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Fast 500, größtenteils unbekannte Gedichte von Christine Lavant. Eine unvergleichliche Entdeckung.»Wer das, was er schreiben muss, zurückhält, ist vielleicht wie ein Weib, das seine Kinder vergräbt aus Angst, sie könnten dem lieben Nachbarn nicht gefallen«, stellte Christine Lavant fest. Die Kärntner Dichterin schrieb zeitlebens ca. 1.800 Gedichte. Nur gut ein Drittel davon hat Lavant auch veröffentlicht. Inhaltlich kühnere, formal riskantere Gedichte hielt sie zunächst zurück, und nach der Veröffentlichung ihres dritten großen Gedichtbandes »Der Pfauenschrei« (1962), als ihre dichterische…mehr

Produktbeschreibung
Fast 500, größtenteils unbekannte Gedichte von Christine Lavant. Eine unvergleichliche Entdeckung.»Wer das, was er schreiben muss, zurückhält, ist vielleicht wie ein Weib, das seine Kinder vergräbt aus Angst, sie könnten dem lieben Nachbarn nicht gefallen«, stellte Christine Lavant fest. Die Kärntner Dichterin schrieb zeitlebens ca. 1.800 Gedichte. Nur gut ein Drittel davon hat Lavant auch veröffentlicht. Inhaltlich kühnere, formal riskantere Gedichte hielt sie zunächst zurück, und nach der Veröffentlichung ihres dritten großen Gedichtbandes »Der Pfauenschrei« (1962), als ihre dichterische Stimme nahezu verstummt war, wollte sie von Veröffentlichung nichts mehr wissen. Viele Gedichte aus dem Nachlass zeigen ungeschützt und zugänglich, wo Lavants bildgewaltige Dichtung ihren Ausgang nimmt. Es ist eine Lyrik, von der Monika Rinck sagt, sie sei »die ungeheure Transformation von Schmerz und Leid in ein großes, kraftvolles und zuweilen immens komisches Werk«.Der dritte Band der vierbändigen Werkausgabe enthält eine Auswahl aus den nachgelassenen Gedichten aus allen Schaffensperioden, darunter auch das lange Zeit verschollene, erst kürzlich wieder entdeckte Erstlingswerk »Die Nacht an den Tag«, das 1948 zwar gesetzt, aber nie gedruckt wurde. Drei Viertel der hier versammelten Gedichte sind Erstveröffentlichungen, die übrigen wurden zuvor in diversen Nachlasspublikationen publiziert.
Autorenporträt
Christine Lavant (1915-1973), geb. als Christine Thonhauser in St. Stefan im Lavanttal (Kärnten) als neuntes Kind eines Bergmanns, war Lyrikerin und Erzählerin. Ihre Schulbildung musste sie aus gesundheitlichen Gründen früh abbrechen. Jahrzehntelang bestritt sie den Familienunterhalt als Strickerin. Sie erhielt u. a. den Georg-Trakl-Preis (1954 und 1964) und den Großen Österreichischen Staatspreis (1970). Seit 2014 erscheint eine Werkausgabe von Christine Lavant im Wallstein Verlag.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.05.2017

Vom Reichtum der armen Gedichte
Gottgefällig, gottverloren: Die nachgelassene Lyrik der großen Christine Lavant

Eines Tages - so könnte das Märchen einer Erweckung beginnen - bekam die arme Strickerin Christine einen Band Gedichte geschenkt: von Rilke, vermutlich das "Stundenbuch". Sie mochte sie zunächst nicht lesen, "weil man dabei nicht stricken kann". Als sie dann trotzdem las, überfiel sie die Inspiration. Es sei wie ein Wolkenbruch über sie gekommen, bekannte sie, und sie habe eine Weile fast Tag für Tag nur Gedichte geschrieben. Eine Dichterin war geboren: Christine Lavant, wie sie sich fortan nach ihrem Heimattal nannte.

Ihr bisheriges Leben war hart gewesen und blieb es bis zu ihrem Tod 1973. Christine Thonhauser, 1915 als neuntes Kind eines Kärntner Bergmanns geboren, war skrofulös, schwerhörig, schwachsichtig und konnte nur mit Unterbrechungen die Schule besuchen. Der Tod der Eltern kurz nacheinander traf sie tief und unterbrach ihre Schreibversuche für viele Jahre. 1939 heiratete sie einen sehr viel älteren Maler und blieb weiter aufs Stricken angewiesen. Dann geschah ihre Entdeckung: Die Schriftstellerin Paula Grogger hatte dem Verleger Viktor Kubczak einige Gedichte vorgelegt, und nach einigen Verzögerungen kam die literarische Karriere in Gang. Später, auf dem Höhepunkt ihres Schaffens, fand Christine Lavant die Formel für ihre Existenz: "Kunst wie meine ist nur verstümmeltes Leben."

