierung der Bundesrepublik.
Die Darstellung setzt punktgenau mit dem 23. Mai 1949 ein, und allenfalls chronologisch ist der 9. November 1989 oder der 3. Oktober 1990 ihr Fluchtpunkt. Während für Erdmann das Jahr 1945 ganz eindeutig einen Endpunkt markierte, dominiert für Wolfrum die Perspektive des Anfangs. Das hat nichts mit Stunde-Null-Interpretationen zu tun, aber Wolfrums Buch ist in viel stärkerem Maße nach vorne gerichtet als Erdmanns. Es gewinnt seine leitenden Begriffe nicht aus nationalisierender Retrospektive, sondern aus der Entwicklung der Bundesrepublik seit 1949 selbst heraus. Leitkategorien der Darstellung sind Stabilisierung, Pluralisierung und Internationalisierung, allesamt Prozeßbegriffe, die sich daher auf die gesamte Geschichte der "alten" Bundesrepublik anlegen lassen. Und indem Wolfrum diesen Begriffen letztlich eine positive Konnotation verleiht, kann er die Geschichte der Bundesrepublik als Erfolgsgeschichte schreiben.
Daß diese Prozesse auch ihre Schattenseiten hatten, leugnet der Autor nicht, und er analysiert die Ambivalenzen dieser Entwicklungen gründlich. Doch alles in allem sieht er mehr Licht als Schatten, gewinnt diese Gesamteinschätzung aber nicht aus dem Umstand der unverhofften Vereinigung 1990, sondern aus der Analyse der 40 Jahre vor 1989/90. In gewisser Weise schließt Wolfrum damit weniger an die seit 1990 erschienenen Darstellungen der Geschichte der Bundesrepublik an als vielmehr an diejenigen Studien, die - noch ohne die Perspektive der Vereinigung - das vierzigjährige Bestehen der Bundesrepublik 1989 hervorbrachte.
Das heißt freilich keineswegs, daß Wolfrum den immensen Forschungsfortschritt der letzten 15 Jahre ignorierte. Das Gegenteil ist der Fall. Das Buch bewegt sich souverän auf dem Stand der Forschung. Interpretatorische Neuansätze wie beispielsweise mit Blick auf die fünfziger und sechziger Jahre das Konzept der soziopolitischen, sozioökonomischen und soziokulturellen "Westernisierung" oder der gesellschaftlichen Liberalisierung werden in die Darstellung integriert, und sie erweisen hier ihren Wert als tragfähige, ja unverzichtbare Grundkategorien jeder Auseinandersetzung mit der Geschichte der Bundesrepublik. Vor solchem Hintergrund wird nicht nur die alte, nie überzeugende Restaurationsthese endgültig zu Grabe getragen, sondern es wird nicht zuletzt auch das Jahr 1968, verstanden als Chiffre für eine angeblich erst jetzt erfolgte demokratische Transformation der Bundesrepublik, für ihre demokratische, ihre zivile Um- oder gar Neugründung, in seiner Bedeutung relativiert: "Die 68er waren nicht die Vorkämpfer von Emanzipation und Partizipation, denn die Dekade des Wandels und der Liberalisierung hatte bereits vor ihnen eingesetzt." Statt dessen betont Wolfrum den Beitrag der "45er" beim Aufbau der Republik zu einem liberalen Gemeinwesen, jener in den zwanziger und dreißiger Jahren geborenen und vom Nationalsozialismus als Kinder oder Jugendliche geprägten Generationskohorte, die sich in den sechziger und siebziger Jahren für Demokratisierung und "Westernisierung" engagierte und den Weg zu einer Bürgergesellschaft bahnen half. Konsequent bildet das Jahr 1968 in der Darstellung auch keine Zäsur und ebensowenig der "Machtwechsel" von 1969. Vielmehr gehören für Wolfrum sowohl das Jahr 1968 als auch die Jahre der Regierung Brandt in einen größeren Entwicklungskontext, der Ende der fünfziger Jahre beginnt und 1973/74 mit der Kanzlerschaft Brandts endet: etwa eineinhalb Jahrzehnte, die das Buch als "zweite formative Phase" der Bundesrepublik charakterisiert. Davor liegen als erste formative Phase die Gründerjahre der Republik seit 1949.
