Wenn Sie Amerikaner sind und schwarz, dann ist ihre Chance, von der Polizei erschossen zu werden, höher als wenn sie weiß sind. 21-mal höher. Obwohl die USA sich rühmen, ein post-rassistisches Land zu sein und sogar einen schwarzen Präsidenten gewählt haben, sitzt der Rassismus tief. Dieses zornige Buch ist die Geschichte einer nationalen Schande - so intensiv, dass es weh tut.
In einer rasanten Tour de Force erzählt der junge amerikanische Historiker Ibram X. Kendi die wahre Geschichte des Rassismus in Amerika - von den Puritanern bis zu Black Lives Matter. Er zeigt, dass der Rassismus nicht nur aus den trüben Quellen von Ignoranz und Hass aufsteigt, sondern von Anfang an dazu diente, Diskriminierung zu rechtfertigen und plausibel zu machen. Sein Buch führt uns durch eine erschreckende Geschichte voller Gewalt, Dummheit und Arroganz. Die Vorstellung, dass Schwarzeminderwertig sind und selber schuld an ihrer schlechten Lage, hat sich so tief in die kulturelle DNA der Vereinigten Staaten eingeschrieben, dass der Rassismus bis heute allgegenwärtig ist - das ist die bittere Bilanz dieses brillanten Buches.
In einer rasanten Tour de Force erzählt der junge amerikanische Historiker Ibram X. Kendi die wahre Geschichte des Rassismus in Amerika - von den Puritanern bis zu Black Lives Matter. Er zeigt, dass der Rassismus nicht nur aus den trüben Quellen von Ignoranz und Hass aufsteigt, sondern von Anfang an dazu diente, Diskriminierung zu rechtfertigen und plausibel zu machen. Sein Buch führt uns durch eine erschreckende Geschichte voller Gewalt, Dummheit und Arroganz. Die Vorstellung, dass Schwarzeminderwertig sind und selber schuld an ihrer schlechten Lage, hat sich so tief in die kulturelle DNA der Vereinigten Staaten eingeschrieben, dass der Rassismus bis heute allgegenwärtig ist - das ist die bittere Bilanz dieses brillanten Buches.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.10.2017Die Illusion
vom Fortschritt
Ibram Kendi analysiert die rassistischen Ideen,
die seit Jahrhunderten die US-Gesellschaft prägen
VON MATTHIAS KOLB
Als Ibram Kendi sein Buch „Gebrandmarkt“ im Frühjahr 2016 präsentiert, ist Donald Trump noch weit vom Weißen Haus entfernt. Der Republikaner gibt so regelmäßig rassistische und frauenfeindliche Sprüche von sich, dass liberale US-Amerikaner und ganz Europa überzeugt sind: So jemand wird nie Präsident. Kendi dachte nicht so, denn schließlich hatte der junge Schwarze jahrelang erforscht, wie rassistische Überzeugungen die US-Gesellschaft geprägt haben und sich die Argumentationsmuster dem Zeitgeist anpassen.
Trumps Wahlsieg machte „Gebrandmarkt“ zum Buch der Stunde, noch bevor es Ende 2016 den National Book Award gewann. Seitdem ist Kendi in vielen US-Medien mit Interviews präsent. Die Aufmerksamkeit hat der 1982 geborene Kulturhistoriker verdient, denn seine ambitionierte Studie ist ein großer Wurf und auch für deutsche Leser gut geeignet, um die aktuellen Debatten in den USA zu verstehen. Egal ob Charlottesville, protestierende Football-stars oder der Streit um Denkmäler aus dem Bürgerkrieg: Kendi liefert den dringend nötigen Kontext.
Er argumentiert stets, dass nicht Hass und Unwissenheit am Anfang stehen und rassistische Ideen befeuern, die dann zur Diskriminierung von Minderheiten führen. Er zeigt hingegen, wie über Jahrhunderte hinweg „intellektuell brillante und mächtige Männer und Frauen rassistische Ideen“ verbreiteten, „um die Verantwortung der ethnisch bedingten Ungleichheiten ihrer Zeit von dieser Politik weg auf die Schwarzen zu lenken“. Aus wirtschaftlichem und politischem Eigeninteresse werden Gründe vorgeschoben, um den Status quo zu sichern.
So behalfen sich etwa die Portugiesen, die im 15. Jahrhundert den lukrativen Sklavenhandel vor dem Papst rechtfertigen mussten, mit rassistischen Argumenten: Die Afrikaner seien Barbaren und müssten zivilisiert werden. Dass der Leser in dieser 550 Seiten langen Chronik des Rassismus weder den Überblick noch das Interesse verliert, liegt am klugen Aufbau: Für jede Epoche wählt Kendi eine prominente Person als „Reiseführer“ aus und erläutert mit ihrer Biografie die Debatten der Zeit.
Drei Gruppen sind stets präsent: Die Segregationisten fordern eine möglichst klare Rassentrennung, während die Antirassisten die ethnische Diskriminierung betonen und diese bekämpfen. Die Assimilationisten versuchen, beiden Seiten irgendwie recht zu geben. Im Streit um Polizeigewalt heißt dies: Die von Trump unterstützte „Blue Lives Matter“-Kampagne gibt gewalttätigen Schwarzen die Schuld, während die antirassistische „Black Lives Matter“-Bewegung institutionellen Rassismus und schlechte Ausbildung der Cops beklagt und Reformen fordert. Hinter dem Slogan „All Lives Matter“ versammeln sich jene, die ein klares Urteil scheuen.
Kendi zerstört die Illusion, wonach die US-Geschichte von einer langsamen, aber stetigen Verbesserung des Miteinanders von Schwarzen und Weißen geprägt sei. Stattdessen fänden Rückschläge und Fortschritte oft nahezu parallel statt – und zwar seit Jahrhunderten.