Dieses verstümmelte Leben wurde kompromisslos für die Kunst gelebt; es führte zu Hauptwerk und Nachlass. Schließlich zu einer Werkausgabe, wie sie jetzt im Wallstein Verlag erscheint. Immerhin sagte Thomas Bernhard von dieser Dichterin, sie "ist eine der wichtigsten und sie verdient, in der ganzen Welt bekannt gemacht zu werden". Dabei war es nicht einmal leicht, sie in Österreich bekannt zu machen. Doch seit den Bänden "Die Bettlerschale" (1956), "Spindel im Mond" (1959) und "Der Pfauenschrei" (1962) galt Lavant als große Dichterin, abseits von Moderne und Avantgarde. Um ihren Erfolg machte sich ihr väterlicher Freund, der Publizist Ludwig von Ficker, verdient. Er verschaffte ihr Auszeichnungen, darunter zweimal den Georg-Trakl-Preis. Nicht minder wichtig war der Verlag Otto Müller, der die Bücher der frommen Empfindung anpasste. Lavant selbst bemerkte, dass man in Deutschland gern das druckte, was man in Salzburg zurückgewiesen hatte.

Nach 1962 verschlechterte sich der Gesundheitszustand der Dichterin; sie musste für längere Zeit in ein Pflegeheim. Ungedruckte Gedichte gab sie nicht mehr frei. "Ich hab mich ausgeschrieben", vertraute sie einem Freund an, und Hilde Domin erfuhr: "Mir graut es vor meinen Gedichten und eigentlich vor meiner Kunst." Doch sammelte sie ihre Manuskripte in Schachteln und Mappen und setzte ihren Neffen Armin Wigotschnig als Erben und Verwalter ein. Nichts sollte verloren gehen. Skrupel gegen die eigene Produktion waren Lavant fremd. Sie meinte: "Arme Gedichte wollen schließlich auch ,leben'. Wer das, was er schreiben muß, zurückhält, ist vielleicht wie ein Weib, das seine Kinder vergräbt aus Angst, sie könnten dem lieben Nachbarn nicht gefallen."

Christine Lavant, die kinderlose Frau, liebte ihre poetischen Geschöpfe. Dank dieser Einstellung und der Fülle der Überlieferung bringt der Nachlassband nun an die fünfhundert Gedichte; davon 365 Erstveröffentlichungen, die übrigen stammen aus früheren Nachlasspublikationen. Eine kleine Sensation ist, dass zu Anfang des Bandes ein ganzes ungedrucktes Gedichtbuch steht: "Die Nacht an den Tag". 1948 lag es schon als Korrekturabzug vor, doch der Druck scheiterte an den Verwirrungen der Nachkriegszeit, mit denen der aus Breslau geflohene Verleger Kubczak zu kämpfen hatte. Später hatte die Dichterin die Freude an ihm verloren: "Ich kann den Schund halt nimmer anschauen!"

Wie zu erwarten, steht "Die Nacht an den Tag" stark unter Rilkes Einfluss. Lavant dichtet virtuos den Ton des "Stundenbuchs" weiter. Er tönt aus Anfängen wie "Und manchmal hört man Gott vorübergehn!", "Er kommt zu Betern oft so ungewiss" oder "Er rundet uns so wie ein alter Töpfer". Doch gibt es auch Gedichte, in denen Lavant Rilke hinter sich lässt und von ihren alltäglichen Erfahrungen spricht. An Stellen, wo es um Armut und Elend geht, wagen sich auch die Gotteszweifel ans Licht: "Ob der liebe Gott bestimmt allmächtig ist? / Und ob er am Ende nicht doch vergisst, / dass die Mutter kein Geld für die Milch hat?"

In den späteren Passagen des Nachlasses wird die Gottesproblematik zentral. Was Ficker formelhaft "Lästergebete" genannt hatte, erscheint als eine Folge von Beschwörungen und Verdammungen, Hymnen und Blasphemien. Vieles ist ungeschützter und radikaler als in den zu Lebzeiten publizierten Bänden. In einem Abendgebet stehen "die erste Puppe und der liebe Gott" nebeneinander. Die Erlösungsgeschichte Jesu wird als bloße Erfindung angesehen: "Was hilft es mir dass einst ein Menschensohn / als Brot sich anbot - welch verrückte Sage." Gott selbst gilt als menschliche Projektion: "Gott - wenn ich ihn jeweils erfände."

