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Das Deutschland der Jahrhundertwende war ein Land der Gegensätze. Nach außen trat es als koloniale Groß- und Weltmacht auf, im Innern kündigten Reformansätze auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens eine neue Zeit an. Frank-Lothar Kroll beschreibt die umfassenden Veränderungen, die das späte Kaiserreich als einen der fortschrittlichsten Nationalstaaten in Europa auszeichneten. Erst durch den Kriegsausbruch von 1914 wurde der damals vorgegebene Weg in die Moderne abgebrochen. Die Bände der Reihe Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert vermitteln verständlich, kompakt und anschaulich den…mehr

Produktbeschreibung
Das Deutschland der Jahrhundertwende war ein Land der Gegensätze. Nach außen trat es als koloniale Groß- und Weltmacht auf, im Innern kündigten Reformansätze auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens eine neue Zeit an. Frank-Lothar Kroll beschreibt die umfassenden Veränderungen, die das späte Kaiserreich als einen der fortschrittlichsten Nationalstaaten in Europa auszeichneten. Erst durch den Kriegsausbruch von 1914 wurde der damals vorgegebene Weg in die Moderne abgebrochen. Die Bände der Reihe Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert vermitteln verständlich, kompakt und anschaulich den neuesten Stand der historischen Forschung. Mit zahlreichen Abbildungen und umfangreichem Literaturverzeichnis.
Autorenporträt
Frank-Lothar Kroll, 1959 in Aachen geboren, studierte in Bonn und Köln Geschichte, Kunstgeschichte, Germanistik, Philosophie und Religionswissenschaften, Inhaber der Professur für Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der Technischen Universität Chemnitz. Kroll amtierte ab 1992 als Präsident der Werner Bergengruen-Gesellschaft e. V., erhielt 1996 den Louis Ferdinand Preis des Preußeninstituts und ist seit 1996 Ordentliches Mitglied der Preußischen Historischen Kommission sowie seit 2006 deren amtierender Vorsitzender.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Ob dem Autor sein Vorhaben gelingt, gegen Hans-Ulrich Wehler und andere "Repräsentanten einer Historischen Sozialwissenschaft" und die von ihnen festgestellten Kontinuitäten zwischen kaiserlichem Deutschland und Nationalsozialismus zu widerlegen, bleibt für Rainer Blasius anscheinend unklar. Die "Neubewertung" der letzten 15 Jahre vor 1914 und die Ehrenrettung Wilhelm II., die Frank-Lothar Kroll mit seinem Buch anstrebt, indem er etwa die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Monarch und Reichstag offenlegt oder das damalige bürgerliche politische Engagement aufzeigt, scheint Blasius etwas kalt zu lassen.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.09.2013

Seine Majestät und die Bildungsbürger
Politik, Gesellschaft und Kultur im Deutschen Reich von der Jahrhundertwende bis zum Kriegsbeginn 1914

Gerechtigkeit für Wilhelm II. und seine selbstbewussten Untertanen: Preußenforscher Frank-Lothar Kroll nimmt Hans-Ulrich Wehler und andere "Repräsentanten einer Historischen Sozialwissenschaft" ins Visier. Sie hätten sich überboten in dem Bemühen, "entsprechende Kontinuitäts-Zusammenhänge zu konstruieren" vom kaiserlichen Deutschland direkt in den Nationalsozialismus - also das Deutsche Reich von 1897 an "zu einer monströsen Schreckgestalt degradiert". Kroll will daher "die letzten drei Jahrfünfte vor Kriegsausbruch" neu bewerten, ja das Wilhelminische Deutschland "auf sein europäisches Normalmaß" zurückführen.

Zunächst hebt er im Kapitel "Staat, Regierung und Verwaltung" die Abhängigkeit zwischen Monarch und Reichstag hervor, konstatiert ein parlamentarisches Mitentscheidungsrecht der Nation. Ein Vetorecht des Kaisers gegen vom Parlament verabschiedete Gesetze war in der Verfassung nicht vorgesehen; die vom Monarchen ernannten Reichskanzler diskutierten ihre Entscheidungen im Reichstag öffentlich und mussten sich sogar scharfer Kritik aussetzen. Trotz seiner rhetorischen Entgleisungen habe das Volk das "persönliche Regiment" des Kaisers und sein gelegentliches Säbelrasseln geschätzt: "Dass sich hinter der äußerlich so glänzenden Fassade des kraftstrotzenden Imperators eine außerordentlich fragile und letztlich zutiefst durchsetzungsschwache Existenz verbarg, blieb den meisten Beobachtern in der Regel verborgen."

