Produktdetails
- ISBN-13: 9783518017951
- Artikelnr.: 24598945
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.05.2024Ödipus auf den Schären
Konfusion der Gefühle: "Gebranntes Kind"
ist ein rätselhafter großer Roman des Schweden Stig Dagerman.
Es lässt sich in diesem schrecklichen, bezaubernden, rätselhaften Buch viel über das Leiden und die Leidensbereitschaft finden. Der Schwede Stig Dagerman (1923 bis 1954) war ein großer Pessimist, über den der französische Schriftsteller Héctor Bianciotti geschrieben hat, er prangere das Böse an und bekämpfe es auf seine Weise, während der Optimist sich bloß darüber wundere. Man hat den jung gestorbenen Dagerman mit Kafka verglichen. Aber bei Dagerman, dem Existenzialisten, gibt es keine außerhalb liegende Macht wie bei Kafka, sondern das Ich ist für sich selbst verantwortlich. Auch Aris Fioretos zieht im Nachwort für seine Interpretation des Romans "Gebranntes Kind" einen Kafka-Text heran, "Forschungen eines Hundes". Aber er weist auch auf die Ambivalenz hin: Der Held sei nämlich "ebenso sehr Subjekt wie Objekt in seiner Vivisektion der Existenz".
"Gebranntes Kind", erschienen 1948, spielt in Södermalm, damals noch ein Arbeiterbezirk im Stockholmer Zentrum. Bengt, ein zwanzigjähriger Student, sensibel, beinahe überempfindlich, kommt aus einfachen Verhältnissen, der Lieblingsspruch seines Vaters Knut lautet: "Ich bin nur ein einfacher Möbelschreiner." Damit entzieht er sich jeder Diskussion. Am Anfang des Romans wird seine Ehefrau Alma beerdigt, sie starb beim Einkaufen in der Metzgerei gegenüber ihrer Wohnung an Herzversagen. Knut liebte sie nicht mehr. Er liebt nur, was "schön" ist, genauer wird er nicht. Doch Alma ist in den letzten Jahren "hässlich und krank" geworden. Deshalb hat er bei ihrem Tod "nicht geweint".
Knut zumindest heuchelt nicht, während alle andern auf der Totenfeier nur die trauernden Nachbarn und Verwandten spielen. Es ist Winter. Alles ist kalt, selbst was man hört, ist kalt: "Lautlos fällt das Januarlicht ins Zimmer und schimmert auf allen glänzenden, knarrenden Schuhen, [...] einige Kleider rascheln wie Schritte auf Laub." Man sieht es geradezu vor sich, die Trauergäste sind wie Schemen, die einen Tanz in Zeitlupe tanzen und unheimliche Geräusche verursachen.
Was ist das für ein Stil? Dagerman schreibt parataktisch: eine Feststellung nach der anderen, kaum Nebensätze, fast keine Einschübe. Alles scheint unverrückbar. Sein Ton ist hart, unerbittlich, er verwendet kaum Bilder, und wenn, sind sie fast banal. Er beschreibt, was ist und wie etwas ist, und man erkennt die Situation sofort. Vielleicht hat er bei Schopenhauer gelernt: Gebrauche gewöhnliche Wörter, um Ungewöhnliches zu sagen. Bei seinem Debüt "Die Schlange" (deutsch 1985) hatte man Faulkner als Vorbild genannt, jetzt nennt der Autor selbst einen Namen: Hemingway. Kein Wunder, der merzte alle unnötigen Adjektive aus, der verehrte eine radikal entschlackte Sprache. Aber Dagerman in diesem Roman übertrifft ihn fast noch.
