Eins nach dem anderen. Bleiben Sie ruhig. Wenn Sie das hier lesen, bin ich nicht mehr da. Nehmen Sie den Hörer und drücken Sie die Eins. Dr. Randle wird sich melden, Sie müssen sofort zu ihr fahren. Sofort. Mit Bedauern und voller Hoffnung, gezeichnet der Erste Eric Sanderson. Als Eric Sanderson diesen Brief liest, erfaßt ihn panische Angst, Angst, die mit der Erkenntnis einhergeht, daß etwas sehr sehr Schlimmes passiert ist, daß er einen gravierenden Fehler gemacht hat. Eric zwingt sich also, ruhig zu bleiben, eins nach dem anderen: Wer ist er, und wo befindet er sich? Nur eins ist sicher er wird von einer unsichtbaren Macht verfolgt, die sein Leben bedroht. Aber vielleicht geschieht das alles ja nur in seinen Gedanken? Nach einer irrwitzigen, beinah tödlichen Begegnung entschließt Eric sich, den Ersten Eric Sanderson zu suchen
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.03.2007Und der Haifisch, der hat Pläne
Großes Kopfkino: Steven Halls Debütroman "Gedankenhaie"
Mit der Wucht einer Harpune - die hier schließlich auch dramatisch zum Einsatz kommt - zischt dieses Romandebüt durch die literarische Welt: Es handelt sich um Steven Halls enthemmte, die Welt der Zeichen zum Leben erweckende Improvisation über den Verlust. Nahezu zeitgleich mit dem britischen Original, "The Raw Shark Texts", erscheinen Übersetzungen in einundzwanzig Sprachen, an einer Verfilmung wird bereits gearbeitet. Ebenso an der Mythenbildung: Nicole Kidman, so liest man, soll den jungen Autor um eine Geschlechtsumwandlung des Protagonisten Eric Sanderson gebeten haben, um selbst die Hauptrolle übernehmen zu können. Das Interesse der Filmindustrie ist konsequent, denn dieser Roman mit seiner Vollgas-Poetik ist ganz von Hollywood her gedacht. Bei aller Verspieltheit (fünfzig leere Seiten etwa, aus deren Tiefen dem Leser ein Buchstabenhai entgegenschwimmt) schimmert bereits das Drehbuch durch. Hinzu kommt Halls Erzähltalent: Das Zusammenspiel von Humor und Tragik, anspruchsvoller Theorie und halsbrecherischer "Action" gelingt mühelos.
Verlust hat hier eine doppelte Bedeutung. Einerseits handelt es sich um den Verlust einer geliebten Person - Erics Freundin Clio kam drei Jahre vor Einsetzen der Handlung ums Leben -, andererseits um einen Erinnerungsverlust. Wiederholt wurde der Held bereits von totaler Amnesie (oder Verdrängung) befallen. Aus einer solchen erwacht er auch zu Beginn des Romans, besser gesagt: Er wird entfesselt: "Plötzlich klafften meine Augen auf wie zwei große O, krampfartig bogen sich Hals und Schulter nach hinten, und meine Lungen saugten in einem gigantischen Aufbäumen eine Welt voll Luft." Der Stil überwältigt den Inhalt, dahinter steckt System. Alle Musen zugleich werden nun mobilisiert, um die himmelschreiende Ungerechtigkeit des Faktischen - den Tod Clios - ins Irreale zu verrücken. Bei dem Versuch, die beiden Lesarten von "Geschichte" gegeneinander auszuspielen, so viel sei verraten, kommt auch der "Graue Schwammkopf-Geisterhai" ins Spiel, ein unberechenbarer Erinnerungsfresser. Heimisch ist er "im Strom menschlicher Interaktionen und in den Gezeiten von Ursache und Wirkung".
Der Leser folgt qua personaler Ich-Perspektive der kurvenreichen Spur oder Flucht des Helden durch seine ganz eigene Welt. Alles Geistige scheint sich hier materialisiert zu haben. Wenn sich auch wiederholt Hinweise finden, dass wir es mit den dekonstruktiven Schüben einer literarischen Psychose zu tun haben, so macht uns die extreme Innensicht doch zum Verbündeten des Helden. Auf eine "paranoide Konfabulation" (so der Arzt-Dichter Alfred Döblin über Gedächtnisstörungen, die mit Erfindungen überbrückt werden) deutet es, dass die aus "Fragmenten" hervorgehende, anrührende Liebesgeschichte Erics und Clios gänzlich "normal" wirkt. Die Haupthandlung aber ist viel zu spannend, die Erzählweise zu mitreißend, als dass man sich lange mit pathologischer Diagnostik aufhielte. Schließlich geht es hier nicht um die Ermordung von Butterblumen, sondern um eine eher an Giambattista Vico ("Wahr ist etwas, weil es fabriziert ist") anschließende Jagd auf die Ungeheuer des Geistes.
