Ismail Kadares Reise an den Ursprung seines Erzählens
Selten geschieht es in der Weltliteratur, dass ein ganzes Werk von einem Ort einzigen ausgeht und immer wieder zu ihm zurückkehrt. Bei Ismail Kadare ist das Gjirokastra, einst die mächtigste Gebirgssiedlung Albaniens. Große Kastenhäuser ducken sich wie Nester in den Hang. Enge Gassen, verwinkelte Gänge, dunkle Tore. Über allem der Schatten der Burg.
In diesem Labyrinth aus Stein und Geheimnis ist Kadare geboren. Hier verlebte er seine Kindheit und Jugend und sog unter den Granitdächern von den Großeltern mysteriöse Geschichten von Geistern und Gespenstern in sich auf. Hierhin kehrte er in seinen Büchern immer wieder zurück, auch in seinem letzten Roman »Die Puppe«, der diesen Band beschließt und seiner Mutter gewidmet ist.
»Er ist der Homer Albaniens.«
Die Welt
»Ismail Kadare hat mehr über das 20. Jahrhundert und seine Dunkelheit zu erzählen als jeder andere zeitgenössische Autor.«
Daniel Kehlmann
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Selten geschieht es in der Weltliteratur, dass ein ganzes Werk von einem Ort einzigen ausgeht und immer wieder zu ihm zurückkehrt. Bei Ismail Kadare ist das Gjirokastra, einst die mächtigste Gebirgssiedlung Albaniens. Große Kastenhäuser ducken sich wie Nester in den Hang. Enge Gassen, verwinkelte Gänge, dunkle Tore. Über allem der Schatten der Burg.
In diesem Labyrinth aus Stein und Geheimnis ist Kadare geboren. Hier verlebte er seine Kindheit und Jugend und sog unter den Granitdächern von den Großeltern mysteriöse Geschichten von Geistern und Gespenstern in sich auf. Hierhin kehrte er in seinen Büchern immer wieder zurück, auch in seinem letzten Roman »Die Puppe«, der diesen Band beschließt und seiner Mutter gewidmet ist.
»Er ist der Homer Albaniens.«
Die Welt
»Ismail Kadare hat mehr über das 20. Jahrhundert und seine Dunkelheit zu erzählen als jeder andere zeitgenössische Autor.«
Daniel Kehlmann
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Mit wilder Fabulierlust vermengt Kadare alte Legenden mit der Gegenwart, schaut ironisch auf die unter der Diktatur geduckte Gesellschaft Lerke von Saalfeld Frankfurter Allgemeine Zeitung 20200331
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.01.2020Taxi nach Tirana
Alte Clanstrukturen, neuer Kommunismus: Der albanische Erzähler Ismail Kadare blickt zurück auf seine Kindheit
Den Literaturnobelpreis wird Ismail Kadare wohl kaum noch bekommen. Ein zweites Handke-Debakel kann die Schwedische Akademie nicht brauchen. Dabei liegen die Fälle denkbar weit auseinander. Handke hat sich ohne Not mit der serbischen Kriegspartei eingelassen, Kadare in Albanien Jahrzehnte unter dem archaisch-diktatorischen Hoxha-Regime verbracht, gelobt und verboten, ins Scheinparlament abkommandiert und zur Landarbeit in die Provinz verbannt. Er hat überlebt – und in verrätselt historischen Romanen Botschaften über die Gegenwart versteckt. Kadare gehört auch ohne den Nobelpreis längst zur Weltliteratur, was ihm andere bedeutende Preisjurys wie die des Man Booker (2005) oder des Prinz von Asturien-Preises (2009) bestätigt haben.
Seine jüngste Veröffentlichung auf Deutsch – sie hinkt, wie meist, den französischen zum Teil um Jahre hinterher – bündelt drei Erzählungen und einen Kurzroman, alle autobiografisch. Entstanden sind sie zwischen 1986 und 2013, motivisch-thematisch verbunden durch Gjirokastra, die Geburtsstadt Kadares (und auch Enver Hoxhas), sowie das Geburtshaus, in dem die Kadares seit Jahrhunderten lebten und das 1999 bis auf die Grundmauern abbrannte.