Als erster Reiseführer fungiert in „Gebrandmarkt“ Cotton Mather, der wichtigste Prediger und Intellektuelle des frühen Amerikas. Mather war überzeugt, dass die „dunklen Seelen versklavter Afrikaner weiß werden, wenn sie sich zum Christentum bekehren“. Thomas Jefferson, der 1776 die Unabhängigkeitserklärung verfasste, steht für die Widersprüchlichkeit seiner Zeit: Er schrieb stolz in der Präambel, „dass alle Menschen gleich geschaffen sind“. Dass Frauen und Schwarzen das Wahlrecht verweigert wurde, verblüfft damals kaum jemand. Im 19. Jahrhundert warb William Lloyd Garrison für die Befreiung der Sklaven und forderte jene Bürgerrechte ein, die sie erst nach Ende des Bürgerkriegs 1865 erhielten. Doch für den hellhäutigen Garrison stand trotz allem fest, dass die Schwarzen minderwertig seien.
Der in Harvard ausgebildete Afroamerikaner W. E. B. DuBois (1868 – 1963) war der brillanteste Kritiker der Jim-Crow-Gesetze, durch die Schwarze oft in die Leibeigenschaft gezwungen und ihres Wahlrechts beraubt wurden. Medien und Politiker stellten dunkelhäutige Frauen als unmoralisch dar, während die Männer als „hypersexuelle Raubtiere“ angeblich weiße Frauen bedrohten. So rechtfertigte man die Lynchmorde, und mit den Worten „Wir müssen unsere schönen Frauen schützen“ begründet Trump die Forderung nach der Mauer.
Eine Stärke des Buches liegt darin, dass Kendi den jeweils populärsten Büchern, Filmen und TV-Serien viel Raum widmet und darlegt, wie diese rassistische Vorstellungen ins öffentliche Gedächtnis einbrannten. So sorgte „Onkel Toms Hütte“ 1852 für viel Empathie für das Leid der Sklaven, doch im Roman waren sie intellektuell unterlegen und auf „weiße Retter“ angewiesen. In den Achtzigerjahren sollte die TV-Serie „Die Bill Cosby Show“ die schwarze Familie rehabilitieren. Ihr Erfolg, gerade unter Weißen und der schwarzen Mittelschicht, erklärt sich auch damit, dass die Familie Huxtable den Eindruck erweckte, dass Rassismus durch Strebsamkeit überwunden werden könne. Dieses Konzept der „Verbesserung durch Selbstverbesserung“ hält sich seit Jahrhunderten, doch alle schwarzen Vorbilder lösen kein Umdenken der weißen Mehrheit aus.
Die Sichtweise, wonach Minderheiten sich nur mehr anstrengen müssten, ist allemal bequemer, als sich der verstörenden Realität zu stellen, die die Aktivistin Angela Davis seit einem halben Jahrhundert anprangert. Präsident Nixon verbarg seinen Rassismus hinter der Parole „Recht und Gesetz“ und setzte härtere Strafen für Schwarze durch. Ronald Reagans „Krieg gegen die Drogen“ sorgte dafür, die Gefängnisse mit schwarzen Männern zu füllen, und am Kurs, den Besitz der „schwarzen“ Droge Crack härter zu bestrafen als den Konsum des „weißen“ Kokains, hielt auch der Demokrat Bill Clinton fest.
Nicht erst Trump hat bewiesen, dass die Wahl von Barack Obama keineswegs zur „postrassistischen Gesellschaft“ führte. Das Ausnahmetalent des ersten schwarzen US-Präsidenten sorgte nicht zu einem Umdenken in der Mehrheitsgesellschaft – und Obama selbst festigte mit Appellen an schwarze Väter, sich besser um ihre Kinder zu kümmern, tief verankerte Vorurteile, die statistisch nicht belegbar sind. Obama ist eines von vielen Beispielen, an dem Kendi unerbittlich zeigt, dass fast alle Antirassisten ebenso unbewusst „rassistische Ideen“ vertreten, wie Afroamerikaner es tun. Sich selbst nimmt er dabei nicht aus – und jeder Leser wird sich ertappt fühlen.
Im Schlusswort schreibt der Wissenschaftler, der derzeit in Washington, D. C., lehrt, dass Fakten nur wenige Menschen umstimmen werden: Jeder kann wissen, dass die Finanzkraft eines weißen US-Haushalts dreizehnmal größer ist als jene eines schwarzen Haushalts und Afroamerikaner fünfmal häufiger im Gefängnis landen als weiße Männer. Die dahinterstehenden Strukturen, so folgert Ibram Kendi, werden sich erst ändern, wenn die Abschaffung von Diskriminierungen den Politikern Vorteile bringt. So war Abraham Lincoln während des Bürgerkriegs bereit, die Sklaverei abzuschaffen, weil er so die Union retten konnte.
An die Antirassisten in aller Welt hat Kendi eine Botschaft: Engagiert euch lokal, Verbesserungen sind möglich. Und die Schwarzen fordert er auf, nicht nur zu protestieren, sondern eines zu verinnerlichen: „Das Einzige, was an Schwarzen nicht stimmt, ist der Gedanke, dass etwas mit ihnen nicht stimmt.“
Nicht Hass und Unwissenheit
stehen am Anfang von Rassismus,
sondern „mächtige Männer“
Alle schwarzen Vorbilder
lösen kein Umdenken
der weißen Mehrheit aus
Ibram X. Kendi:
Gebrandmarkt. Die wahre Geschichte des Rassismus
in Amerika. Aus dem
Amerikanischen von
Susanne Röckel und
Heike Schlatterer.
Verlag C.H. Beck München 2017, 604 Seiten, 34 Euro.