Nachdem Sanderson sich für einige Zeit mit seinem tristen Dasein abgefunden hat, begibt er sich doch wieder auf die Suche nach der Vergangenheit. Er trifft dabei auf eine Wiedergängerin Clios, nun Scout geheißen, die ihn in eine labyrinthische Welt inmitten des wörtlich-utopischen "Unraums" führt. In Gängen und Höhlen einer "Art Galgenberg", der vollständig aus beschriebenem Papier besteht, haust ein "Mad Professor", der dem verzweifelten, inzwischen aber auch wieder verliebten Helden neue Hoffnung macht. Der Versuch einer Verkehrung von Jäger und Opfer katapultiert die kleine Crew, zu der lustigerweise auch der absolut sinnfreie Kater Ian gehört, schließlich auf einen Haifänger. Hier kommt es zum großen Showdown, der eine einzige Verbeugung vor Steven Spielbergs "Weißem Hai" ist.
Im Kopfkino des Protagonisten scheinen allerdings zahlreiche Filme übereinanderprojiziert zu werden: Anleihen bei "Moby Dick", "Matrix", "Fight Club", "Sixth Sense", "Zurück in die Zukunft" oder "Indiana Jones" finden sich, aber auch - fast schon ärgerlicherweise - Versatzstücke aus Samuraifilmen und Klon-Thrillern. Reichlich unmotiviert nämlich betritt der sich selbst in exponentiellem Maße reproduzierende, andere Identitäten umprogrammierende Ward Mycroft die Szene: "Stell dir das vor, in jedem Haus, jeder Stadt, jedem Land der Welt nichts als Ward." Überhaupt explodieren bald die Bezüge und Andeutungen, was dem Buch eine manieristische Note verleiht: Neologismus-Sprachviren tauchen auf, ein zu nichts benutzter "Trüb" aus Tausenden von Konzeptfischen, ein Untoter namens "Nobody", ein Konzeptboot namens "Orpheus", eine Geheimgesellschaft namens "Shotai-Mu", die Evolutionstheorie, die String-Theorie, die Informationstheorie, die Kryptographie.
So entsteht eine Bedeutungsexuberanz, die ihresgleichen sucht. Die Philosopheme türmen sich zu einer Flutwelle auf, ohne dass man von einem philosophischen Roman sprechen könnte. Von Kohärenz keine Spur. Scheint der Erzähler trotz aller Modernität des technischen Equipments teils ein wackerer Platoniker zu sein, der sich von den Abbildern und Konzepten auf die Ebene der real existierenden Ideen erhoben hat ("Im Großen und Ganzen war die Orpheus zu einem realen, soliden, funktionstüchtigen Fischerboot geworden"), so schießt bald wieder ein harscher Nominalismus quer ("natürlich fand mein Kopf für all das lediglich Worte, Begriffe und Zeichen und keineswegs etwas Solides"), bevor eine Genietheorie übernimmt: "Das Genie entfernt sich so weit vom sicheren Land, dass sich das Wasser irgendwann in Glas verwandelt und Sie Dinge zu sehen bekommen, von denen normale Menschen nicht einmal träumen." Das Genie aber war immer schon des Wahnsinns Untermieter.
Ein Fazit: Wir haben hier einen Roman, der vielleicht ein Quentchen zu kalkuliert wirkt, seine Paul-Auster- oder Haruki-Murakami-Referenzen etwas zu deutlich ausstellt, dies aber durch ungestüme Energie und Kreativität wettmacht.