Verbunden aber vor allem durch die Familie! Die ist bei Kadare ein Ort der unaufhörlichen Streitereien, der Rivalität, der kleinen Sticheleien und des großen Anschweigens. Eine Heirat, die Verschwägerung mit einem anderen Clan, bietet die Chance, all diese Animositäten gemeinsam gegen die „Neuen“ zu wenden. Und dies lebens-, nein generationenlang. Auch unterhalb des Blutrache-Niveaus waren epochale Feindschaften in diesem Teil des Balkans offenbar Volkssport. Sie dauern auch dann noch fort, wenn der (meist banale) Anlass längst vergessen ist. Ist man verschwägert, muss die Feindschaft auf kleinem Feuer köcheln, aber kleine Feuer sind ja nicht weniger schmerzhaft. Und natürlich beginnen Erbstreitigkeiten, wenn der Leichnam noch warm ist.
Wegen eines solchen „alten Zwists“, den zu begründen ganz überflüssig ist, betritt Vater Kadare das Haus der Dobis, der Eltern seiner Schwiegertochter, seit elf Jahren nicht mehr. Dafür wird unentwegt verglichen. Die Dobis sind zahlreicher, sie verfügen neben den Großeltern über den großen und den kleinen Oheim, die große und die kleine Muhme . Die Kadares haben dagegen fast nur Tote aufzubieten, dafür aber ein riesiges Gebäude mit großen, ungenutzten Zimmern, auch unfertige, „noch-nicht-Zimmer, Föten gleich“, Geheimgänge, eine Zisterne und ein veritables Verlies.
Früher erledigte man Rechtshändel mitsamt der Haftstrafen in den eigenen vier Wänden. Das alte Haus, erläutert Kadare, „war so gebaut, dass die Erinnerung an einen Verstobenen möglichst lange in ihm erhalten blieb“. Der jungen Braut, die mit 17 Jahren hier einzog – den künftigen Gatten hatte sie nur einmal kurz aus dem Fenster erspäht –, nimmt das Haus die Luft, in ihren Worten: „Es frisst mich auf.“ Es ist die Mutter des Schriftstellers, ihr Porträt nimmt unter dem Titel „Die Puppe“ den gewichtigsten Teil des Bandes ein. Das Verhältnis von Mutter und Sohn ist von einem Berg des Unverständnisses gekennzeichnet, und der Sohn versucht wenigstens posthum – die Mutter starb 1994, als Kadare schon im Pariser Exil lebte – ein Stück davon abzutragen.
Die Siebzehnjährige war mit ihrer Verheiratung unter die Fuchtel einer Schwiegermutter geraten, die als „verkniffen“ und zugleich äußerst „klug“ galt und so doppelt einschüchternd wirkte. Ab einem bestimmten Alter verließ sie das Haus nicht mehr, was ihren Status aus unerfindlichen Gründen noch erhöhte. Dasselbe kündigt ein altes Hochzeitslied auch der jungen Braut an: „Braut / wo deine Füße jetzt stehen / sollen dereinst / die Zähne dir ausfallen.“
Kadares nachgetragene Liebe zeichnet nach, wie sehr seine Mutter, um deren Entwicklung sich niemand gekümmert hat, vom schriftstellerischen Ehrgeiz und den ersten Erfolgen des Sohnes verwirrt wird. „Nun, da du namhaftig bist“, fragt sie ihn in ihrer unbeholfenen, neue Begriffe mühsam integrierenden Sprache, werde er sie ja wohl „eintauschen“?
Der frühen literarischen Aktivität des jungen Ismail gelten starke Passagen des Bandes. Vor allem den sehr frühen. Denn nach ersten volksnahen Versen („Wer schafft / braucht Kraft / wer stiehlt, den straft / das Volk mit Haft“) wirft er sich mit seinem Freund Ilir auf einen monumentalen Roman, von dem zumindest Titel und Schlusssatz – „Das ist der Sieg!“ – sowie ausgesuchte Werbesprüche – „das posthume Hauptwerk zweier Giganten der Feder“ – schon mal fixiert sind. Zur Ausführung kommt es dann nicht mehr.
Einige Jahre später erscheint tatsächlich Ismails erster Gedichtband, und der Vater spendiert ihm eine Taxifahrt zum Verleger nach Tirana, was Familie und Nachbarn stärker beeindruckt als die Veröffentlichung selber. In dieser Passage und anderen mit ähnlichen Schelmenstücken fällt der humoristische Ton auf, den man so bei Kadare noch nicht kennt. Wobei sich manches im Rückblick heiterer ausnimmt, als es wohl war. Der 12-jährige Ismail, der mit besagtem Freund Münzen in geschmolzenes Blei drückt, wandert für zwei Tage ins Gefängnis. Und der politische Umbruch mit nachfolgenden Säuberungen erscheint in der Rückerinnerung an die Kindheit als Räuber- und Gendarm-Spiel, mitsamt dem Erstaunen, dass die Räuber sich als Geschichtslehrer und Anwalt herausstellen, die durch die Stadt getrieben und gedemütigt werden, als „Agenten der Angloamerikaner“.