E-Book: 28,99 Euro.
Hört auf uns zu ermorden: Demonstrant in Baton Rouge/Louisiana – nachdem ein Polizist einen Schwarzen erschossen hatte.
Foto: J. Bachman/Reuters
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
vom Fortschritt
Ibram Kendi analysiert die rassistischen Ideen,
die seit Jahrhunderten die US-Gesellschaft prägen
VON MATTHIAS KOLB
Als Ibram Kendi sein Buch „Gebrandmarkt“ im Frühjahr 2016 präsentiert, ist Donald Trump noch weit vom Weißen Haus entfernt. Der Republikaner gibt so regelmäßig rassistische und frauenfeindliche Sprüche von sich, dass liberale US-Amerikaner und ganz Europa überzeugt sind: So jemand wird nie Präsident. Kendi dachte nicht so, denn schließlich hatte der junge Schwarze jahrelang erforscht, wie rassistische Überzeugungen die US-Gesellschaft geprägt haben und sich die Argumentationsmuster dem Zeitgeist anpassen.
Trumps Wahlsieg machte „Gebrandmarkt“ zum Buch der Stunde, noch bevor es Ende 2016 den National Book Award gewann. Seitdem ist Kendi in vielen US-Medien mit Interviews präsent. Die Aufmerksamkeit hat der 1982 geborene Kulturhistoriker verdient, denn seine ambitionierte Studie ist ein großer Wurf und auch für deutsche Leser gut geeignet, um die aktuellen Debatten in den USA zu verstehen. Egal ob Charlottesville, protestierende Football-stars oder der Streit um Denkmäler aus dem Bürgerkrieg: Kendi liefert den dringend nötigen Kontext.
Er argumentiert stets, dass nicht Hass und Unwissenheit am Anfang stehen und rassistische Ideen befeuern, die dann zur Diskriminierung von Minderheiten führen. Er zeigt hingegen, wie über Jahrhunderte hinweg „intellektuell brillante und mächtige Männer und Frauen rassistische Ideen“ verbreiteten, „um die Verantwortung der ethnisch bedingten Ungleichheiten ihrer Zeit von dieser Politik weg auf die Schwarzen zu lenken“. Aus wirtschaftlichem und politischem Eigeninteresse werden Gründe vorgeschoben, um den Status quo zu sichern.
So behalfen sich etwa die Portugiesen, die im 15. Jahrhundert den lukrativen Sklavenhandel vor dem Papst rechtfertigen mussten, mit rassistischen Argumenten: Die Afrikaner seien Barbaren und müssten zivilisiert werden. Dass der Leser in dieser 550 Seiten langen Chronik des Rassismus weder den Überblick noch das Interesse verliert, liegt am klugen Aufbau: Für jede Epoche wählt Kendi eine prominente Person als „Reiseführer“ aus und erläutert mit ihrer Biografie die Debatten der Zeit.
Drei Gruppen sind stets präsent: Die Segregationisten fordern eine möglichst klare Rassentrennung, während die Antirassisten die ethnische Diskriminierung betonen und diese bekämpfen. Die Assimilationisten versuchen, beiden Seiten irgendwie recht zu geben. Im Streit um Polizeigewalt heißt dies: Die von Trump unterstützte „Blue Lives Matter“-Kampagne gibt gewalttätigen Schwarzen die Schuld, während die antirassistische „Black Lives Matter“-Bewegung institutionellen Rassismus und schlechte Ausbildung der Cops beklagt und Reformen fordert. Hinter dem Slogan „All Lives Matter“ versammeln sich jene, die ein klares Urteil scheuen.
Kendi zerstört die Illusion, wonach die US-Geschichte von einer langsamen, aber stetigen Verbesserung des Miteinanders von Schwarzen und Weißen geprägt sei. Stattdessen fänden Rückschläge und Fortschritte oft nahezu parallel statt – und zwar seit Jahrhunderten.
Als erster Reiseführer fungiert in „Gebrandmarkt“ Cotton Mather, der wichtigste Prediger und Intellektuelle des frühen Amerikas. Mather war überzeugt, dass die „dunklen Seelen versklavter Afrikaner weiß werden, wenn sie sich zum Christentum bekehren“. Thomas Jefferson, der 1776 die Unabhängigkeitserklärung verfasste, steht für die Widersprüchlichkeit seiner Zeit: Er schrieb stolz in der Präambel, „dass alle Menschen gleich geschaffen sind“. Dass Frauen und Schwarzen das Wahlrecht verweigert wurde, verblüfft damals kaum jemand. Im 19. Jahrhundert warb William Lloyd Garrison für die Befreiung der Sklaven und forderte jene Bürgerrechte ein, die sie erst nach Ende des Bürgerkriegs 1865 erhielten. Doch für den hellhäutigen Garrison stand trotz allem fest, dass die Schwarzen minderwertig seien.
Der in Harvard ausgebildete Afroamerikaner W. E. B. DuBois (1868 – 1963) war der brillanteste Kritiker der Jim-Crow-Gesetze, durch die Schwarze oft in die Leibeigenschaft gezwungen und ihres Wahlrechts beraubt wurden. Medien und Politiker stellten dunkelhäutige Frauen als unmoralisch dar, während die Männer als „hypersexuelle Raubtiere“ angeblich weiße Frauen bedrohten. So rechtfertigte man die Lynchmorde, und mit den Worten „Wir müssen unsere schönen Frauen schützen“ begründet Trump die Forderung nach der Mauer.