Der Tod der Mutter, für die Bengt mehr empfindet als gängige Sohnesliebe, hinterlässt in ihm ein "großes, leeres Loch", und die Leere hat "mehr Tränen als irgendetwas anderes"; es sind diese sonderbaren Formulierungen, die Dagermans übliche Metaphern unüblich machen. Keiner kann ihn trösten, auch die beiden so verschiedenen Tanten nicht. Dass sie beide lieber recht behalten wollen, als die Wahrheit zu erfahren, verbindet sie. Auch vom Vater kommt kein Trost. Er hat schon seit Langem eine Geliebte, sie heißt Gun. Natürlich will Bengt sie nicht sehen, dabei kennt er sie, sie ist Kartenverkäuferin in einem Kino, in das er hin und wieder mit seiner Freundin Berit geht, einem unscheinbaren Mädchen, dünn und blass und ewig frierend.
Die ödipale Erotik ist unübersehbar. Und Bengt offenbart dabei eine besondere Neigung: Er steht auf Füße. In seiner sinnlichen Trauer öffnet er einen Karton, in dem die Seidenstrümpfe der Mutter verwahrt sind. Er steckt seine Hand hinein und stellt sie sich als den langen schlanken Fuß seiner Mutter vor, "den Fuß der Mutter als junge Frau". Ein "schöner Gedanke", aber auch ein ungehöriger, der ihn "plötzlich unruhig" macht.
Die Liebe zu Alma überträgt sich auf Gun, die Geliebte des Vaters. Bengt hat zu ihr ein zwiespältiges Verhältnis. Er lehnt sie ab und ist doch von ihr angezogen. Er sieht sie, die Ältere, als Mutterersatz, er begehrt sie vielleicht auch deshalb. Auf einer Schäre verbringen Knut und Gun, Bengt und Berit die Mittsommertage, die fangen mit sexuell ziemlich aufgeladenen Sätzen an: "Der Striemen des Kielwassers wird hart und tief, und in dem Loch hinter den Ruderblättern bleibt Schaum liegen und leuchtet." Hier schlafen Bengt und Gun miteinander, unbedacht, hastig, im Stehen anscheinend. Später in Stockholm geht er zu ihr, der Vater ist nicht da. Hier erst scheinen sie sich zum ersten Mal zu begegnen, sie genießen "die Schönheit des Augenblicks [...], die ersten einsamen Minuten mit jemandem, der einen lieben könnte und den man selbst lieben könnte". Hier verändern sich Konstellation und Stil entscheidend. Die harten kurzen Sätze verschwinden, der Ton wird weicher und geschmeidiger. Bengt sucht nicht die "Hysterie der Lust", er liebt Gun "wegen ihrer Ruhe". Nun ist "das Zimmer von ihr gefüllt und von der Mutter geleert". Doch die lässt ihn nicht los. Sein Kopf denkt, er schlafe mit Gun, aber "sein Gefühl weiß, dass es seine Mutter ist, die er nimmt".
In die Geschichte sind sieben Briefe von Bengt eingestreut, vier an sich selbst und je einer an seine Freundin, an Gun und den Vater. Darin attackiert er die "Erfahrung" der Erwachsenen, die nur dazu diene, kindliche Reinheit, Unschuld, Ehrlichkeit zu missachten. In einem anderen Brief steht der schlimme Satz: "Leben heißt nichts anderes, als Tag für Tag seinen Selbstmord aufzuschieben." 1961 schrieb Horst Bienek, Dagerman habe "es nie verwunden, zum Leben verurteilt zu sein". Schon in "Die Schlange" hieß es: "Muss Dichter sein nicht heißen, eine Angst zu besitzen, die größer ist als die aller anderen auf der Welt?"
Das Verdienst des Guggolz Verlags ist nicht immer die Entdeckung, das gilt für Dagerman wie für Tarjei Vesaas, den anderen großen Skandinavier des Verlags. Beide waren bei uns schon seit Langem bekannt und gewürdigt. Aber durch die Neuübersetzungen ihrer Bücher trägt Guggolz dazu bei, dass solche Autoren sich im Bewusstsein der Leser festsetzen und bleiben. PETER URBAN-HALLE
Stig Dagerman:
"Gebranntes Kind".
Roman.