Der Terror der kommunistischen Herrschaft, die Paranoia oben und die panische Angst unten, die Kadare in Romanen wie „Der Nachfolger“ oder „Spiritus“ auf beklemmende Weise vergegenwärtigt hat, verblassen hier zu Anekdoten. Etwa, als Ismail von einem Lehrer, der ängstlich allen Schulstoff auf die „neue Zeit“ zuzuschneiden bemüht ist, über die Fotosynthese geprüft wird und schwadroniert, diese sei „von früheren Regimes nicht gebührend gewürdigt worden“.
Sehr früh offenbar zeigt sich der künftige Schriftsteller empfindlich gegenüber politisch-literarischer Phraseologie. Die linientreuen Romane in der Leihbücherei stossen ihn ab: „Immer nur Arbeitseifer, lächelnde Menschen mit lupenreinen Herzen, die um die Wette liefen, wenn man sein letztes Stück Brot oder seine einzige Jacke an einen Genossen abgeben konnte.“ Später, am Gorki-Institut in Moskau, wird den Literaturstudenten im „Seminar zur Denunzierung des Trios Joyce-Kafka-Proust“, das sie „Schwarze Messe“ nennen, beigebracht, wie sie auf keinen Fall zu schreiben hätten, mit der Folge, „dass wir des Nachts, von Skrupeln geplagt, letztlich der sündhaften Versuchung nicht widerstehen konnten, extra so zu schreiben wie die Bösewichte“.
Dieser Band ist jedenfalls mit leichter Hand geschrieben und locker komponiert. Es sind autobiografische Skizzen, die eher die skurrilen Elemente in der Umbruchszeit suchen als die finstere Groteske wie in seinen großen Romanen. Auf eine wirkliche Autobiografie müssen wir wohl vergeblich warten. Obwohl kein Sujet vertrackter für den Autor und aufschlussreicher für den Leser wäre als die Rolle Kadares in einem der schrecklichsten politischen Systeme Europas.
MARTIN EBEL
Ewiger Nobelpreiskandidat:
Ismail Kadare. Foto: imago
Ismail Kadare: Geboren
aus Stein. Ein Roman und autobiografische Prosa.
Aus dem Albanischen von Joachim Röhm. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2019. 286 Seiten, 23 Euro
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Alte Clanstrukturen, neuer Kommunismus: Der albanische Erzähler Ismail Kadare blickt zurück auf seine Kindheit
Den Literaturnobelpreis wird Ismail Kadare wohl kaum noch bekommen. Ein zweites Handke-Debakel kann die Schwedische Akademie nicht brauchen. Dabei liegen die Fälle denkbar weit auseinander. Handke hat sich ohne Not mit der serbischen Kriegspartei eingelassen, Kadare in Albanien Jahrzehnte unter dem archaisch-diktatorischen Hoxha-Regime verbracht, gelobt und verboten, ins Scheinparlament abkommandiert und zur Landarbeit in die Provinz verbannt. Er hat überlebt – und in verrätselt historischen Romanen Botschaften über die Gegenwart versteckt. Kadare gehört auch ohne den Nobelpreis längst zur Weltliteratur, was ihm andere bedeutende Preisjurys wie die des Man Booker (2005) oder des Prinz von Asturien-Preises (2009) bestätigt haben.
Seine jüngste Veröffentlichung auf Deutsch – sie hinkt, wie meist, den französischen zum Teil um Jahre hinterher – bündelt drei Erzählungen und einen Kurzroman, alle autobiografisch. Entstanden sind sie zwischen 1986 und 2013, motivisch-thematisch verbunden durch Gjirokastra, die Geburtsstadt Kadares (und auch Enver Hoxhas), sowie das Geburtshaus, in dem die Kadares seit Jahrhunderten lebten und das 1999 bis auf die Grundmauern abbrannte.