Eine Stärke des Buches liegt darin, dass Kendi den jeweils populärsten Büchern, Filmen und TV-Serien viel Raum widmet und darlegt, wie diese rassistische Vorstellungen ins öffentliche Gedächtnis einbrannten. So sorgte „Onkel Toms Hütte“ 1852 für viel Empathie für das Leid der Sklaven, doch im Roman waren sie intellektuell unterlegen und auf „weiße Retter“ angewiesen. In den Achtzigerjahren sollte die TV-Serie „Die Bill Cosby Show“ die schwarze Familie rehabilitieren. Ihr Erfolg, gerade unter Weißen und der schwarzen Mittelschicht, erklärt sich auch damit, dass die Familie Huxtable den Eindruck erweckte, dass Rassismus durch Strebsamkeit überwunden werden könne. Dieses Konzept der „Verbesserung durch Selbstverbesserung“ hält sich seit Jahrhunderten, doch alle schwarzen Vorbilder lösen kein Umdenken der weißen Mehrheit aus.
Die Sichtweise, wonach Minderheiten sich nur mehr anstrengen müssten, ist allemal bequemer, als sich der verstörenden Realität zu stellen, die die Aktivistin Angela Davis seit einem halben Jahrhundert anprangert. Präsident Nixon verbarg seinen Rassismus hinter der Parole „Recht und Gesetz“ und setzte härtere Strafen für Schwarze durch. Ronald Reagans „Krieg gegen die Drogen“ sorgte dafür, die Gefängnisse mit schwarzen Männern zu füllen, und am Kurs, den Besitz der „schwarzen“ Droge Crack härter zu bestrafen als den Konsum des „weißen“ Kokains, hielt auch der Demokrat Bill Clinton fest.
Nicht erst Trump hat bewiesen, dass die Wahl von Barack Obama keineswegs zur „postrassistischen Gesellschaft“ führte. Das Ausnahmetalent des ersten schwarzen US-Präsidenten sorgte nicht zu einem Umdenken in der Mehrheitsgesellschaft – und Obama selbst festigte mit Appellen an schwarze Väter, sich besser um ihre Kinder zu kümmern, tief verankerte Vorurteile, die statistisch nicht belegbar sind. Obama ist eines von vielen Beispielen, an dem Kendi unerbittlich zeigt, dass fast alle Antirassisten ebenso unbewusst „rassistische Ideen“ vertreten, wie Afroamerikaner es tun. Sich selbst nimmt er dabei nicht aus – und jeder Leser wird sich ertappt fühlen.
Im Schlusswort schreibt der Wissenschaftler, der derzeit in Washington, D. C., lehrt, dass Fakten nur wenige Menschen umstimmen werden: Jeder kann wissen, dass die Finanzkraft eines weißen US-Haushalts dreizehnmal größer ist als jene eines schwarzen Haushalts und Afroamerikaner fünfmal häufiger im Gefängnis landen als weiße Männer. Die dahinterstehenden Strukturen, so folgert Ibram Kendi, werden sich erst ändern, wenn die Abschaffung von Diskriminierungen den Politikern Vorteile bringt. So war Abraham Lincoln während des Bürgerkriegs bereit, die Sklaverei abzuschaffen, weil er so die Union retten konnte.
An die Antirassisten in aller Welt hat Kendi eine Botschaft: Engagiert euch lokal, Verbesserungen sind möglich. Und die Schwarzen fordert er auf, nicht nur zu protestieren, sondern eines zu verinnerlichen: „Das Einzige, was an Schwarzen nicht stimmt, ist der Gedanke, dass etwas mit ihnen nicht stimmt.“
Nicht Hass und Unwissenheit
stehen am Anfang von Rassismus,
sondern „mächtige Männer“
Alle schwarzen Vorbilder
lösen kein Umdenken
der weißen Mehrheit aus
Ibram X. Kendi:
Gebrandmarkt. Die wahre Geschichte des Rassismus
in Amerika. Aus dem
Amerikanischen von
Susanne Röckel und
Heike Schlatterer.
Verlag C.H. Beck München 2017, 604 Seiten, 34 Euro.
E-Book: 28,99 Euro.
Hört auf uns zu ermorden: Demonstrant in Baton Rouge/Louisiana – nachdem ein Polizist einen Schwarzen erschossen hatte.
Foto: J. Bachman/Reuters
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.12.2017Unterjocht
Zorniges Manifest: Der amerikanische Historiker Ibram X. Kendi verspricht die definitive Geschichte des Rassismus, liefert sie aber nicht.
Mit seiner "wahren Geschichte des Rassismus" in den Vereinigten Staaten hat der Historiker Ibram X. Kendi ein denkwürdiges, da in hohem Maße ambivalentes Buch vorgelegt. "Stamped from the Beginning", so der Originaltitel, trug ihm im vergangenen Jahr den National Book Award in der Kategorie Sachbuch ein.
Auf der einen Seite handelt es sich um eine materialreiche, gut lesbare und weit ausholende Darstellung eines finsteren Kapitels nicht allein der nordamerikanischen Geschichte - wenn man etwa bedenkt, dass das Gros der überwiegend aus Westafrika verschleppten Sklaven in Brasilien und der Karibik verkauft wurden. Dies ändert allerdings nichts an dem Leiden all jener mehr als dreihunderttausend Afrikaner, die sich am Ende ihrer Odyssee in den dreizehn britischen Festlandkolonien und dort bei weitem nicht nur im Süden der großgrundbesitzenden Plantagenaristokraten, sondern ebenso in New York, Boston und Rhode Island wiederfanden.
Die historische Forschung hat, seitdem in den fünfziger und sechziger Jahren der alte Mythos von der vergleichsweise humanen und paternalistischen angelsächsischen Sklavenhaltung, der einzig die wohlwollende Selbstsicht der Sklavenhalter wiedergab, zusammengebrochen war, herausgearbeitet, wie grausam der Umgang mit Zwangsarbeitern in den Vereinigten Staaten war.