OLIVER JUNGEN
Steven Hall: "Gedankenhaie". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Marcus Ingendaay, Susanne Hornfeck und Sonja Hauser. Piper Verlag, München 2007. 432 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Großes Kopfkino: Steven Halls Debütroman "Gedankenhaie"
Mit der Wucht einer Harpune - die hier schließlich auch dramatisch zum Einsatz kommt - zischt dieses Romandebüt durch die literarische Welt: Es handelt sich um Steven Halls enthemmte, die Welt der Zeichen zum Leben erweckende Improvisation über den Verlust. Nahezu zeitgleich mit dem britischen Original, "The Raw Shark Texts", erscheinen Übersetzungen in einundzwanzig Sprachen, an einer Verfilmung wird bereits gearbeitet. Ebenso an der Mythenbildung: Nicole Kidman, so liest man, soll den jungen Autor um eine Geschlechtsumwandlung des Protagonisten Eric Sanderson gebeten haben, um selbst die Hauptrolle übernehmen zu können. Das Interesse der Filmindustrie ist konsequent, denn dieser Roman mit seiner Vollgas-Poetik ist ganz von Hollywood her gedacht. Bei aller Verspieltheit (fünfzig leere Seiten etwa, aus deren Tiefen dem Leser ein Buchstabenhai entgegenschwimmt) schimmert bereits das Drehbuch durch. Hinzu kommt Halls Erzähltalent: Das Zusammenspiel von Humor und Tragik, anspruchsvoller Theorie und halsbrecherischer "Action" gelingt mühelos.
Verlust hat hier eine doppelte Bedeutung. Einerseits handelt es sich um den Verlust einer geliebten Person - Erics Freundin Clio kam drei Jahre vor Einsetzen der Handlung ums Leben -, andererseits um einen Erinnerungsverlust. Wiederholt wurde der Held bereits von totaler Amnesie (oder Verdrängung) befallen. Aus einer solchen erwacht er auch zu Beginn des Romans, besser gesagt: Er wird entfesselt: "Plötzlich klafften meine Augen auf wie zwei große O, krampfartig bogen sich Hals und Schulter nach hinten, und meine Lungen saugten in einem gigantischen Aufbäumen eine Welt voll Luft." Der Stil überwältigt den Inhalt, dahinter steckt System. Alle Musen zugleich werden nun mobilisiert, um die himmelschreiende Ungerechtigkeit des Faktischen - den Tod Clios - ins Irreale zu verrücken. Bei dem Versuch, die beiden Lesarten von "Geschichte" gegeneinander auszuspielen, so viel sei verraten, kommt auch der "Graue Schwammkopf-Geisterhai" ins Spiel, ein unberechenbarer Erinnerungsfresser. Heimisch ist er "im Strom menschlicher Interaktionen und in den Gezeiten von Ursache und Wirkung".
Der Leser folgt qua personaler Ich-Perspektive der kurvenreichen Spur oder Flucht des Helden durch seine ganz eigene Welt. Alles Geistige scheint sich hier materialisiert zu haben. Wenn sich auch wiederholt Hinweise finden, dass wir es mit den dekonstruktiven Schüben einer literarischen Psychose zu tun haben, so macht uns die extreme Innensicht doch zum Verbündeten des Helden. Auf eine "paranoide Konfabulation" (so der Arzt-Dichter Alfred Döblin über Gedächtnisstörungen, die mit Erfindungen überbrückt werden) deutet es, dass die aus "Fragmenten" hervorgehende, anrührende Liebesgeschichte Erics und Clios gänzlich "normal" wirkt. Die Haupthandlung aber ist viel zu spannend, die Erzählweise zu mitreißend, als dass man sich lange mit pathologischer Diagnostik aufhielte. Schließlich geht es hier nicht um die Ermordung von Butterblumen, sondern um eine eher an Giambattista Vico ("Wahr ist etwas, weil es fabriziert ist") anschließende Jagd auf die Ungeheuer des Geistes.
Nachdem Sanderson sich für einige Zeit mit seinem tristen Dasein abgefunden hat, begibt er sich doch wieder auf die Suche nach der Vergangenheit. Er trifft dabei auf eine Wiedergängerin Clios, nun Scout geheißen, die ihn in eine labyrinthische Welt inmitten des wörtlich-utopischen "Unraums" führt. In Gängen und Höhlen einer "Art Galgenberg", der vollständig aus beschriebenem Papier besteht, haust ein "Mad Professor", der dem verzweifelten, inzwischen aber auch wieder verliebten Helden neue Hoffnung macht. Der Versuch einer Verkehrung von Jäger und Opfer katapultiert die kleine Crew, zu der lustigerweise auch der absolut sinnfreie Kater Ian gehört, schließlich auf einen Haifänger. Hier kommt es zum großen Showdown, der eine einzige Verbeugung vor Steven Spielbergs "Weißem Hai" ist.