Verbunden aber vor allem durch die Familie! Die ist bei Kadare ein Ort der unaufhörlichen Streitereien, der Rivalität, der kleinen Sticheleien und des großen Anschweigens. Eine Heirat, die Verschwägerung mit einem anderen Clan, bietet die Chance, all diese Animositäten gemeinsam gegen die „Neuen“ zu wenden. Und dies lebens-, nein generationenlang. Auch unterhalb des Blutrache-Niveaus waren epochale Feindschaften in diesem Teil des Balkans offenbar Volkssport. Sie dauern auch dann noch fort, wenn der (meist banale) Anlass längst vergessen ist. Ist man verschwägert, muss die Feindschaft auf kleinem Feuer köcheln, aber kleine Feuer sind ja nicht weniger schmerzhaft. Und natürlich beginnen Erbstreitigkeiten, wenn der Leichnam noch warm ist.
Wegen eines solchen „alten Zwists“, den zu begründen ganz überflüssig ist, betritt Vater Kadare das Haus der Dobis, der Eltern seiner Schwiegertochter, seit elf Jahren nicht mehr. Dafür wird unentwegt verglichen. Die Dobis sind zahlreicher, sie verfügen neben den Großeltern über den großen und den kleinen Oheim, die große und die kleine Muhme . Die Kadares haben dagegen fast nur Tote aufzubieten, dafür aber ein riesiges Gebäude mit großen, ungenutzten Zimmern, auch unfertige, „noch-nicht-Zimmer, Föten gleich“, Geheimgänge, eine Zisterne und ein veritables Verlies.
Früher erledigte man Rechtshändel mitsamt der Haftstrafen in den eigenen vier Wänden. Das alte Haus, erläutert Kadare, „war so gebaut, dass die Erinnerung an einen Verstobenen möglichst lange in ihm erhalten blieb“. Der jungen Braut, die mit 17 Jahren hier einzog – den künftigen Gatten hatte sie nur einmal kurz aus dem Fenster erspäht –, nimmt das Haus die Luft, in ihren Worten: „Es frisst mich auf.“ Es ist die Mutter des Schriftstellers, ihr Porträt nimmt unter dem Titel „Die Puppe“ den gewichtigsten Teil des Bandes ein. Das Verhältnis von Mutter und Sohn ist von einem Berg des Unverständnisses gekennzeichnet, und der Sohn versucht wenigstens posthum – die Mutter starb 1994, als Kadare schon im Pariser Exil lebte – ein Stück davon abzutragen.
Die Siebzehnjährige war mit ihrer Verheiratung unter die Fuchtel einer Schwiegermutter geraten, die als „verkniffen“ und zugleich äußerst „klug“ galt und so doppelt einschüchternd wirkte. Ab einem bestimmten Alter verließ sie das Haus nicht mehr, was ihren Status aus unerfindlichen Gründen noch erhöhte. Dasselbe kündigt ein altes Hochzeitslied auch der jungen Braut an: „Braut / wo deine Füße jetzt stehen / sollen dereinst / die Zähne dir ausfallen.“
Kadares nachgetragene Liebe zeichnet nach, wie sehr seine Mutter, um deren Entwicklung sich niemand gekümmert hat, vom schriftstellerischen Ehrgeiz und den ersten Erfolgen des Sohnes verwirrt wird. „Nun, da du namhaftig bist“, fragt sie ihn in ihrer unbeholfenen, neue Begriffe mühsam integrierenden Sprache, werde er sie ja wohl „eintauschen“?
Der frühen literarischen Aktivität des jungen Ismail gelten starke Passagen des Bandes. Vor allem den sehr frühen. Denn nach ersten volksnahen Versen („Wer schafft / braucht Kraft / wer stiehlt, den straft / das Volk mit Haft“) wirft er sich mit seinem Freund Ilir auf einen monumentalen Roman, von dem zumindest Titel und Schlusssatz – „Das ist der Sieg!“ – sowie ausgesuchte Werbesprüche – „das posthume Hauptwerk zweier Giganten der Feder“ – schon mal fixiert sind. Zur Ausführung kommt es dann nicht mehr.
Einige Jahre später erscheint tatsächlich Ismails erster Gedichtband, und der Vater spendiert ihm eine Taxifahrt zum Verleger nach Tirana, was Familie und Nachbarn stärker beeindruckt als die Veröffentlichung selber. In dieser Passage und anderen mit ähnlichen Schelmenstücken fällt der humoristische Ton auf, den man so bei Kadare noch nicht kennt. Wobei sich manches im Rückblick heiterer ausnimmt, als es wohl war. Der 12-jährige Ismail, der mit besagtem Freund Münzen in geschmolzenes Blei drückt, wandert für zwei Tage ins Gefängnis. Und der politische Umbruch mit nachfolgenden Säuberungen erscheint in der Rückerinnerung an die Kindheit als Räuber- und Gendarm-Spiel, mitsamt dem Erstaunen, dass die Räuber sich als Geschichtslehrer und Anwalt herausstellen, die durch die Stadt getrieben und gedemütigt werden, als „Agenten der Angloamerikaner“.