Nicht minder bekannt ist die Gewalt, mit welcher bis weit ins zwanzigste Jahrhundert das System der Rassentrennung in den Vereinigten Staaten aufrechterhalten wurde. Mehr als dreitausend Lynching-Opfer allein zwischen 1890 und 1920 sprechen da eine überdeutliche Sprache. Kendis Werk beschränkt sich nicht einfach darauf, diese altbekannten Fakten zusammenzufassen und einfach nur zu wiederholen. Er will tiefer schürfen, indem er nach den geistigen Wurzeln des Rassismus fragt. Dabei greift er bis auf die Theorien des Aristoteles über die natürliche Ungleichheit der nichtgriechischen Menschen zurück, die in späteren Jahrhunderten gerne als wissenschaftlicher Beleg für die Naturhaftigkeit der längst etablierten Institution der Sklaverei herangezogen wurden.
Zu Recht merkt er indes an, weder Aristoteles noch seine Rezipienten im Mittelalter und der Frühneuzeit seien im strengen Sinn Rassisten gewesen, da sich das Konzept fester Rasseordnungen erst im Laufe der späteren Frühneuzeit mit dem Aufkommen der marktkapitalistischen schwarzen Sklaverei in den Amerikas verdichtete, wobei britischen Theologen und Aufklärungsphilosophen eine federführende Rolle zufiel. Tatsächlich, und dies blendet Kendi sonderbarerweise aus, entwickelte sich das theologische Motiv von der Verfluchung Hams und Kanaans in Genesis 9,25 in erster Linie unter anglikanischen Theologen des achtzehnten Jahrhunderts, während katholische Theologen diese Verse lange allegorisch auf die Verfluchung der Häretiker hin deuteten, obwohl gerade Spanier und Portugiesen ein ökonomisches Interesse an der theologischen Rechtfertigung der Sklaverei gehabt hatten.
An dieser Stelle versagen Kendis mitunter etwas flache, dem Vulgärmarxismus entlehnte ökonomistische Basis-Überbau-Deutungsmittel, da er die gesamte Ideengeschichte der Rassensklaverei auf wirtschaftliche Motive zurückführt. Theologie und Kirchengeschichte sind überhaupt sowieso nicht sein Ding. So behauptet er fälschlicherweise, die Dominikanerpatres auf Hispaniola seien nach den Predigten von P. Montesinos OP gegen die Tainosklaverei von König Ferdinand nach Spanien zurückbefohlen worden, obwohl sie nur eine Delegation zum König geschickt hatten, welche dann die Schutzgesetze von 1512 initiierte. Auch neigt er dazu, protestantische Pfarrer durchweg als Priester zu bezeichnen, was weder der katholischen noch der protestantischen Lehre entspricht.
Auf deutlich sichererem Grunde bewegt er sich in seiner Kritik der Aufklärung. Zu Recht übernimmt er nicht den Mythos, Voltaire habe die Sklaverei gebilligt, denn der französische Vordenker der Aufklärung lehnte sie strikt ab. Dennoch war er, wie John Locke, David Hume und selbst Immanuel Kant fest von der jenseits jeglichem wissenschaftlichen Zweifel stehenden Überzeugung durchdrungen, die schwarze Rasse sei nicht nur häßlicher als die weiße, sondern stünde ihrem Wesen nach tief unter den Europäern. Deswegen schütteten die Aufklärer, die meist der Idee der Polygenese, der unterschiedlichen Herkunft der Menschenrassen, huldigten, kübelweise Hohn und Spott über Theologen, welche das monogenetische System verfochten, oft aber nicht minder rassistisch dachten und agierten als ihre philosophischen Widerparts.
In diesen ersten beiden Hauptteilen des in fünf Hauptabschnitte unterteilten Buches, die sich jeweils um einen zentralen Akteur gruppieren und von diesem aus das jeweilige geistige und soziale Umfeld beleuchten (Cotton Mather, Thomas Jefferson, William Lloyd Garrison, W.E.B. DuBois und Angela Davis), liegt die ganz große Stärke des vorliegenden Buchs.
Seine Schwäche liegt darin begründet, dass es zum anderen mehr sein will als eine historische Abhandlung. Es ist aktivistisches Manifest und aufrüttelnde Anklageschrift zugleich. Kendi, der an der American University in Washington, D.C. lehrt, schreibt furios, traurig, zornig und frustriert, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der toten, von Polizisten erschossenen Schwarzen der späten Obama-Ära. Insofern ist "Gebrandmarkt" der sprachgewaltige Schwanengesang auf die messianische Euphorie des Jahres 2008, gerade unter Schwarzen.
So berechtigt diese Frustration gleichwohl sein mag, sie führt bei Kendi zu argumentativen Problemen, die umso stärker hervortreten, je weiter man auf der Zeitschiene voranschreitet, und die am Ende nicht mehr allein durch Emotionen, sondern durch ideologische Voreingenommenheit erklärt werden können. Der Autor kritisiert scharf jede Form von Ungleichheit, sei sie rassisch, sozioökonomisch, ethnisch, sexuell oder sonstwie begründet. Darin vertritt er einen Individualismus, der neoliberale Züge trägt und beinahe an Maggie Thatchers berühmtes Diktum erinnert, sie kenne ausschließlich Individuen, aber keine Gesellschaft.
In der Konsequenz geht Kendi dann so weit, jedes Argument als assimilationistisch zu kritisieren, das Probleme in der black community auf objektive sozioökonomische Ungleichheiten oder subjektive kulturelle Sinn- und Bedeutungszuschreibungen zurückführt. Anstelle sozialer und kultureller Ungleichheiten tritt bei ihm ein moralischer Dezisionismus, der die Gesellschaft a priori und transhistorisch in rassistische Segregationisten, in Assimilationisten und in Anti-Rassisten einteilt, wobei Letztere die Helden seiner Geschichte stellen.