Schwerlich lässt sich aus solch divergenten Aussagen ein System bilden. Solange das Dichten lebensmöglich ist, bleibt es für Lavant eine Art Selbsterlösung. "Alle Gnade liegt nur bei mir / und in dem Entschluss mich ganz ohne Beistand / innig von selbst zu beseelen." Damit ist nicht nur Gott in Frage gestellt, sondern auch das Dichten, ja das Gespräch über ihn. Schon 1959 schrieb Lavant, gleichsam vorausgreifend: "Immer mehr komme ich darauf, daß alles, was auf Gott und den Glauben Bezug hat, den Worten nach kaum je trocken und nüchtern genug gesagt werden kann."

Gleichsam kompensatorisch gibt es in den nachgelassenen Gedichten einen Realismus der Alltagswelt, der sich als veristische Bukolik äußert. Einmal klagt Lavant über ihren Ofen, der nicht zieht: "Mein kleiner Ofen bockt die ganze Zeit / und speit mir Rauch und Asche in die Augen." Und am Schluss des Gedichts ist sie es, die ihr warmes Herz in seine Nähe bringt. Zweimal wird der "Blaue Zug" beschworen, der in die große Stadt fährt; dabei ist er nichts anderes als ein Dieseltriebwagen der fünfziger und sechziger Jahre. Selbst die damalige Medienwelt ist präsent. Einmal heißt es ziemlich rätselhaft "Ein Blinder empfiehlt sich den tauben Ohren / durch das Lied von der Nordseeschwalbe." Eine Anmerkung hilft uns auf die Sprünge: Es war Hans Albers, der anno 1951 von der "kleinen Nordseeschwalbe" sang.

Der Nachlass zeigt nicht zuletzt, wie wenig Rücksicht Lavant auf Verständlichkeit und Publizierbarkeit ihrer Gedichte nahm. Auch ihre Selbstbekenntnisse haben eine gewisse Ungeniertheit. Nicht ohne Koketterie beginnt sie ein Gedicht mit dem Geständnis: "Ich bin ein einfaches und durchtriebenes Geschöpf." Thomas Bernhard, der sie seit 1956 kannte und 1987 die schöne Auswahl "Gedichte" veröffentlichte, muss diesen Vers im Kopf gehabt haben, als er an seine Lektorin Elisabeth Borchers schrieb: "Die Lavant ist eine völlig ungeistige, sehr gescheite, durchtriebene. Sie wohnt auf der Betondecke eines Supermarktes an einer Strassenkreuzung in Wolfsberg mit einer Riesentankstelle und tippt ihre Gedichte gleich in die Maschine. Das ist für mich grossartiger, als das verlogene Weltfremdmärchen mit katholischer Talschlussromantik, das gottbefohlene, das um sie bis heute immer verbreitet worden ist." Damals, im März 1987, war die Dichterin schon vierzehn Jahre tot, aber für Bernhard blieb sie gegenwärtig und tippte weiter. Da möchte man meinen, dass sie es noch immer tut. Jedenfalls sind ihre Gedichte immer noch lebendig.

HARALD HARTUNG

Christine Lavant: "Gedichte aus dem Nachlass".

Hrsg. von Doris Moser und Fabjan Hafner unter Mitarbeit von Brigitte Strasser. Mit einem Nachwort von Doris Moser. Wallstein Verlag, Göttingen 2017. 649 S., geb., 38,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.08.2017