Der Terror der kommunistischen Herrschaft, die Paranoia oben und die panische Angst unten, die Kadare in Romanen wie „Der Nachfolger“ oder „Spiritus“ auf beklemmende Weise vergegenwärtigt hat, verblassen hier zu Anekdoten. Etwa, als Ismail von einem Lehrer, der ängstlich allen Schulstoff auf die „neue Zeit“ zuzuschneiden bemüht ist, über die Fotosynthese geprüft wird und schwadroniert, diese sei „von früheren Regimes nicht gebührend gewürdigt worden“.
Sehr früh offenbar zeigt sich der künftige Schriftsteller empfindlich gegenüber politisch-literarischer Phraseologie. Die linientreuen Romane in der Leihbücherei stossen ihn ab: „Immer nur Arbeitseifer, lächelnde Menschen mit lupenreinen Herzen, die um die Wette liefen, wenn man sein letztes Stück Brot oder seine einzige Jacke an einen Genossen abgeben konnte.“ Später, am Gorki-Institut in Moskau, wird den Literaturstudenten im „Seminar zur Denunzierung des Trios Joyce-Kafka-Proust“, das sie „Schwarze Messe“ nennen, beigebracht, wie sie auf keinen Fall zu schreiben hätten, mit der Folge, „dass wir des Nachts, von Skrupeln geplagt, letztlich der sündhaften Versuchung nicht widerstehen konnten, extra so zu schreiben wie die Bösewichte“.
Dieser Band ist jedenfalls mit leichter Hand geschrieben und locker komponiert. Es sind autobiografische Skizzen, die eher die skurrilen Elemente in der Umbruchszeit suchen als die finstere Groteske wie in seinen großen Romanen. Auf eine wirkliche Autobiografie müssen wir wohl vergeblich warten. Obwohl kein Sujet vertrackter für den Autor und aufschlussreicher für den Leser wäre als die Rolle Kadares in einem der schrecklichsten politischen Systeme Europas.
MARTIN EBEL
Ewiger Nobelpreiskandidat:
Ismail Kadare. Foto: imago
Ismail Kadare: Geboren
aus Stein. Ein Roman und autobiografische Prosa.
Aus dem Albanischen von Joachim Röhm. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2019. 286 Seiten, 23 Euro
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.03.2020Zwei wilde Tiere gehen sich an die Gurgel
In Ismail Kadares Prosaband "Geboren aus Stein" treten Diktatur und Literatur gegeneinander an
Noch immer hat Ismail Kadare (Jahrgang 1936) nicht den Nobelpreis für Literatur erhalten. Dafür kann sich die Leserschaft freuen, dass ein neuer Band autobiographischer Prosa von ihm erschienen ist: Prosa, in der der Schriftsteller seine Kindheit und Jugendjahre in dem südalbanischen Städtchen Gjirokastra beschreibt - dem Ort, in dem auch Enver Hodscha geboren wurde.
Der junge Ismail und sein Freund Ilir sind aufgeweckte Spielgenossen, die keinen Blödsinn scheuen. Sie wollen zusammen einen Roman schreiben, scheitern aber an ihren hochfahrenden Plänen; sie wollen reich werden, indem sie alte Bleilettern schmelzen und daraus ein paar Fünf-Lek-Münzen prägen. Reich werden sie nicht, dafür landen sie wegen Falschmünzerei für kurze Zeit im Gefängnis. Auch dies trägt zum Ruhm bei. Sie wollen eine Angebetete erobern und fassen ihr kühn unter den Rock, damit ist die Freundschaft verspielt. Die politischen Verhältnisse sind undurchsichtig. Die deutsche Besatzung ist abgezogen, und plötzlich tauchen überall aus dem Untergrund Kommunisten hervor. Sogar eine elegante Dame, "die Französin" genannt wird, entpuppt sich als Genossin. "Selbstentschleierung" nennt dies der Autor, der als Kind aus dem Staunen nicht herauskam. Die neuen Herrscher überzeugten nicht, die Kinder empfanden sie als Waschlappen.