Im Kopfkino des Protagonisten scheinen allerdings zahlreiche Filme übereinanderprojiziert zu werden: Anleihen bei "Moby Dick", "Matrix", "Fight Club", "Sixth Sense", "Zurück in die Zukunft" oder "Indiana Jones" finden sich, aber auch - fast schon ärgerlicherweise - Versatzstücke aus Samuraifilmen und Klon-Thrillern. Reichlich unmotiviert nämlich betritt der sich selbst in exponentiellem Maße reproduzierende, andere Identitäten umprogrammierende Ward Mycroft die Szene: "Stell dir das vor, in jedem Haus, jeder Stadt, jedem Land der Welt nichts als Ward." Überhaupt explodieren bald die Bezüge und Andeutungen, was dem Buch eine manieristische Note verleiht: Neologismus-Sprachviren tauchen auf, ein zu nichts benutzter "Trüb" aus Tausenden von Konzeptfischen, ein Untoter namens "Nobody", ein Konzeptboot namens "Orpheus", eine Geheimgesellschaft namens "Shotai-Mu", die Evolutionstheorie, die String-Theorie, die Informationstheorie, die Kryptographie.
So entsteht eine Bedeutungsexuberanz, die ihresgleichen sucht. Die Philosopheme türmen sich zu einer Flutwelle auf, ohne dass man von einem philosophischen Roman sprechen könnte. Von Kohärenz keine Spur. Scheint der Erzähler trotz aller Modernität des technischen Equipments teils ein wackerer Platoniker zu sein, der sich von den Abbildern und Konzepten auf die Ebene der real existierenden Ideen erhoben hat ("Im Großen und Ganzen war die Orpheus zu einem realen, soliden, funktionstüchtigen Fischerboot geworden"), so schießt bald wieder ein harscher Nominalismus quer ("natürlich fand mein Kopf für all das lediglich Worte, Begriffe und Zeichen und keineswegs etwas Solides"), bevor eine Genietheorie übernimmt: "Das Genie entfernt sich so weit vom sicheren Land, dass sich das Wasser irgendwann in Glas verwandelt und Sie Dinge zu sehen bekommen, von denen normale Menschen nicht einmal träumen." Das Genie aber war immer schon des Wahnsinns Untermieter.
Ein Fazit: Wir haben hier einen Roman, der vielleicht ein Quentchen zu kalkuliert wirkt, seine Paul-Auster- oder Haruki-Murakami-Referenzen etwas zu deutlich ausstellt, dies aber durch ungestüme Energie und Kreativität wettmacht.
OLIVER JUNGEN
Steven Hall: "Gedankenhaie". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Marcus Ingendaay, Susanne Hornfeck und Sonja Hauser. Piper Verlag, München 2007. 432 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Mächtig Eindruck hat Steven Halls Debütroman "Gedankenhaie" auf Oliver Jungen gemacht. "Großes Kopfkino" findet er hier vor. Von "Vollgas-Poetik" angetrieben, glaubt er dem Autor. Außerdem findet er in Halls Thriller um Eric Sanderson, der mit mehrfachem Gedächtnisverlust geschlagen das Verschwinden seiner Freundin aufklären will, zahlreiche Anspielungen auf Filme wie "Moby Dick", "Matrix", "Fight Club", "Sixth Sense", "Zurück in die Zukunft" oder "Indiana Jones" sowie auf etliche Samuraifilme und Klon-Thriller. Überhaupt wimmelt die verwickelte Geschichte nur so von Bezügen und Andeutungen, die in ihrer Häufung auf Jungen bisweilen ein wenig "manieriert" wirken. Nichtsdestoweniger rühmt er Halls Erzähltalent, das Humor und Tragik, Theorie und Action unterhaltsam zusammenbringt. Insgesamt wirkt der Roman auf ihn ein "Quentchen zu kalkuliert". Auch scheinen ihm die Paul-Auster- oder Haruki-Murakami-Referenzen "etwas zu deutlich" herausgestellt. Was der Roman für ihn durch "ungestüme Energie und Kreativität" allerdings wieder wettmacht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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