Die vor 120 Jahren erschienene, längst vergriffene deutsche Ausgabe von Tolstois Kalenderbuch "Gedanken weiser Männer" wird hier von Ingrid von Heiseler als ungekürzte Neuedition vorgelegt. Der Übersetzer Adolf Heß erläutert zur Entstehung dieser Sammlung: "Während der schweren Krankheit Leo N. Tolstois im Januar 1903, als sein Leben an einem seidenen Faden hing und er der gewohnten Arbeit nicht nachgehen konnte, fand er doch die Kraft, täglich im Neuen Testament und auf einem Kalender im Schlafzimmer die Aussprüche verschiedener großer Männer zu lesen. Aber das Jahr und mit ihm der Kalender…mehr
Die vor 120 Jahren erschienene, längst vergriffene deutsche Ausgabe von Tolstois Kalenderbuch "Gedanken weiser Männer" wird hier von Ingrid von Heiseler als ungekürzte Neuedition vorgelegt. Der Übersetzer Adolf Heß erläutert zur Entstehung dieser Sammlung: "Während der schweren Krankheit Leo N. Tolstois im Januar 1903, als sein Leben an einem seidenen Faden hing und er der gewohnten Arbeit nicht nachgehen konnte, fand er doch die Kraft, täglich im Neuen Testament und auf einem Kalender im Schlafzimmer die Aussprüche verschiedener großer Männer zu lesen. Aber das Jahr und mit ihm der Kalender ging zu Ende und nun entstand in Tolstoi der Wunsch, sich selbst Auszüge aus verschiedenen Denkern für jeden Tag zusammenzustellen. Täglich vom Bette aus, soweit es seine Kräfte erlaubten, machte er diese Auszüge - fügte auch eigenes hinzu ..."Das so entstandene Buch war Auftakt zu insgesamt drei weisheitlichen Lesewerken Tolstois (es folgten der Lektürezyklus "Für alle Tage", 1904-1908, und die Anthologie "Der Weg des Lebens", 1910). Dokumentiert wird in der vorliegenden Ausgabe eine Rezension der "Illustrierten Zeitung für das gesamte Judentum" von 1905: "Es ist sehr bemerkenswert, dass unter den sechsundfünfzig Autoren, die Tolstoi exzerpiert hat, der Talmud am stärksten vertreten ist. Von den Sprüchen für die 365 Tage des Jahres sind nämlich nicht weniger als hundert und sieben dem Talmud entnommen. Diese enorme Ziffer wird noch dadurch erhöht, dass die Zitate aus dem Talmud meist von größerem Umfang sind und jedes von ihnen füglich in mehrere Sprüche zerlegt werden kann. Der Talmud hat offenbar auf den Weisen von Jasnaja Poljana einen starken Eindruck gemacht und seinem Geist Nahrung geboten."Tolstoi-FriedensbibliothekReihe B, Band 17 (Signatur TFb_B017)Herausgegeben von Peter Bürger,Editionsmitarbeit: Ingrid von HeiselerHinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Leo (Lew) Nikolajewitsch Tolstoi (1828-1910) stammte aus einer begüterten russischen Adelsfamilie; die Mutter starb bereits 1830, der Vater im Jahr 1837. Zunächst widmete sich der junge Graf dem Studium orientalischer Sprachen (1844) und der Rechtswissenschaft (ab 1847). 1851 Eintritt in die Armee des Zarenreiches (Kaukasuskrieg, Krimkrieg 1854). 1862 Eheschließung mit Sofja Andrejewna, geb. Behrs (1844-1919); das Paar hatte insgesamt dreizehn Kinder (Hauptwohnsitz: Landgut Jasnaja Poljana bei Tula). Literarischen Weltruhm erlangte L. Tolstoi durch seine Romane "Krieg und Frieden" (1862-1869) und "Anna Karenina" (1873-1878). Ab einer tiefen Krise in den 1870er Jahren wurde die seit Jugendtagen virulente religiöse Sinnsuche zum "Hauptmotiv" des Lebens. Theologische bzw. religionsphilosophische Arbeiten markieren die Abkehr von einem auf dem Pakt mit der Macht erbauten orthodoxen Kirchentum (Exkommunikation 1901). Für Christen sah Tolstoi ausnahmslos keine Möglichkeit der Beteiligung an Staats-Eiden und Tötungsapparaten (Militär, Justiz, Todesstrafe, Herrschaftsideologie des Patriotismus, blutige Revolution mit Menschenopfern). Die in der Bergpredigt Jesu erkannte "Lehre vom Nichtwiderstreben" ließ ihn schließlich zu einem Inspirator Gandhis werden. Lackmusstext für den Wahrheitsgehalt aller Religionen waren für Tolstoi die Ablehnung jeglicher Gewalt und das Zeugnis für die Einheit der ganzen menschlichen Familie. Thomas Mann fand wenig Gefallen an der hochmoralischen "Kunsttheorie" und den (von Rosa Luxemburg z.T. durchaus geschätzten) Traktaten des späten Tolstoi, bemerkte aber - mit Blick auf die vielen Millionen Toten des Ersten Weltkriegs - 1928 anlässlich der Jahrhundertfeier von Tolstois Geburt: "Während der Krieg tobte, habe ich oft gedacht, dass er es nicht gewagt hätte auszubrechen, wenn im Jahre vierzehn die scharfen, durchdringenden grauen Augen des Alten von Jasnaja Poljana noch offen gewesen wären."
Foto: Wikipedia, Tolstoi 1908
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