Aus dem Schwedischen von Paul Berf. Guggolz Verlag, Berlin 2024.
302 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Konfusion der Gefühle: "Gebranntes Kind"
ist ein rätselhafter großer Roman des Schweden Stig Dagerman.
Es lässt sich in diesem schrecklichen, bezaubernden, rätselhaften Buch viel über das Leiden und die Leidensbereitschaft finden. Der Schwede Stig Dagerman (1923 bis 1954) war ein großer Pessimist, über den der französische Schriftsteller Héctor Bianciotti geschrieben hat, er prangere das Böse an und bekämpfe es auf seine Weise, während der Optimist sich bloß darüber wundere. Man hat den jung gestorbenen Dagerman mit Kafka verglichen. Aber bei Dagerman, dem Existenzialisten, gibt es keine außerhalb liegende Macht wie bei Kafka, sondern das Ich ist für sich selbst verantwortlich. Auch Aris Fioretos zieht im Nachwort für seine Interpretation des Romans "Gebranntes Kind" einen Kafka-Text heran, "Forschungen eines Hundes". Aber er weist auch auf die Ambivalenz hin: Der Held sei nämlich "ebenso sehr Subjekt wie Objekt in seiner Vivisektion der Existenz".
"Gebranntes Kind", erschienen 1948, spielt in Södermalm, damals noch ein Arbeiterbezirk im Stockholmer Zentrum. Bengt, ein zwanzigjähriger Student, sensibel, beinahe überempfindlich, kommt aus einfachen Verhältnissen, der Lieblingsspruch seines Vaters Knut lautet: "Ich bin nur ein einfacher Möbelschreiner." Damit entzieht er sich jeder Diskussion. Am Anfang des Romans wird seine Ehefrau Alma beerdigt, sie starb beim Einkaufen in der Metzgerei gegenüber ihrer Wohnung an Herzversagen. Knut liebte sie nicht mehr. Er liebt nur, was "schön" ist, genauer wird er nicht. Doch Alma ist in den letzten Jahren "hässlich und krank" geworden. Deshalb hat er bei ihrem Tod "nicht geweint".
Knut zumindest heuchelt nicht, während alle andern auf der Totenfeier nur die trauernden Nachbarn und Verwandten spielen. Es ist Winter. Alles ist kalt, selbst was man hört, ist kalt: "Lautlos fällt das Januarlicht ins Zimmer und schimmert auf allen glänzenden, knarrenden Schuhen, [...] einige Kleider rascheln wie Schritte auf Laub." Man sieht es geradezu vor sich, die Trauergäste sind wie Schemen, die einen Tanz in Zeitlupe tanzen und unheimliche Geräusche verursachen.
Was ist das für ein Stil? Dagerman schreibt parataktisch: eine Feststellung nach der anderen, kaum Nebensätze, fast keine Einschübe. Alles scheint unverrückbar. Sein Ton ist hart, unerbittlich, er verwendet kaum Bilder, und wenn, sind sie fast banal. Er beschreibt, was ist und wie etwas ist, und man erkennt die Situation sofort. Vielleicht hat er bei Schopenhauer gelernt: Gebrauche gewöhnliche Wörter, um Ungewöhnliches zu sagen. Bei seinem Debüt "Die Schlange" (deutsch 1985) hatte man Faulkner als Vorbild genannt, jetzt nennt der Autor selbst einen Namen: Hemingway. Kein Wunder, der merzte alle unnötigen Adjektive aus, der verehrte eine radikal entschlackte Sprache. Aber Dagerman in diesem Roman übertrifft ihn fast noch.