Eine Zäsursetzung 1973/74 scheint derzeit einen zeithistorischen Konsens zu bilden. Und zweifellos sprechen auch viele Indikatoren dafür, nicht zuletzt zeitgenössische Deutungen, die die "Grenzen des Wachstums" und das Ende des "Goldenen Zeitalters" (Hobsbawm) des Nachkriegsbooms erreicht sahen. Aber war die Zäsur wirklich so tief? Die Politik - nicht nur in der Bundesrepublik - strebte danach, schnellstmöglich zur Normalität des Wachstums zurückzukehren. Der Ost-West-Konflikt als formativer Rahmen der internationalen Beziehungen dauerte an. Und waren lebensweltliche und mentalitäre Veränderungen in der Gesellschaft wirklich so fundamental? Jene Suchbewegungen, all jene Sinn- und Identitätsfragen, die Wolfrum für die zweite Hälfte der siebziger und die achtziger Jahre beschreibt - dürfen wir sie bereits als Signum einer Epoche verstehen oder doch nur als Indikatoren von langfristigen Veränderungen, deren Ziel und Richtung unklar blieb und für deren Aufschlüsselung uns Begriffe und Kategorien im Grunde noch fehlen? Wohl auch deswegen gleicht der dritte und letzte Teil des Handbuchs einem noch unfertigen Mosaik, das noch kein ganzes Bild erkennen läßt und in dem noch viele Steinchen zu ergänzen sind, bevor interpretierende Gesamtdeutungen möglich werden. Und weil Wolfrums Darstellung nicht teleologisch auf die Vereinigung 1989/90 zuläuft, die folgerichtig ausgesprochen knapp behandelt wird, fehlt ihr gerade in diesem Abschnitt der analytische Fluchtpunkt. Ob die Perspektive der deutschen Vereinigung ausgereicht hätte, so unterschiedliche Entwicklungen wie den Aufstieg der Ökologiebewegung, die Idee der Postmoderne oder die Informationsrevolution deutend zu bündeln, darf allerdings bezweifelt werden.
So schreibt Wolfrum eine Geschichte der Bundesrepublik, die sich - wie ihr Gegenstand selbst - bewußt vom nationalen Paradigma löst. Und dennoch bleibt am Ende die Nation ein entscheidender Horizont der Darstellung. Das betrifft weniger die offene deutsche Frage als vielmehr die Frage des Umgangs der Bundesrepublik und ihrer Gesellschaft mit ihrer nationalen Vergangenheit und insbesondere dem Nationalsozialismus und seinen Verbrechen, die der Band durchgehend und hochdifferenziert behandelt. Dieser nationalen Klammer vermochte der Weststaat nicht zu entkommen. Ja, fast möchte man sagen: Je mehr sich die Westdeutschen von der Idee der Nation und des nationalen Staates lösten und je stärker politische, soziale und kulturelle Entnationalisierungsprozesse ihre Wirkung entfalteten, desto sperriger ragte diese Nation in das jeweilige Gegenwartsbewußtsein hinein. Und in diesem Sinne ist dann selbst Edgar Wolfrums Buch, wenn auch nicht in der Tradition des alten Gebhardt, ein Stück nationaler Geschichtsschreibung.
ECKART CONZE
Edgar Wolfrum: Die Bundesrepublik Deutschland 1949-1990, Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte, Band 23. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2005. 652 S., 42,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Gelungen findet Dietmar Süss diese Geschichte der Bundesrepublik von 1949 bis 1990 von Edgar Wolfrum, die nun als Band 23 des Standardwerk "Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte" erschienen ist. Wie er betont, ist eine Geschichte der Bundesrepublik kein leichtes Unterfangen, ist sie doch gebunden an eine Vielzahl großer "Erzählungen": als Geschichte umfassender Modernisierung, als "Ankunft im Westen", als "68er Helden- und Befreiungssage oder antitotalitäre Siegesgeschichte". Wolfrums Werk findet Süss gerade deshalb "so erfrischend", weil es diese "Erzählungen" selbst zum Ausgangspunkt der Untersuchung macht und sich nicht vom Glanz der Zeitzeugen blenden lässt. Eindringlich zeige der Autor den Wandel der Disziplin und der Deutungsmuster, die das Bild der "alten" Bundesrepublik prägen. Dass dabei nicht nur Politik und ein wenig Wirtschaft, sondern auch Fragen der Kultur und Gesellschaft, und insbesondere die Nachgeschichte des Nationalsozialismus eine wichtige Rolle spielen, begrüßt Süss. Süss würdigt das Handbuch insgesamt als eine "ausgewogene wie wohltuend nüchterne Geschichte der Bundesrepublik". Bei manchen Problemfeldern wie zum Beispiel der deutsch-deutschen Beziehungsgeschichte hätte er sich allerdings eine etwas ausführlichere und aufmerksamere Behandlung gewünscht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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