"Ich habe mir in den Jahren seit der Wende - wie hunderttausend andere - viele Gedanken über die Ursachen des Versagens dieses von uns praktizierten Sozialismus gemacht ... Das war nicht nur ein komplizierter, sondern auch ein schmerzlicher Prozess ... Die heutige kapitalistische Gesellschaft kann und wird nicht das letzte Wort der Geschichte sein." (Werner Eberlein)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.02.2001Wodka-Lehrgang in Moskau
Das Politbüro-Mitglied Werner Eberlein erinnert sich
Werner Eberlein: Geboren am 9. November. Erinnerungen. Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2000. 536 Seiten, Abbildungen, 39,90 Mark.
Das Politbüro war das Machtzentrum der SED. Abgeschirmt von der Außenwelt - und dies nicht nur im räumlichen Sinne -, tagte es einmal pro Woche in Ostberlin. In der Endzeit der Honecker-Ära bestand es aus 26 Mitgliedern und Kandidaten. Werner Eberlein gehörte dem von Erich Honecker geleiteten Politbüro ebenso an wie dem nach der Wende neu konstituierten Politbüro unter Egon Krenz.
Der 1919 als Sohn des KPD-Mitbegründers Hugo Eberlein geborene Autor zählte nicht zu den "Hardlinern" der SED-Altherrenriege. Aber er war auch weit davon entfernt, ein Reformer zu sein. Honecker entschied 1986 über Eberleins Aufnahme ins Politbüro, exakt in dem Jahr, in dem Gorbatschow in der Sowjetunion die Perestroika einläutete. Damals arbeitete Eberlein als SED-Bezirkschef in Magdeburg. Er stimmte mit Honecker in der Ablehnung des neuen Moskauer Kurses überein: "Ich hatte meine Probleme mit der Perestroika, hatte vor allem Schwierigkeiten mit ihrem Inhalt und damit, in ihre ,Konstruktion' einzudringen."
Betrachtet man sich den Lebensweg Eberleins, fällt es schwer zu verstehen, warum er Gorbatschows neuem Denken nichts abgewinnen konnte. In der Stalin-Zeit hatte er selbst bittere Erfahrungen mit dem totalitären System machen müssen. 1934 floh der Jungkommunist aus Berlin nach Moskau. Seine Familie hatte gute Beziehungen zur Lenin-Witwe Nadeshda Krupskaja, so daß der Junge zunächst bestens aufgenommen wurde. Doch als Stalin 1936 eine unfaßbare und bestialische Säuberungskampagne gegen die eigenen Genossen entfachte, änderte sich das schlagartig: "Mit siebzehn Jahren wurde ich von der Schulbank weg zu schwerer körperlicher Arbeit gezwungen, mit zwanzig in das sibirische Narym verbannt. Zur gleichen Zeit wurden mein Vater und mein Onkel irgendwo bei Moskau erschossen und verscharrt."
Emigrant in Moskau
Im August 1939 brach für die kommunistischen deutschen Emigranten in Moskau endgültig eine Welt zusammen. Hitlers Außenminister von Ribbentrop und sein russischer Amtskollege Molotow unterzeichneten den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt. Als sich Stalin nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in die Sowjetunion im Juni 1941 von Hitler betrogen sah, hatte das katastrophale Folgen für aus Deutschland stammende Flüchtlinge. Eberlein erinnert sich an ein kurzes Verhör im Gebäude des NKWD (später: KGB): "Ich wurde aufgefordert, das Protokoll zu unterschreiben. Darin hieß es, ich sei angeklagt, deutscher Staatsbürger zu sein." Eberlein mußte die kommenden Jahre in der Kälte Sibiriens verbringen. Erst 1948 kehrte er nach Deutschland zurück. In der DDR wurde er zunächst Dolmetscher im ZK-Apparat. Später machte er an der Seite von Ulbricht und Honecker Parteikarriere.
Es scheint unbegreiflich, wie Eberlein der kommunistischen Bewegung angesichts seiner Rußland-Erfahrungen treu bleiben konnte. "Stalin war für alle etwas Fernes, ein Gott, unerreichbar weit, ihrer Welt entrückt", schreibt er, und es klingt wie eine Art Entschuldigung. Eberlein kannte seit frühester Jugend nichts anderes als die doktrinäre kommunistische Ideologie. Seine weltanschauliche Konzeption blieb zeitlebens von Schwarzweißbildern bestimmt. So etwa, wenn er heute seinen vergleichsweise guten Gesundheitszustand mit den Erfahrungen der Stalin-Zeit begründet: "Daß ich 1990 die durch eine inkomplette Querschnittslähmung bedingte Notoperation überstand und relativ schnell aus dem mir für den Rest der Lebenszeit prophezeiten Rollstuhl stieg, habe ich nicht zuletzt der in Sibirien erworbenen Fähigkeit zu verdanken, sich im Kampf ums Überleben zu behaupten."