"Geboren aus Stein" hat Kadare die vier Prosastücke überschrieben, in Anlehnung an seine 1971 erschienene "Chronik in Stein", die sich ebenfalls mit seiner Heimat beschäftigt. Stein, das sind die gewaltigen Wohnburgen, in denen die besseren albanischen Familien leben. Die Häuser sind undurchschaubare Labyrinthe, haben Gelasse und Nebengelasse, bewohnte und unbewohnte Zimmer, gewundene Treppen, Geheimtüren und Geheimausgänge, verschattete Innenhöfe, Flure und Dielen, die ins Nichts zu führen scheinen.
Sogar ein Verlies gehört zu diesen Häusern, ein Privatgefängnis, tief in den Berg eingelassen und nur über eine Strickleiter von oben zu erreichen. Der Kerker ist Symbol uralter Traditionen. "Manche hielten das bloß für einen Spleen, die anderen glaubten darin eine alte, inzwischen überholte Rechtsvorstellung zu entdecken: Staat und Haus existieren nebeneinander, mit jeweils eigenen Gesetzen."
Die Mutter von Ismail stammt nicht aus einem solch herrschaftlichen Haus, sie fürchtet sich in den gewaltigen Mauern und hat das beklemmende Gefühl, von dem alten Haus aufgefressen zu werden. Geister gehen umher, die sich nicht bezähmen lassen, "Narrendinge" passieren, und ein Text ist überschrieben mit "Wie Hamlet mir half, die Gespenster zu vertreiben".
Mit wilder Fabulierlust vermengt Kadare alte Legenden mit der Gegenwart, schaut ironisch auf die unter der Diktatur geduckte Gesellschaft und macht sich auch über sich selbst lustig als ein übermütiger Beobachter der wirren albanischen Lebensverhältnisse. Der Schriftsteller tanzte auf den Wellen, mal war er ganz oben und genoss Hodschas Anerkennung, mal war er ganz unten und erhielt Veröffentlichungsverbot.
Seine Heimat verließ er 1990, weil er sich politisch bedroht fühlte. Die Nachfolge Enver Hodschas, der 1985 gestorben war, bot keine Sicherheit. Erst 2002 kehrte Kadare nach Tirana zurück, behielt aber seinen Zweitwohnsitz in Paris. In Albanien hatte der Autor stets eine doppelte Identität: Er war Mitglied der Kommunistischen Partei, Parlamentsabgeordneter und hatte einen hohen Posten im Schriftstellerverband. Gleichzeitig galt er als unpatriotisch und als Dissident, der sich dem Regime gegenüber nicht willfährig genug zeigte. Kadare ließ sich als dessen Aushängeschild benutzen und wurde gleichzeitig als Hoffnungsträger geachtet. Die einen feierten ihn als aufrechten Demokraten, die anderen kritisierten seine Anpassung an das Regime des Diktators. Als "Václav Havel Albaniens" verhöhnten ihn seine Gegner. Doppeldeutig ist auch sein Bekenntnis: "Meine besten Romane sind auf dem Höhepunkt der kommunistischen Diktatur entstanden."
Kadare spielte mit der Macht, verachtete sie und schmiegte sich an, wenn es sein musste, "Diktatur und Literatur sind wie zwei wilde Tiere, die einander ständig an der Gurgel packen. Der Schriftsteller ist der natürliche Feind der Diktatur." Das schrieb er 1991. Zu Zeiten Enver Hodschas und nach dem Ende des Terrors war und blieb Kadare der gefeierte Nationalschriftsteller. Mit seiner wortgewaltigen Sprache, seinen verschlungenen literarischen Erkundungen in der Vergangenheit seines Landes, mit der Bloßlegung der Mythen und Sitten seiner Mitmenschen, mit der Aufdeckung ihrer abgrundtiefen, sich über Jahrhunderte ziehenden Feindschaften hat Kadare eine einzigartige Landkarte seiner Heimat gezeichnet, die immer wie ein weißer Fleck im Südwesten Europas wirkte - unnahbar und abweisend, ein Rätsel. 2009 wurde in Tirana eine zwanzigbändige Werkausgabe für ihn herausgegeben, der auch die meisten Texte dieses Prosabandes entnommen sind. Entstanden sind sie in den Jahren 1984 bis in die jüngste Gegenwart. Seit Jahrzehnten ist Joachim Röhm, der in den siebziger Jahren längere Zeit in Albanien lebte, der geniale deutsche Übersetzer dieses furiosen Werkes, so auch hier.