Während es nun relativ leicht ist, seiner Kritik an den Rassisten zu folgen, wirkt die Kategorie der Assimilationisten reichlich willkürlich. Im Grunde umfasst sie jeden, gleichgültig, welcher Rasse, der nicht Kendis ideologischem Programm folgt. Dies wird regelrecht zynisch, wenn selbst einem aufrechten Kämpfer wie dem schwarzen radikalen Abolitionisten David Walker rassistische Untertöne vorgeworfen werden, weil er es in den zwanziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts wagte, auf die sozialpsychologischen Folgen der Sklaverei aufmerksam zu machen. Frederick Douglass und Martin Luther King ergeht es kaum besser.
Dies ist lediglich denunziatorisch, wenn altbackene klimatheoretische Erwägungen aus der Aufklärungszeit, wie sie etwa Buffon - und nicht nur gegen Schwarze - vorgelegt hatte, dazu benutzt werden, sämtliche sozioökonomischen und soziokulturellen Argumente, die auf eine Selbstkritik der black community hinauslaufen, argumentlos beiseitezuwischen. Gewiss, Kendi hat Recht, wenn er die Oberflächlichkeit neoliberal-neokonservativer Autoren kritisiert, die voreilig von einer postethnischen Gesellschaft in den Vereinigten Staaten schwadronieren, aber sein Gegenentwurf wirkt mindestens ebenso hohl.
Am Ende kann der Autor seine Position nicht einmal widerspruchsfrei durchhalten, da er, wenn es um die hohe Zahl junger Schwarzer geht, die von jungen Schwarzen ermordet werden, selbst auf das Argument sozialer Benachteiligung zurückgreifen muss. Hier drängt sich der Verdacht auf, der humane Individualismus seiner Darstellung könnte nur Tarnung für einen möglicherweise unreflektierten eigenen rassistischen Essentialismus sein. Wie Kendi selbst sagt: Rassisten sagen niemals offen, dass sie Rassisten sind.
Das Buch endet mit einem Appell, der die umfassenden Ziele der Kerngruppe von Black Lives Matter aufnimmt und mehr durch Pathos als durch argumentative Integrität zu überzeugen vermag. Angesichts dieser Schwierigkeiten kann von einer "wahren" - oder wie es im Englischen heißt: "definitiven" - Geschichte des Rassismus nicht die Rede sein. Es sei denn, man betriebe Schindluder mit beiden Begriffen, dem der Geschichte und dem der Wahrheit.
MICHAEL HOCHGESCHWENDER.
Ibram X. Kendi: "Gebrandmarkt".
Die wahre Geschichte des Rassismus in Amerika.
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Susanne Röckel und Heike Schlatterer.
C. H. Beck Verlag, München 2017. 604 S., geb., 34,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zorniges Manifest: Der amerikanische Historiker Ibram X. Kendi verspricht die definitive Geschichte des Rassismus, liefert sie aber nicht.
Mit seiner "wahren Geschichte des Rassismus" in den Vereinigten Staaten hat der Historiker Ibram X. Kendi ein denkwürdiges, da in hohem Maße ambivalentes Buch vorgelegt. "Stamped from the Beginning", so der Originaltitel, trug ihm im vergangenen Jahr den National Book Award in der Kategorie Sachbuch ein.
Auf der einen Seite handelt es sich um eine materialreiche, gut lesbare und weit ausholende Darstellung eines finsteren Kapitels nicht allein der nordamerikanischen Geschichte - wenn man etwa bedenkt, dass das Gros der überwiegend aus Westafrika verschleppten Sklaven in Brasilien und der Karibik verkauft wurden. Dies ändert allerdings nichts an dem Leiden all jener mehr als dreihunderttausend Afrikaner, die sich am Ende ihrer Odyssee in den dreizehn britischen Festlandkolonien und dort bei weitem nicht nur im Süden der großgrundbesitzenden Plantagenaristokraten, sondern ebenso in New York, Boston und Rhode Island wiederfanden.
Die historische Forschung hat, seitdem in den fünfziger und sechziger Jahren der alte Mythos von der vergleichsweise humanen und paternalistischen angelsächsischen Sklavenhaltung, der einzig die wohlwollende Selbstsicht der Sklavenhalter wiedergab, zusammengebrochen war, herausgearbeitet, wie grausam der Umgang mit Zwangsarbeitern in den Vereinigten Staaten war.
Nicht minder bekannt ist die Gewalt, mit welcher bis weit ins zwanzigste Jahrhundert das System der Rassentrennung in den Vereinigten Staaten aufrechterhalten wurde. Mehr als dreitausend Lynching-Opfer allein zwischen 1890 und 1920 sprechen da eine überdeutliche Sprache. Kendis Werk beschränkt sich nicht einfach darauf, diese altbekannten Fakten zusammenzufassen und einfach nur zu wiederholen. Er will tiefer schürfen, indem er nach den geistigen Wurzeln des Rassismus fragt. Dabei greift er bis auf die Theorien des Aristoteles über die natürliche Ungleichheit der nichtgriechischen Menschen zurück, die in späteren Jahrhunderten gerne als wissenschaftlicher Beleg für die Naturhaftigkeit der längst etablierten Institution der Sklaverei herangezogen wurden.
