Das Jahrhundert erinnern!
Gedächtniszeiten versammelt wichtige Beiträge Diners zum Thema Geschichte und Erinnerung, Gesellschaft und Gedächtnis, sowie der methodischen Umsetzung hybrider Kulturerfahrung im Prozeß nachholender Säkularisierung. Dabei legen seine Forschungen stets Vergleichs- und Verschmelzungshorizonte von Orient und Okzident gleichermaßen zugrunde. Diners luzide Rekonstruktionen der historischen Diskurse, die um Vorherrschaft im kollektiven Gedächtnis ringen, sind Bausteine einer Gedächtnisgeschichte des 20. Jahrhunderts.
Dan Diner ist wie kaum ein anderer Historiker unserer Zeit gleichermaßen mit der jüdischen, der islamischen und der westlich-europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts vertraut. In seinen Arbeiten hat er sich stets besonders für die historischen Erfahrungen in einem Jahrhundert der Gewalt, der Minderheitenerfahrung, der Vertreibungen und des Völkermords befasst. Denn der spezifische politische und kulturelle Umgang mit dem Erbe der Geschichte ist nicht nur ein Schlüssel für das Verstehen des 20. Jahrhunderts, er gibt immer auch Auskunft über unsere eigene Gegenwart.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Gedächtniszeiten versammelt wichtige Beiträge Diners zum Thema Geschichte und Erinnerung, Gesellschaft und Gedächtnis, sowie der methodischen Umsetzung hybrider Kulturerfahrung im Prozeß nachholender Säkularisierung. Dabei legen seine Forschungen stets Vergleichs- und Verschmelzungshorizonte von Orient und Okzident gleichermaßen zugrunde. Diners luzide Rekonstruktionen der historischen Diskurse, die um Vorherrschaft im kollektiven Gedächtnis ringen, sind Bausteine einer Gedächtnisgeschichte des 20. Jahrhunderts.
Dan Diner ist wie kaum ein anderer Historiker unserer Zeit gleichermaßen mit der jüdischen, der islamischen und der westlich-europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts vertraut. In seinen Arbeiten hat er sich stets besonders für die historischen Erfahrungen in einem Jahrhundert der Gewalt, der Minderheitenerfahrung, der Vertreibungen und des Völkermords befasst. Denn der spezifische politische und kulturelle Umgang mit dem Erbe der Geschichte ist nicht nur ein Schlüssel für das Verstehen des 20. Jahrhunderts, er gibt immer auch Auskunft über unsere eigene Gegenwart.
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"Hier wie im ganzen Buch fällt auf, daß der Autor zu schreiben versteht, jedes Wort abwägt und seinem Stil die vornehme Gelassenheit gibt, die einen Historiker auszeichnen sollte, auch wenn er unter "der epistemischen Herausforderung des Holocaust" Geschichtsschreibung betreibt. Allen Artikeln ist gemeinsam, daß sie den Raum des Übergangs von Europa in den Vorderen Orient behandeln, sei dieser islamisch, jüdisch oder byzantinisch." (Friedrich Niewöhner, FAZ, 24. März 2003)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.03.2003Als wären es Stücke für heute
Geschichten zum Judentum: Dan Diners historische Miniaturen
Dan Diner, Direktor des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig, legt mit diesem Buch fünfzehn Aufsätze "Über jüdische und andere Geschichten" vor. Neun dieser bisher nur verstreut zugänglichen Arbeiten behandeln das Judentum und die israelische Geschichtsschreibung, drei sind dem Islam gewidmet und drei der westeuropäischen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Themen, die Diner erörtert, sind zum Teil akademisch-historisch, zum Teil berühren sie aber auch Fragen, die gemeinhin ohne Erregung heute nicht abgehandelt werden. Einer dieser Artikel beschreibt den "Judenrat" der Konzentrationslager als Grenzsituation unter der Überschrift: "Jenseits des Unvorstellbaren." Diner behandelt dieses nach dem Eichmann-Prozeß 1961 besonderes von Hannah Arendt provozierte Thema jedoch ohne Pathos, mit guten Formulierungen und aus einer Distanz heraus, die den Leser geradezu zwingt, seine Gedanken nachzuvollziehen.