Jüngeren Datums ist das Porträt seiner Mutter, die in der Familie "die Puppe" genannt wurde, weil sie sich so maskenhaft schminkte und keine Regung zu erkennen gab. Der Sohn hat keine emotionalen Beziehungen zu ihr, sie ist, wie das Regime, hart, unnahbar, verschlossen. Nur an einem Punkt ist sie sensibel: Sie hasst das große steinerne Haus, das ihr keine Luft zum Atmen lässt. Über Jahre hinweg musste sie sich einem hausinternen Gerichtsverfahren stellen. Die Mutter und deren Schwiegermutter wollten sich nicht miteinander vertragen, sie hassten sich. Erst mit dem Tod von Kadares Großmutter im Jahr 1953 wurde der alte Streit beigelegt und die Drohung, dass eine von beiden ins Verlies kommen könnte, gebannt. Dass im selben Jahr Stalin gestorben war, bewegte die Familie weniger; sie hatte ihre eigenen Gesetze. Was in der großen kommunistischen Welt vor sich ging, der Bruch mit der Sowjetunion, die Annäherung an China, berührte diese albanische Familie nicht, sie war eingebunden und gehorchte einem anderen, steinernen Kosmos.
LERKE VON SAALFELD.
Ismail Kadare: "Geboren aus Stein". Ein Roman und autobiographische Prosa.
Aus dem Albanischen von Joachim Röhm.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2019. 287 S., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In Ismail Kadares Prosaband "Geboren aus Stein" treten Diktatur und Literatur gegeneinander an
Noch immer hat Ismail Kadare (Jahrgang 1936) nicht den Nobelpreis für Literatur erhalten. Dafür kann sich die Leserschaft freuen, dass ein neuer Band autobiographischer Prosa von ihm erschienen ist: Prosa, in der der Schriftsteller seine Kindheit und Jugendjahre in dem südalbanischen Städtchen Gjirokastra beschreibt - dem Ort, in dem auch Enver Hodscha geboren wurde.
Der junge Ismail und sein Freund Ilir sind aufgeweckte Spielgenossen, die keinen Blödsinn scheuen. Sie wollen zusammen einen Roman schreiben, scheitern aber an ihren hochfahrenden Plänen; sie wollen reich werden, indem sie alte Bleilettern schmelzen und daraus ein paar Fünf-Lek-Münzen prägen. Reich werden sie nicht, dafür landen sie wegen Falschmünzerei für kurze Zeit im Gefängnis. Auch dies trägt zum Ruhm bei. Sie wollen eine Angebetete erobern und fassen ihr kühn unter den Rock, damit ist die Freundschaft verspielt. Die politischen Verhältnisse sind undurchsichtig. Die deutsche Besatzung ist abgezogen, und plötzlich tauchen überall aus dem Untergrund Kommunisten hervor. Sogar eine elegante Dame, "die Französin" genannt wird, entpuppt sich als Genossin. "Selbstentschleierung" nennt dies der Autor, der als Kind aus dem Staunen nicht herauskam. Die neuen Herrscher überzeugten nicht, die Kinder empfanden sie als Waschlappen.
"Geboren aus Stein" hat Kadare die vier Prosastücke überschrieben, in Anlehnung an seine 1971 erschienene "Chronik in Stein", die sich ebenfalls mit seiner Heimat beschäftigt. Stein, das sind die gewaltigen Wohnburgen, in denen die besseren albanischen Familien leben. Die Häuser sind undurchschaubare Labyrinthe, haben Gelasse und Nebengelasse, bewohnte und unbewohnte Zimmer, gewundene Treppen, Geheimtüren und Geheimausgänge, verschattete Innenhöfe, Flure und Dielen, die ins Nichts zu führen scheinen.
Sogar ein Verlies gehört zu diesen Häusern, ein Privatgefängnis, tief in den Berg eingelassen und nur über eine Strickleiter von oben zu erreichen. Der Kerker ist Symbol uralter Traditionen. "Manche hielten das bloß für einen Spleen, die anderen glaubten darin eine alte, inzwischen überholte Rechtsvorstellung zu entdecken: Staat und Haus existieren nebeneinander, mit jeweils eigenen Gesetzen."
Die Mutter von Ismail stammt nicht aus einem solch herrschaftlichen Haus, sie fürchtet sich in den gewaltigen Mauern und hat das beklemmende Gefühl, von dem alten Haus aufgefressen zu werden. Geister gehen umher, die sich nicht bezähmen lassen, "Narrendinge" passieren, und ein Text ist überschrieben mit "Wie Hamlet mir half, die Gespenster zu vertreiben".