Zu Recht merkt er indes an, weder Aristoteles noch seine Rezipienten im Mittelalter und der Frühneuzeit seien im strengen Sinn Rassisten gewesen, da sich das Konzept fester Rasseordnungen erst im Laufe der späteren Frühneuzeit mit dem Aufkommen der marktkapitalistischen schwarzen Sklaverei in den Amerikas verdichtete, wobei britischen Theologen und Aufklärungsphilosophen eine federführende Rolle zufiel. Tatsächlich, und dies blendet Kendi sonderbarerweise aus, entwickelte sich das theologische Motiv von der Verfluchung Hams und Kanaans in Genesis 9,25 in erster Linie unter anglikanischen Theologen des achtzehnten Jahrhunderts, während katholische Theologen diese Verse lange allegorisch auf die Verfluchung der Häretiker hin deuteten, obwohl gerade Spanier und Portugiesen ein ökonomisches Interesse an der theologischen Rechtfertigung der Sklaverei gehabt hatten.
An dieser Stelle versagen Kendis mitunter etwas flache, dem Vulgärmarxismus entlehnte ökonomistische Basis-Überbau-Deutungsmittel, da er die gesamte Ideengeschichte der Rassensklaverei auf wirtschaftliche Motive zurückführt. Theologie und Kirchengeschichte sind überhaupt sowieso nicht sein Ding. So behauptet er fälschlicherweise, die Dominikanerpatres auf Hispaniola seien nach den Predigten von P. Montesinos OP gegen die Tainosklaverei von König Ferdinand nach Spanien zurückbefohlen worden, obwohl sie nur eine Delegation zum König geschickt hatten, welche dann die Schutzgesetze von 1512 initiierte. Auch neigt er dazu, protestantische Pfarrer durchweg als Priester zu bezeichnen, was weder der katholischen noch der protestantischen Lehre entspricht.
Auf deutlich sichererem Grunde bewegt er sich in seiner Kritik der Aufklärung. Zu Recht übernimmt er nicht den Mythos, Voltaire habe die Sklaverei gebilligt, denn der französische Vordenker der Aufklärung lehnte sie strikt ab. Dennoch war er, wie John Locke, David Hume und selbst Immanuel Kant fest von der jenseits jeglichem wissenschaftlichen Zweifel stehenden Überzeugung durchdrungen, die schwarze Rasse sei nicht nur häßlicher als die weiße, sondern stünde ihrem Wesen nach tief unter den Europäern. Deswegen schütteten die Aufklärer, die meist der Idee der Polygenese, der unterschiedlichen Herkunft der Menschenrassen, huldigten, kübelweise Hohn und Spott über Theologen, welche das monogenetische System verfochten, oft aber nicht minder rassistisch dachten und agierten als ihre philosophischen Widerparts.
In diesen ersten beiden Hauptteilen des in fünf Hauptabschnitte unterteilten Buches, die sich jeweils um einen zentralen Akteur gruppieren und von diesem aus das jeweilige geistige und soziale Umfeld beleuchten (Cotton Mather, Thomas Jefferson, William Lloyd Garrison, W.E.B. DuBois und Angela Davis), liegt die ganz große Stärke des vorliegenden Buchs.
Seine Schwäche liegt darin begründet, dass es zum anderen mehr sein will als eine historische Abhandlung. Es ist aktivistisches Manifest und aufrüttelnde Anklageschrift zugleich. Kendi, der an der American University in Washington, D.C. lehrt, schreibt furios, traurig, zornig und frustriert, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der toten, von Polizisten erschossenen Schwarzen der späten Obama-Ära. Insofern ist "Gebrandmarkt" der sprachgewaltige Schwanengesang auf die messianische Euphorie des Jahres 2008, gerade unter Schwarzen.
So berechtigt diese Frustration gleichwohl sein mag, sie führt bei Kendi zu argumentativen Problemen, die umso stärker hervortreten, je weiter man auf der Zeitschiene voranschreitet, und die am Ende nicht mehr allein durch Emotionen, sondern durch ideologische Voreingenommenheit erklärt werden können. Der Autor kritisiert scharf jede Form von Ungleichheit, sei sie rassisch, sozioökonomisch, ethnisch, sexuell oder sonstwie begründet. Darin vertritt er einen Individualismus, der neoliberale Züge trägt und beinahe an Maggie Thatchers berühmtes Diktum erinnert, sie kenne ausschließlich Individuen, aber keine Gesellschaft.
In der Konsequenz geht Kendi dann so weit, jedes Argument als assimilationistisch zu kritisieren, das Probleme in der black community auf objektive sozioökonomische Ungleichheiten oder subjektive kulturelle Sinn- und Bedeutungszuschreibungen zurückführt. Anstelle sozialer und kultureller Ungleichheiten tritt bei ihm ein moralischer Dezisionismus, der die Gesellschaft a priori und transhistorisch in rassistische Segregationisten, in Assimilationisten und in Anti-Rassisten einteilt, wobei Letztere die Helden seiner Geschichte stellen.
Während es nun relativ leicht ist, seiner Kritik an den Rassisten zu folgen, wirkt die Kategorie der Assimilationisten reichlich willkürlich. Im Grunde umfasst sie jeden, gleichgültig, welcher Rasse, der nicht Kendis ideologischem Programm folgt. Dies wird regelrecht zynisch, wenn selbst einem aufrechten Kämpfer wie dem schwarzen radikalen Abolitionisten David Walker rassistische Untertöne vorgeworfen werden, weil er es in den zwanziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts wagte, auf die sozialpsychologischen Folgen der Sklaverei aufmerksam zu machen. Frederick Douglass und Martin Luther King ergeht es kaum besser.
Dies ist lediglich denunziatorisch, wenn altbackene klimatheoretische Erwägungen aus der Aufklärungszeit, wie sie etwa Buffon - und nicht nur gegen Schwarze - vorgelegt hatte, dazu benutzt werden, sämtliche sozioökonomischen und soziokulturellen Argumente, die auf eine Selbstkritik der black community hinauslaufen, argumentlos beiseitezuwischen. Gewiss, Kendi hat Recht, wenn er die Oberflächlichkeit neoliberal-neokonservativer Autoren kritisiert, die voreilig von einer postethnischen Gesellschaft in den Vereinigten Staaten schwadronieren, aber sein Gegenentwurf wirkt mindestens ebenso hohl.