DDR-Nostalgie
Eberleins Erinnerungen lesen sich spannend, sobald er seine individuellen Lebensumstände beschreibt. Anschaulich schildert er die Zeit in Rußland. Bei Eberleins Berichten über einen Besuch bei Lenins Witwe, über einen "Wodka-Lehrgang" oder über den Einzug in das legendäre Emigranten-Hotel "Lux" merkt man, daß diese Jahre für ihn mehr bedeuteten als ein Zwangsaufenthalt: "Dieses Rußland wurde meine zweite Heimat, obwohl ich die Worte ,Weine, weine, russisches Volk, hungriges Volk' aus dem Schlußchor der Oper ,Boris Godunow' am eigenen Leib zu spüren bekam."
Mühevoll wird die Lektüre, wenn der Autor Ausflüge in die Politik unternimmt. Der didaktische Zeigefinger des Marxisten ist stets erhoben, gleichgültig, ob sich Eberlein über die "moderne westliche Kleidung" von Raissa Gorbatschow oder die Diäten bürgerlicher Politiker beklagt. Man findet viel DDR-Nostalgie aus Funktionärssicht, viele Daten aus statistischen Jahrbüchern der DDR und viele oberlehrerhaft kommentierte Zitate aus Erinnerungsbänden von Politikern aus Ost und West. All das erscheint zuweilen holzschnitthaft konturiert und behindert die Lesbarkeit des Buches.
Am Ende versucht Eberlein einen Ausblick zu geben. Er fragt sich: "Quo vadis, Menschheit?", "Kann die Erde noch alle Menschen ernähren?" oder "Ist die Erde noch tragfähig?" Seine Bestandsanalyse ist weder falsch noch neu. Der Autor konstatiert Politikverdrossenheit, Fehlen von Zukunftsvisionen und eine Moral des "In-den-Tag-hinein-Lebens". Die Alternative, die er anbietet, heißt "demokratischer Sozialismus, der in sich alle zivilisatorischen Errungenschaften der Vergangenheit aufnimmt und sich imstande zeigt, alle geschichtlich überholten gesellschaftlichen Verhältnisse zu überwinden". Was dieser "demokratische Sozialismus" sein soll, wie er funktionieren soll, vermag er jedoch nicht zu sagen.
Eberlein zeichnet ein Gemälde sozialistischen Zeitgeistes des vergangenen Jahrhunderts und gibt viele, wenn auch manchmal erschreckende Einblicke in die Gedankenwelt einer kommunistischen Funktionärskaste.
THOMAS KUNZE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Politbüro-Mitglied Werner Eberlein erinnert sich
Werner Eberlein: Geboren am 9. November. Erinnerungen. Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2000. 536 Seiten, Abbildungen, 39,90 Mark.
Das Politbüro war das Machtzentrum der SED. Abgeschirmt von der Außenwelt - und dies nicht nur im räumlichen Sinne -, tagte es einmal pro Woche in Ostberlin. In der Endzeit der Honecker-Ära bestand es aus 26 Mitgliedern und Kandidaten. Werner Eberlein gehörte dem von Erich Honecker geleiteten Politbüro ebenso an wie dem nach der Wende neu konstituierten Politbüro unter Egon Krenz.
Der 1919 als Sohn des KPD-Mitbegründers Hugo Eberlein geborene Autor zählte nicht zu den "Hardlinern" der SED-Altherrenriege. Aber er war auch weit davon entfernt, ein Reformer zu sein. Honecker entschied 1986 über Eberleins Aufnahme ins Politbüro, exakt in dem Jahr, in dem Gorbatschow in der Sowjetunion die Perestroika einläutete. Damals arbeitete Eberlein als SED-Bezirkschef in Magdeburg. Er stimmte mit Honecker in der Ablehnung des neuen Moskauer Kurses überein: "Ich hatte meine Probleme mit der Perestroika, hatte vor allem Schwierigkeiten mit ihrem Inhalt und damit, in ihre ,Konstruktion' einzudringen."
Betrachtet man sich den Lebensweg Eberleins, fällt es schwer zu verstehen, warum er Gorbatschows neuem Denken nichts abgewinnen konnte. In der Stalin-Zeit hatte er selbst bittere Erfahrungen mit dem totalitären System machen müssen. 1934 floh der Jungkommunist aus Berlin nach Moskau. Seine Familie hatte gute Beziehungen zur Lenin-Witwe Nadeshda Krupskaja, so daß der Junge zunächst bestens aufgenommen wurde. Doch als Stalin 1936 eine unfaßbare und bestialische Säuberungskampagne gegen die eigenen Genossen entfachte, änderte sich das schlagartig: "Mit siebzehn Jahren wurde ich von der Schulbank weg zu schwerer körperlicher Arbeit gezwungen, mit zwanzig in das sibirische Narym verbannt. Zur gleichen Zeit wurden mein Vater und mein Onkel irgendwo bei Moskau erschossen und verscharrt."