Mit wilder Fabulierlust vermengt Kadare alte Legenden mit der Gegenwart, schaut ironisch auf die unter der Diktatur geduckte Gesellschaft und macht sich auch über sich selbst lustig als ein übermütiger Beobachter der wirren albanischen Lebensverhältnisse. Der Schriftsteller tanzte auf den Wellen, mal war er ganz oben und genoss Hodschas Anerkennung, mal war er ganz unten und erhielt Veröffentlichungsverbot.
Seine Heimat verließ er 1990, weil er sich politisch bedroht fühlte. Die Nachfolge Enver Hodschas, der 1985 gestorben war, bot keine Sicherheit. Erst 2002 kehrte Kadare nach Tirana zurück, behielt aber seinen Zweitwohnsitz in Paris. In Albanien hatte der Autor stets eine doppelte Identität: Er war Mitglied der Kommunistischen Partei, Parlamentsabgeordneter und hatte einen hohen Posten im Schriftstellerverband. Gleichzeitig galt er als unpatriotisch und als Dissident, der sich dem Regime gegenüber nicht willfährig genug zeigte. Kadare ließ sich als dessen Aushängeschild benutzen und wurde gleichzeitig als Hoffnungsträger geachtet. Die einen feierten ihn als aufrechten Demokraten, die anderen kritisierten seine Anpassung an das Regime des Diktators. Als "Václav Havel Albaniens" verhöhnten ihn seine Gegner. Doppeldeutig ist auch sein Bekenntnis: "Meine besten Romane sind auf dem Höhepunkt der kommunistischen Diktatur entstanden."
Kadare spielte mit der Macht, verachtete sie und schmiegte sich an, wenn es sein musste, "Diktatur und Literatur sind wie zwei wilde Tiere, die einander ständig an der Gurgel packen. Der Schriftsteller ist der natürliche Feind der Diktatur." Das schrieb er 1991. Zu Zeiten Enver Hodschas und nach dem Ende des Terrors war und blieb Kadare der gefeierte Nationalschriftsteller. Mit seiner wortgewaltigen Sprache, seinen verschlungenen literarischen Erkundungen in der Vergangenheit seines Landes, mit der Bloßlegung der Mythen und Sitten seiner Mitmenschen, mit der Aufdeckung ihrer abgrundtiefen, sich über Jahrhunderte ziehenden Feindschaften hat Kadare eine einzigartige Landkarte seiner Heimat gezeichnet, die immer wie ein weißer Fleck im Südwesten Europas wirkte - unnahbar und abweisend, ein Rätsel. 2009 wurde in Tirana eine zwanzigbändige Werkausgabe für ihn herausgegeben, der auch die meisten Texte dieses Prosabandes entnommen sind. Entstanden sind sie in den Jahren 1984 bis in die jüngste Gegenwart. Seit Jahrzehnten ist Joachim Röhm, der in den siebziger Jahren längere Zeit in Albanien lebte, der geniale deutsche Übersetzer dieses furiosen Werkes, so auch hier.
Jüngeren Datums ist das Porträt seiner Mutter, die in der Familie "die Puppe" genannt wurde, weil sie sich so maskenhaft schminkte und keine Regung zu erkennen gab. Der Sohn hat keine emotionalen Beziehungen zu ihr, sie ist, wie das Regime, hart, unnahbar, verschlossen. Nur an einem Punkt ist sie sensibel: Sie hasst das große steinerne Haus, das ihr keine Luft zum Atmen lässt. Über Jahre hinweg musste sie sich einem hausinternen Gerichtsverfahren stellen. Die Mutter und deren Schwiegermutter wollten sich nicht miteinander vertragen, sie hassten sich. Erst mit dem Tod von Kadares Großmutter im Jahr 1953 wurde der alte Streit beigelegt und die Drohung, dass eine von beiden ins Verlies kommen könnte, gebannt. Dass im selben Jahr Stalin gestorben war, bewegte die Familie weniger; sie hatte ihre eigenen Gesetze. Was in der großen kommunistischen Welt vor sich ging, der Bruch mit der Sowjetunion, die Annäherung an China, berührte diese albanische Familie nicht, sie war eingebunden und gehorchte einem anderen, steinernen Kosmos.
LERKE VON SAALFELD.
Ismail Kadare: "Geboren aus Stein". Ein Roman und autobiographische Prosa.
Aus dem Albanischen von Joachim Röhm.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2019. 287 S., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main