Hier wie im ganzen Buch fällt auf, daß der Autor zu schreiben versteht, jedes Wort abwägt und seinem Stil die vornehme Gelassenheit gibt, die einen Historiker auszeichnen sollte, auch wenn er unter "der epistemischen Herausforderung des Holocaust" Geschichtsschreibung betreibt. Allen Artikeln ist gemeinsam, daß sie den Raum des Übergangs von Europa in den Vorderen Orient behandeln, sei dieser islamisch, jüdisch oder byzantinisch.
Diner macht deutlich, daß gerade der Blick auf die jüdische Geschichte und die Geschichten der verschiedenen Judenheiten eine historische Perspektive erfordert, die über das gängige Paradigma des Nationalstaates hinausweist. Die transnationalen und transterritorialen jüdischen Lebenswelten und Migrationen ziehen "gleichsam notgedrungen eine umfassende Sichtweite auf Geschichte nach sich". Aber gerade wegen der räumlichen und zeitlichen Ubiquität seines Gegenstandes ist der Historiker der jüdischen Geschichte auch gezwungen, das Allgemeine aus der Perspektive des Besonderen und des Einzelnen zu behandeln. So bewegt sich der Historiker Diner immer auf Grenzen, sie verständlich machend, indem er sie überschreitet.
Da die Geschichte Europas heute nicht mehr wie bei der Neubegründung der Geschichtsschreibung im neunzehnten Jahrhundert auf der Basis sich divers etablierender nationaler staatlicher Gemeinwesen gedeutet, sondern eine integrierte europäische Historik angestrebt wird, bekommt die Geschichte der Juden für diese eine geradezu exemplarische Bedeutung: die Erforschung der (vormodernen) jüdischen Bevölkerungen Europas in ihrer Transnationalität und Transterritorialität kann zum Vorbild einer (modernen) Geschichtsschreibung in Europa werden, welche die übernationalen europäischen Gemeinsamkeiten im Blick hat. So gesehen sind Diners historische Miniaturen nicht nur belehrend, sondern in ihrer europäischen Geschichtsschreibung zugleich wegweisend.
Diner ist auch Professor für Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem, und so beschäftigen sich auch zwei Aufsätze mit israelischen Problemen. Vor sieben Jahren hatte ein israelischer Historiker seinem Buch über die "Wende in Israel" den Untertitel "Zwischen Nation und Religion" hinzugefügt - von der Nation ist bei Diner jedoch kaum, von der Religion gar nicht die Rede. Er kontrastiert in sehr dichten geschichtsphilosophischen Reflexionen das zionistische ("yishuvistische") israelische Selbstverständnis mit dem, das sich aus der Vernichtung des europäischen Judentums ableitet, dem "shoazentrischen". Da beide Deutungsmuster eine sinnstiftende Funktion für das kollektive israelische Gedächtnis haben und somit "einer Wahrnehmung falscher Homogenität erliegen", konstatiert Diner, daß "wirkliche Historisierung noch ansteht".
Diner selbst schlägt vor, in diesen Fragen den ostjüdischen "Displaced Persons" im Westen nach 1945 größere Aufmerksamkeit zu widmen, denn er vermutet, daß diese jüdische Wanderungsbewegung "zum eigentlichen Hebel der Errichtung des Staates Israel" wurde. Dem Leser dieser Ausführungen wird deutlich, mit welchen Schwierigkeiten die Geschichtsschreibung in einem Land verbunden ist, das zwar nicht in, aber doch von Europa ist und das sich noch immer auf der Suche nach der eigenen Legitimität befindet. Erst eine friedliche Einigung mit den Palästinensern könnte diese Suche - vielleicht - beenden, denn ein solcher Frieden wäre nicht mehr von Europa, sondern in Palästina.