Der Tod der Mutter, für die Bengt mehr empfindet als gängige Sohnesliebe, hinterlässt in ihm ein "großes, leeres Loch", und die Leere hat "mehr Tränen als irgendetwas anderes"; es sind diese sonderbaren Formulierungen, die Dagermans übliche Metaphern unüblich machen. Keiner kann ihn trösten, auch die beiden so verschiedenen Tanten nicht. Dass sie beide lieber recht behalten wollen, als die Wahrheit zu erfahren, verbindet sie. Auch vom Vater kommt kein Trost. Er hat schon seit Langem eine Geliebte, sie heißt Gun. Natürlich will Bengt sie nicht sehen, dabei kennt er sie, sie ist Kartenverkäuferin in einem Kino, in das er hin und wieder mit seiner Freundin Berit geht, einem unscheinbaren Mädchen, dünn und blass und ewig frierend.
Die ödipale Erotik ist unübersehbar. Und Bengt offenbart dabei eine besondere Neigung: Er steht auf Füße. In seiner sinnlichen Trauer öffnet er einen Karton, in dem die Seidenstrümpfe der Mutter verwahrt sind. Er steckt seine Hand hinein und stellt sie sich als den langen schlanken Fuß seiner Mutter vor, "den Fuß der Mutter als junge Frau". Ein "schöner Gedanke", aber auch ein ungehöriger, der ihn "plötzlich unruhig" macht.
Die Liebe zu Alma überträgt sich auf Gun, die Geliebte des Vaters. Bengt hat zu ihr ein zwiespältiges Verhältnis. Er lehnt sie ab und ist doch von ihr angezogen. Er sieht sie, die Ältere, als Mutterersatz, er begehrt sie vielleicht auch deshalb. Auf einer Schäre verbringen Knut und Gun, Bengt und Berit die Mittsommertage, die fangen mit sexuell ziemlich aufgeladenen Sätzen an: "Der Striemen des Kielwassers wird hart und tief, und in dem Loch hinter den Ruderblättern bleibt Schaum liegen und leuchtet." Hier schlafen Bengt und Gun miteinander, unbedacht, hastig, im Stehen anscheinend. Später in Stockholm geht er zu ihr, der Vater ist nicht da. Hier erst scheinen sie sich zum ersten Mal zu begegnen, sie genießen "die Schönheit des Augenblicks [...], die ersten einsamen Minuten mit jemandem, der einen lieben könnte und den man selbst lieben könnte". Hier verändern sich Konstellation und Stil entscheidend. Die harten kurzen Sätze verschwinden, der Ton wird weicher und geschmeidiger. Bengt sucht nicht die "Hysterie der Lust", er liebt Gun "wegen ihrer Ruhe". Nun ist "das Zimmer von ihr gefüllt und von der Mutter geleert". Doch die lässt ihn nicht los. Sein Kopf denkt, er schlafe mit Gun, aber "sein Gefühl weiß, dass es seine Mutter ist, die er nimmt".
In die Geschichte sind sieben Briefe von Bengt eingestreut, vier an sich selbst und je einer an seine Freundin, an Gun und den Vater. Darin attackiert er die "Erfahrung" der Erwachsenen, die nur dazu diene, kindliche Reinheit, Unschuld, Ehrlichkeit zu missachten. In einem anderen Brief steht der schlimme Satz: "Leben heißt nichts anderes, als Tag für Tag seinen Selbstmord aufzuschieben." 1961 schrieb Horst Bienek, Dagerman habe "es nie verwunden, zum Leben verurteilt zu sein". Schon in "Die Schlange" hieß es: "Muss Dichter sein nicht heißen, eine Angst zu besitzen, die größer ist als die aller anderen auf der Welt?"
Das Verdienst des Guggolz Verlags ist nicht immer die Entdeckung, das gilt für Dagerman wie für Tarjei Vesaas, den anderen großen Skandinavier des Verlags. Beide waren bei uns schon seit Langem bekannt und gewürdigt. Aber durch die Neuübersetzungen ihrer Bücher trägt Guggolz dazu bei, dass solche Autoren sich im Bewusstsein der Leser festsetzen und bleiben. PETER URBAN-HALLE
Stig Dagerman:
"Gebranntes Kind".
Roman.
Aus dem Schwedischen von Paul Berf. Guggolz Verlag, Berlin 2024.
302 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main