Emigrant in Moskau
Im August 1939 brach für die kommunistischen deutschen Emigranten in Moskau endgültig eine Welt zusammen. Hitlers Außenminister von Ribbentrop und sein russischer Amtskollege Molotow unterzeichneten den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt. Als sich Stalin nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in die Sowjetunion im Juni 1941 von Hitler betrogen sah, hatte das katastrophale Folgen für aus Deutschland stammende Flüchtlinge. Eberlein erinnert sich an ein kurzes Verhör im Gebäude des NKWD (später: KGB): "Ich wurde aufgefordert, das Protokoll zu unterschreiben. Darin hieß es, ich sei angeklagt, deutscher Staatsbürger zu sein." Eberlein mußte die kommenden Jahre in der Kälte Sibiriens verbringen. Erst 1948 kehrte er nach Deutschland zurück. In der DDR wurde er zunächst Dolmetscher im ZK-Apparat. Später machte er an der Seite von Ulbricht und Honecker Parteikarriere.
Es scheint unbegreiflich, wie Eberlein der kommunistischen Bewegung angesichts seiner Rußland-Erfahrungen treu bleiben konnte. "Stalin war für alle etwas Fernes, ein Gott, unerreichbar weit, ihrer Welt entrückt", schreibt er, und es klingt wie eine Art Entschuldigung. Eberlein kannte seit frühester Jugend nichts anderes als die doktrinäre kommunistische Ideologie. Seine weltanschauliche Konzeption blieb zeitlebens von Schwarzweißbildern bestimmt. So etwa, wenn er heute seinen vergleichsweise guten Gesundheitszustand mit den Erfahrungen der Stalin-Zeit begründet: "Daß ich 1990 die durch eine inkomplette Querschnittslähmung bedingte Notoperation überstand und relativ schnell aus dem mir für den Rest der Lebenszeit prophezeiten Rollstuhl stieg, habe ich nicht zuletzt der in Sibirien erworbenen Fähigkeit zu verdanken, sich im Kampf ums Überleben zu behaupten."
DDR-Nostalgie
Eberleins Erinnerungen lesen sich spannend, sobald er seine individuellen Lebensumstände beschreibt. Anschaulich schildert er die Zeit in Rußland. Bei Eberleins Berichten über einen Besuch bei Lenins Witwe, über einen "Wodka-Lehrgang" oder über den Einzug in das legendäre Emigranten-Hotel "Lux" merkt man, daß diese Jahre für ihn mehr bedeuteten als ein Zwangsaufenthalt: "Dieses Rußland wurde meine zweite Heimat, obwohl ich die Worte ,Weine, weine, russisches Volk, hungriges Volk' aus dem Schlußchor der Oper ,Boris Godunow' am eigenen Leib zu spüren bekam."
Mühevoll wird die Lektüre, wenn der Autor Ausflüge in die Politik unternimmt. Der didaktische Zeigefinger des Marxisten ist stets erhoben, gleichgültig, ob sich Eberlein über die "moderne westliche Kleidung" von Raissa Gorbatschow oder die Diäten bürgerlicher Politiker beklagt. Man findet viel DDR-Nostalgie aus Funktionärssicht, viele Daten aus statistischen Jahrbüchern der DDR und viele oberlehrerhaft kommentierte Zitate aus Erinnerungsbänden von Politikern aus Ost und West. All das erscheint zuweilen holzschnitthaft konturiert und behindert die Lesbarkeit des Buches.
Am Ende versucht Eberlein einen Ausblick zu geben. Er fragt sich: "Quo vadis, Menschheit?", "Kann die Erde noch alle Menschen ernähren?" oder "Ist die Erde noch tragfähig?" Seine Bestandsanalyse ist weder falsch noch neu. Der Autor konstatiert Politikverdrossenheit, Fehlen von Zukunftsvisionen und eine Moral des "In-den-Tag-hinein-Lebens". Die Alternative, die er anbietet, heißt "demokratischer Sozialismus, der in sich alle zivilisatorischen Errungenschaften der Vergangenheit aufnimmt und sich imstande zeigt, alle geschichtlich überholten gesellschaftlichen Verhältnisse zu überwinden". Was dieser "demokratische Sozialismus" sein soll, wie er funktionieren soll, vermag er jedoch nicht zu sagen.
Eberlein zeichnet ein Gemälde sozialistischen Zeitgeistes des vergangenen Jahrhunderts und gibt viele, wenn auch manchmal erschreckende Einblicke in die Gedankenwelt einer kommunistischen Funktionärskaste.
THOMAS KUNZE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main