Von einem Buch, das "jüdische Geschichten" thematisiert, erwartet man eigentlich, in ihm auch etwas über die jüdische Religion zu finden. Doch vermeidet Diner es, von dieser zu sprechen, und das hängt mit seinem eigenen Standpunkt zusammen. Vorbild für ihn ist John Locke und dessen "Brief über die Toleranz" (1685/86), in dem die Konversion der Religion in Konfession thematisiert wird. Diner meint, daß nur eine "Protestantisierung der Religion", das heißt ihre Abspaltung von der Politik, Toleranz ermöglichen könne. Religion wird damit notwendig zu Religiosität und einer Sphäre des Privaten. Toleranz kann nämlich nur dort geübt werden, wo die Bedingungen für Intoleranz aufgehoben sind. Die Vermischung von Religion und Politik ist sicher solch eine Bedingung. Diner hat allein den Islam im Blick, doch die derzeitigen weltpolitischen Konstellationen zeigen, daß John Lockes Überlegungen zur Toleranz auch für den Westen von bleibender Geltung sein können.
FRIEDRICH NIEWÖHNER
Dan Diner: "Gedächtniszeiten". Über jüdische und andere Geschichten. C. H. Beck Verlag, München 2003. 296 S., br., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Geschichten zum Judentum: Dan Diners historische Miniaturen
Dan Diner, Direktor des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig, legt mit diesem Buch fünfzehn Aufsätze "Über jüdische und andere Geschichten" vor. Neun dieser bisher nur verstreut zugänglichen Arbeiten behandeln das Judentum und die israelische Geschichtsschreibung, drei sind dem Islam gewidmet und drei der westeuropäischen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Themen, die Diner erörtert, sind zum Teil akademisch-historisch, zum Teil berühren sie aber auch Fragen, die gemeinhin ohne Erregung heute nicht abgehandelt werden. Einer dieser Artikel beschreibt den "Judenrat" der Konzentrationslager als Grenzsituation unter der Überschrift: "Jenseits des Unvorstellbaren." Diner behandelt dieses nach dem Eichmann-Prozeß 1961 besonderes von Hannah Arendt provozierte Thema jedoch ohne Pathos, mit guten Formulierungen und aus einer Distanz heraus, die den Leser geradezu zwingt, seine Gedanken nachzuvollziehen.
Hier wie im ganzen Buch fällt auf, daß der Autor zu schreiben versteht, jedes Wort abwägt und seinem Stil die vornehme Gelassenheit gibt, die einen Historiker auszeichnen sollte, auch wenn er unter "der epistemischen Herausforderung des Holocaust" Geschichtsschreibung betreibt. Allen Artikeln ist gemeinsam, daß sie den Raum des Übergangs von Europa in den Vorderen Orient behandeln, sei dieser islamisch, jüdisch oder byzantinisch.
Diner macht deutlich, daß gerade der Blick auf die jüdische Geschichte und die Geschichten der verschiedenen Judenheiten eine historische Perspektive erfordert, die über das gängige Paradigma des Nationalstaates hinausweist. Die transnationalen und transterritorialen jüdischen Lebenswelten und Migrationen ziehen "gleichsam notgedrungen eine umfassende Sichtweite auf Geschichte nach sich". Aber gerade wegen der räumlichen und zeitlichen Ubiquität seines Gegenstandes ist der Historiker der jüdischen Geschichte auch gezwungen, das Allgemeine aus der Perspektive des Besonderen und des Einzelnen zu behandeln. So bewegt sich der Historiker Diner immer auf Grenzen, sie verständlich machend, indem er sie überschreitet.
Da die Geschichte Europas heute nicht mehr wie bei der Neubegründung der Geschichtsschreibung im neunzehnten Jahrhundert auf der Basis sich divers etablierender nationaler staatlicher Gemeinwesen gedeutet, sondern eine integrierte europäische Historik angestrebt wird, bekommt die Geschichte der Juden für diese eine geradezu exemplarische Bedeutung: die Erforschung der (vormodernen) jüdischen Bevölkerungen Europas in ihrer Transnationalität und Transterritorialität kann zum Vorbild einer (modernen) Geschichtsschreibung in Europa werden, welche die übernationalen europäischen Gemeinsamkeiten im Blick hat. So gesehen sind Diners historische Miniaturen nicht nur belehrend, sondern in ihrer europäischen Geschichtsschreibung zugleich wegweisend.