Am Ende kann der Autor seine Position nicht einmal widerspruchsfrei durchhalten, da er, wenn es um die hohe Zahl junger Schwarzer geht, die von jungen Schwarzen ermordet werden, selbst auf das Argument sozialer Benachteiligung zurückgreifen muss. Hier drängt sich der Verdacht auf, der humane Individualismus seiner Darstellung könnte nur Tarnung für einen möglicherweise unreflektierten eigenen rassistischen Essentialismus sein. Wie Kendi selbst sagt: Rassisten sagen niemals offen, dass sie Rassisten sind.
Das Buch endet mit einem Appell, der die umfassenden Ziele der Kerngruppe von Black Lives Matter aufnimmt und mehr durch Pathos als durch argumentative Integrität zu überzeugen vermag. Angesichts dieser Schwierigkeiten kann von einer "wahren" - oder wie es im Englischen heißt: "definitiven" - Geschichte des Rassismus nicht die Rede sein. Es sei denn, man betriebe Schindluder mit beiden Begriffen, dem der Geschichte und dem der Wahrheit.
MICHAEL HOCHGESCHWENDER.
Ibram X. Kendi: "Gebrandmarkt".
Die wahre Geschichte des Rassismus in Amerika.
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Susanne Röckel und Heike Schlatterer.
C. H. Beck Verlag, München 2017. 604 S., geb., 34,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Kendi erzählt die Geschichte der Entmenschlichung der Schwarzen in Amerika quellenah und mit erfrischender Polemik."
Neue politische Literatur, Manfred Berg
"Ein Buch, so schmerzhaft wie informativ."
Die ZEIT, Sachbuch-Bestenliste Dezember Platz 2, 30. November 2017
"Eindringliches, umfangreiches und zorniges Werk."
Carsten Hueck, Deutschlandfunk Kultur, 15. Januar 2018
"Ibram X. Kendis dichte Recherche und scharfe Analysen münden in einen flüssigen, oft romanesken Schreibstil. Das macht ihre Sogkraft aus."
Arlette-Louise Ndakoze, Deutschlandfunk Andruck, 11. Dezember 2017
"Wahnsinnig ausgreifende, wuchtige und wütende Geschichte des Rassismus in den USA."
René Aguigah, Deutschlandfunk Kultur, 30. November 2017
"Entfaltet (...) die ganze Wucht von Unterdrückung und ethnischer Ungleichheit."
Michael Bartle, BR2 Zündfunk, 17. Dezember 2017
"Ibram X. Kendi entlarvt die Vorstellung von einer postethnischen Gesellschaft als Illusion."
Boris Peter, Tagesspiegel, 18. April 2018
"Was Kendis Buch so lesenswert macht, ist, wie er die Entstehung und Entwicklung rassistischer Stereotypen und ihre Spiegelung in Literatur, Musik und Film einbaut."
Christiane Wechselberger, Münchner Feuillton, Mai 2018
"Ibram X. Kendi entlarvt die Vorstellung von einer postethnischen Gesellschaft als Illusion."
Boris Peter, Tagesspiegel, 18. April 2018
"Eine klarsichtige Analyse des Rassismus in den USA von den ersten Siedlern bis heute. Ein wichtiges Buch in einer Zeit, in der Rassenhass längst nicht überwunden ist."
Martin Zähringer, Deutschlandfunk Buch der Woche, 8. Februar 2018
"Meisterhaft. Ein Buch, das wehtut."
René Aguigah, Deutschlandfunk Kultur, 12. Dezember 2017
"Buch der Stunde (...) ein großer Wurf."
Matthias Kolb, Süddeutsche Zeitung, 23. Oktober 2017
Neue politische Literatur, Manfred Berg
"Ein Buch, so schmerzhaft wie informativ."
Die ZEIT, Sachbuch-Bestenliste Dezember Platz 2, 30. November 2017
"Eindringliches, umfangreiches und zorniges Werk."
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"Ibram X. Kendis dichte Recherche und scharfe Analysen münden in einen flüssigen, oft romanesken Schreibstil. Das macht ihre Sogkraft aus."
Arlette-Louise Ndakoze, Deutschlandfunk Andruck, 11. Dezember 2017
"Wahnsinnig ausgreifende, wuchtige und wütende Geschichte des Rassismus in den USA."
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"Entfaltet (...) die ganze Wucht von Unterdrückung und ethnischer Ungleichheit."
Michael Bartle, BR2 Zündfunk, 17. Dezember 2017
"Ibram X. Kendi entlarvt die Vorstellung von einer postethnischen Gesellschaft als Illusion."
Boris Peter, Tagesspiegel, 18. April 2018
"Was Kendis Buch so lesenswert macht, ist, wie er die Entstehung und Entwicklung rassistischer Stereotypen und ihre Spiegelung in Literatur, Musik und Film einbaut."
Christiane Wechselberger, Münchner Feuillton, Mai 2018
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Boris Peter, Tagesspiegel, 18. April 2018
"Eine klarsichtige Analyse des Rassismus in den USA von den ersten Siedlern bis heute. Ein wichtiges Buch in einer Zeit, in der Rassenhass längst nicht überwunden ist."
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"Meisterhaft. Ein Buch, das wehtut."
René Aguigah, Deutschlandfunk Kultur, 12. Dezember 2017
"Buch der Stunde (...) ein großer Wurf."
Matthias Kolb, Süddeutsche Zeitung, 23. Oktober 2017