Überhaupt war in jener Phase der oberste Souverän weder der Kaiser noch das Volk, sondern der Bundesrat, der die vielen Einzelstaaten vertrat; er büßte seine starke Stellung im Laufe der Jahrzehnte allerdings ein, so dass man in der Verfassungswirklichkeit vom Durchbruch zum unitarischen Bundesstaat sprechen könne, gerade als Folge der Reichsgesetzgebung. Hier hebt Kroll die - im Vergleich mit anderen Industriestaaten Europas vor 1914 - "fortschrittlichste und arbeiterfreundlichste Sozialgesetzgebung" hervor. Was die Minderheitenfragen betraf, so brachte für die über zweihunderttausend Franzosen im "Reichsland" Elsass-Lothringen und die mehr als drei Millionen Polen im Ruhrgebiet sowie in den preußischen Provinzen Posen, Westpreußen und Schlesien das letzte Friedensjahrzehnt einen "erheblichen Qualitätwandel mit sich. Im Westen führte er zu einem entspannten Miteinander der beiden Nationalitäten, im Osten hingegen beförderte er deren wachsenden Antagonismus." Ausgerechnet das sich einst am Prinzip der Toleranz orientierende Preußen sei zur Politik einer Assimilierung der polnischen Minderheit übergegangen; doch der Reichstag - besonders die Fraktionen von Zentrum, Linksliberalen und Sozialdemokraten - taten sich als Verteidiger polnischer Minderheitenrechte hervor.

Im Buchteil "Parlament, Parteien und organisierte Interessen" stellt der Autor als herausragendsten Indikator zeitgenössischer Modernität das allgemeine, geheime und direkte Wahlrecht für den Reichstag heraus, das für jeden Deutschen galt, der das Alter von 25 Jahren überschritten hatte. Zunächst konnte ein solches demokratisches Männerwahlrecht nur noch Frankreich und Griechenland vorweisen, später folgten "dem deutschen Vorbild" Spanien (1890), Italien (1912), Finnland (1905), Norwegen (1907) und Schweden (1909). Wie "ernst die vermeintliche wilhelminische Untertanengesellschaft die Chance zur demokratischen Artikulation des Volkswillens" nahm, belegt auch die Wahlbeteiligung, die 1912 sogar 84,5 Prozent betrug. Hier verschweigt Kroll nicht, dass es beim Wahlverhalten "einen gewissen Konformitätsdruck" durch Priester und bestimmte Milieus ("Wahl-Prozessionen" der Sozialdemokraten) gab.

Im Kapitel "Eine Gesellschaft in Bewegung" erinnert der Autor an den rapiden Bevölkerungsanstieg und an die Binnenwanderung innerhalb des Reiches, auch an eine "begrenzte" vertikale wie horizontale Durchlässigkeit. Allerdings handelte es sich um eine Klassengesellschaft, was "der gesamteuropäischen Norm" entsprach. Bei der "zutiefst bürgerlich geprägten" Gesellschaft in Deutschland grenzt Kroll drei Hauptgruppen voneinander ab: das vermögende und finanzstarke Wirtschaftsbürgertum, das "kulturell wie intellektuell gleichermaßen regsame Bildungsbürgertum" und schließlich das Kleinbürgertum mit Handwerkern, Gewerbetreibenden und untergeordneten Beamten. Humanistisch-klassische Bildung war das Kapital der Bildungsbürger; es verlieh Selbstsicherheit, verschaffte Ansehen und begründete den "Anspruch auf Einfluss in Staat und Gesellschaft, auf politische und kulturelle Meinungsführerschaft." Diese artikulierte sich im Reichstag, in den Länderparlamenten, in großen Teilen der Presse und im Kulturbetrieb. Vom "fortschreitenden Bedeutungsverlust", den manche Spät-Kaiserreich-Interpreten diagnostizierten, kann - so Kroll - keine Rede sein, auch nicht "von einem immer wieder angemahnten Defizit an bürgerlichem politischen Engagement, das der wilheminischen Gesellschaft als angeblich notorischer Strukturmangel untilgbar angehaftet habe".