Diner ist auch Professor für Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem, und so beschäftigen sich auch zwei Aufsätze mit israelischen Problemen. Vor sieben Jahren hatte ein israelischer Historiker seinem Buch über die "Wende in Israel" den Untertitel "Zwischen Nation und Religion" hinzugefügt - von der Nation ist bei Diner jedoch kaum, von der Religion gar nicht die Rede. Er kontrastiert in sehr dichten geschichtsphilosophischen Reflexionen das zionistische ("yishuvistische") israelische Selbstverständnis mit dem, das sich aus der Vernichtung des europäischen Judentums ableitet, dem "shoazentrischen". Da beide Deutungsmuster eine sinnstiftende Funktion für das kollektive israelische Gedächtnis haben und somit "einer Wahrnehmung falscher Homogenität erliegen", konstatiert Diner, daß "wirkliche Historisierung noch ansteht".
Diner selbst schlägt vor, in diesen Fragen den ostjüdischen "Displaced Persons" im Westen nach 1945 größere Aufmerksamkeit zu widmen, denn er vermutet, daß diese jüdische Wanderungsbewegung "zum eigentlichen Hebel der Errichtung des Staates Israel" wurde. Dem Leser dieser Ausführungen wird deutlich, mit welchen Schwierigkeiten die Geschichtsschreibung in einem Land verbunden ist, das zwar nicht in, aber doch von Europa ist und das sich noch immer auf der Suche nach der eigenen Legitimität befindet. Erst eine friedliche Einigung mit den Palästinensern könnte diese Suche - vielleicht - beenden, denn ein solcher Frieden wäre nicht mehr von Europa, sondern in Palästina.
Von einem Buch, das "jüdische Geschichten" thematisiert, erwartet man eigentlich, in ihm auch etwas über die jüdische Religion zu finden. Doch vermeidet Diner es, von dieser zu sprechen, und das hängt mit seinem eigenen Standpunkt zusammen. Vorbild für ihn ist John Locke und dessen "Brief über die Toleranz" (1685/86), in dem die Konversion der Religion in Konfession thematisiert wird. Diner meint, daß nur eine "Protestantisierung der Religion", das heißt ihre Abspaltung von der Politik, Toleranz ermöglichen könne. Religion wird damit notwendig zu Religiosität und einer Sphäre des Privaten. Toleranz kann nämlich nur dort geübt werden, wo die Bedingungen für Intoleranz aufgehoben sind. Die Vermischung von Religion und Politik ist sicher solch eine Bedingung. Diner hat allein den Islam im Blick, doch die derzeitigen weltpolitischen Konstellationen zeigen, daß John Lockes Überlegungen zur Toleranz auch für den Westen von bleibender Geltung sein können.
FRIEDRICH NIEWÖHNER
Dan Diner: "Gedächtniszeiten". Über jüdische und andere Geschichten. C. H. Beck Verlag, München 2003. 296 S., br., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Friedrich Niewöhner lobt dieses Buch, das 15 Aufsätze über jüdische, islamische und westeuropäische Geschichte des 20. Jahrhunderts enthält, sehr. Die sorgfältige "jedes Wort abwägende" Sprache des Autors gefällt ihm gut, was besonders bei dem Aufsatz über den von den Nazis eingesetzten "Judenrat" der Konzentrationslager hilfreich ist, weil er durch sprachliche Distanz die Leser zum Nachvollziehen der Gedankengänge "geradezu zwingt", wie der Rezensent angetan bemerkt. Er betont, dass Diners Art der Geschichtsschreibung "wegweisend" sei, weil die Darstellung von "Transnationalität und Transterritorialität" der jüdischen Bevölkerung Europas für die "europäische Historik" exemplarisch sei. Bei den Beiträgen zur israelischen Geschichtsschreibung werde für den Leser zudem "deutlich", wie schwierig dieses Unterfangen bei einem Land sei, das immer noch im Prozess der "Suche nach der eigenen Legitimität" stecke, so der Rezensent zustimmend.
© Perlentaucher Medien GmbH
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