Unter der Überschrift "Massenmarkt, Öffentlichkeit und Modernitätserfahrung" widmet sich der Autor dem neuen Medium Film, den Boulevardblättern und gezielten Werbekampagnen, vor allem aber den überparteilichen außerparlamentarischen Organisationen, die sich - wie der "Deutsche Flottenverein" (eine Million Mitglieder), der Deutsche Wehrverein" (100 000 Mitglieder), die "Deutsche Kolonialgesellschaft" (40 000 Mitglieder" und der "Alldeutsche Verband" (18 000 Mitglieder) - als Sprachrohre einer aggressiveren "Weltpolitik" zu profilieren vermochten. Diese Ansprüche wurden ideologisch untermauert "durch ein krudes Gemisch aus sozialdarwinistischen, biologistischen und geopolitischen Versatzstücken", die auch im Bildungs- und Besitzbürgertum Anklang fanden. Der Einfluss der "vaterländischen" Vereinigungen auf die konkreten Regierungsgeschäfte "war freilich eng begrenzt, trotz ihres massenhaften Anhangs". Die Kanzler Bernhard von Bülow (bis 1909) und Theobald von Bethmann Hollweg (bis 1917) gerieten immer wieder in Konflikt mit den extremen Forderungen, für die auch Wilhelm II. "keinerlei Sympathien" hegte. Alldeutschen-Anführer Heinrich Claß publizierte 1912 unter dem Pseudonym Daniel Frymann das Pamphlet "Wenn ich der Kaiser wär", in dem er "die kompromissorientierte Politik" Wilhelms angriff, einen Präventivschlag zur Vernichtung Großbritanniens empfahl und sich für dezidiert antipolnische und antisemitische Gesetze aussprach. Die öffentliche Zurückweisung solcher "Zumutungen" durch Kaiser und Reichsleitung zeugte laut Kroll vom "ausgleichenden Klima des wilhelmischen Obrigkeitsstaates".

Unter der Überschrift "Reich und Länder, Metropole und Provinz: die Regionen" wird die bundesstaatliche Gliederung eingehend erörtert: die 22 Monarchien und drei Republiken behielten nach 1871 ihre Staatsqualität. Zu den meist schlicht auftretenden, Dialekt sprechenden Fürsten hätten die Bevölkerungen "stark gefühlsbetonte Bindungen" entwickelt, nicht selten "unter Hervorkehrung eines deutlich gegen ,Preußen' und ,Berlin' gerichteten partikularistischen Affektes". Gerade weil das - infolge des Dreiklassenwahlrechts und des Herrenhauses rückständige - Preußen wegen seiner Größe und seinem 40 Millionen Einwohnern (65 Prozent des Reichsgebietes, 62 Prozent der Reichsbevölkerung) aus dem Rahmen föderaler Ausgewogenheit fiel, war die Klage über eine mögliche oder tatsächlich erfolgte "Verpreußung" Deutschlands bis 1914 ein politisch-publizistisches Dauerthema. Laut Kroll war die Hegemonie Preußens im Reich seit Mitte der 1890er Jahre im Schwinden begriffen, während die Reichsverwaltung kontinuierlich an Gewicht gewann. Dass nicht einmal eine behutsame Reform des Dreiklassenwahlrechts - gegen das es oft Massendemonstrationen gab - möglich war, lastet Kroll den preußischen Konservativen "im Zusammenwirken mit Zentrumsparlamentariern" an. In Baden, Württemberg und Bayern waren demgegenüber deutliche Demokratieschübe und "Modernitätsvorsprünge" zu verzeichnen.

Im letzten Teil der höchst informativen, manchmal allzu komprimierten Studie geht es um Kultur, Bildung und Wissenschaften. Kroll spricht von der "Freude an der Erprobung neuer Formen" auf allen Gebieten, wenn auch der Kaiser allen modernen Kunstströmungen mit Abneigung gegenüberstand. Abschließend meint er, dass das Verhältnis zwischen ziviler und militärischer Macht in den ersten Kriegsjahren noch relativ ausgewogen war. Der Dritten Obersten Heeresleitung unter Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff gelang es im Juli 1917 jedoch, bei Wilhelm die Entlassung "des stets um Ausgleich und Verständigung bemühten" Kanzlers Bethmann Hollweg durchzusetzen und faktisch eine "Kriegsdiktatur" zu etablieren. Deutschland sei dann durch Ludendorffs Sturz Ende Oktober 1918 "von dieser ersten ,modernen' Dikaturerfahrung seiner Geschichte wieder befreit" worden.

RAINER BLASIUS

Frank-Lothar Kroll: Geburt der Moderne. Politik, Gesellschaft und Kultur vor dem Ersten Weltkrieg. be.bra Verlag, Berlin 2013. 216 S., 19,90 [Euro].

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