Weil ich nichts bereu
Dichterin der Demut? Christine Lavants „Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus“ und Nachlass-Gedichte zeigen sie als Rebellin
„Warum, wenn es Engel gibt, obliegt keinem davon die Aufgabe, Dinge, die erst in der äußersten Hölle vorkommen dürften, hier auf Erden zu verhindern.“ Solche Sätze kann man als naiv belächeln. Man kann sie auch defätistisch nennen. Ihr revolutionärer Imperativ bleibt. „Da schreibe ich nun dies mit gewöhnlichen Worten“, heißt es weiter, „und müsste eigentlich die Mauern hier Stein für Stein abbrechen, um jeden einzelnen gegen den Himmel zu werfen.“ Die da auf der Schwelle zwischen Wort und Tat zu zögern scheint, nennt sich Christine Lavant und sollte neben der Droste, der Günderode und Dichtern wie Georg Heym und Nicolas Born längst in den Kanon der deutschsprachigen Literatur aufgenommen sein.
Als Christl Thonhauser wurde Christine Lavant, 1915 geboren. Sie war das hochbegabte, ewig sieche Kind einer armen Kärntner Bergarbeiterfamilie und litt bis zu ihrem Tod im Jahr 1973 unter den Folgen von Krankheit, Armut und ihrer zwiespältigen Rolle als Künstlerin in der katholischen Provinz der vergifteten Kriegs- und Nachkriegszeit in Österreich. Bis heute werden ihre Werke aus dem Einfallswinkel des männlichen Blicks gelesen, den ja Frauen durchaus auch beherrschen. Gern gesteht man der „Schmerzensfrau“ das Schreiben zu, aber nur als Therapie.
Verehrt wird sie für ihre „Urwüchsigkeit“, dabei war Christine Lavant belesen. Ihre Literatur ist gearbeitet und nicht ergossen, politisch und nicht naiv. Rebellin von Beginn an, war sie der amoralischen Wahrnehmung ebenso fähig wie einer fundamental humanen Haltung. Sie hat einige der energetischsten Gedichte und Prosatexte der modernen deutschsprachigen Literatur geschrieben. Das zeigen ihre „Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus“ und der dritte Band der Werkausgabe mit den „Gedichten aus dem Nachlass“, der 365 Gedichte zum ersten Mal veröffentlicht.
Die „Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus“, die erstmals 2001 veröffentlicht wurden, verhindern die Fehlwahrnehmung der Dichterin als Klageweib, das demütig um Gottes Liebe fleht. 1946, elf Jahre nach ihrem Aufenthalt in der Klagenfurter Psychiatrie, hat sie diese Aufzeichnungen „in Form gebracht“. Diese Form – ein fantastisch-fragmentarisch verschärfter Realismus, ein innerer Monolog als Dialog zwischen vergesellschaftetem und anarchischem Ich – steht eher in einer Traditionslinie mit Kafka und Dostojewski als mit den auf Authentizität fixierten literarischen Krankenberichten unserer Tage.
Auslöser für die „Aufzeichnungen“, so vermutet es der Herausgeber Klaus Amann, dürfte der Klagenfurter Prozess um die „Euthanasiemorde“ im Jahr 1946 gewesen sein. Nur fünf Jahre nach Lavants Aufenthalt in der „Landes-Irrenanstalt“ begann dort ein Töten, dem 1500 Menschen zum Opfer fielen. Lavant bezieht sich darauf nicht direkt, aber ihr Text setzt den Patientinnen von damals ein Denkmal und den Nachgeborenen ein Mahnmal, das an die Mechanismen entfesselter Hierarchien erinnert. Wenn die Ärzte „ihr Visitlächeln“ nur selten „ein wenig ins Menschliche abbiegen“ und nur zahlende Gäste mit Messer und Gabel essen und die Tür beim Baden schließen dürfen, wird ahnbar, was sich hier entfesseln lässt.
Die „Aufzeichnungen“ sind aber auch der Selbstentwurf einer Schriftstellerin: „Um nicht roh zu erscheinen“, schreibt Christine Lavant nach dem Zusammenbruch einer Mitpatientin, „musste ich so tun als ob es mich tatsächlich angriffe, aber in Wahrheit hätte ich mir lieber alles ganz genau angesehen. So schoben sie mich in den Waschraum, wo ich dann auch pflichtschuldigst einen Weinkrampf bekam.“ Vom Drang „alles ganz genau“ zu betrachten, was andere diskret übersehen, berichten viele Schriftsteller. Das Diskretionsgebot und sein Bruch, die „Schamlosigkeit“ und „grauenhafte Selbstpreisgabe“, wie Lavant es nennt, bestimmen eine der Unterströmungen ihres Werkes, den typisch österreichischen und typisch weiblichen Widerspruch, autonome Schriftstellerin zu sein und zugleich von Nachbarn und Verwandten geliebt werden zu wollen, nicht auszuscheren und nicht aufzufallen.
Für die „Aufzeichnungen“ habe ihr Verleger einen „frommen“ Schluss gewünscht, so Christine Lavant in einem Brief, und meinte selbst, dass ihnen der „zärtliche Schmelz des Duldens“ fehle. Vielen der zum großen Teil bisher unveröffentlichten „Gedichte aus dem Nachlass“ fehlt der „zärtliche Schmelz des Duldens“ so auffallend, dass die zu Lebzeiten veröffentlichten Gedichte in einem anderen Licht erscheinen. Dieses Licht Selbstzensur zu nennen, wäre wohl zu viel, aber die Sammlungen, in die der Band unterteilt ist, zeigen, wie Christine Lavant die Auswahl jeweils auf die Adressaten abgestimmt hat. Sie verschenkte sie nämlich und sandte sie zur Aufbewahrung an Freunde wie den Maler Werner Berg, mit dem sie nach ihrem Auftritt bei den St. Veiter Literaturtagen 1950 eine fünf Jahre währende Liebesgeschichte verband. Oder an Ingeborg Teuffenbach, eine NS-Schriftstellerin, und Otto Scrinzi, ihren letzten Psychiater, der am Institut für Erb- und Rassenbiologie in Innsbruck gearbeitet hat.
Die Verbindung zu Nazi-Größen irritiert bei einer so reflektierten Frau, die durchaus zu den Gefährdeten gehört haben dürfte und spiegeln sich möglicherweise auch in Gedichten, wie „Wo treibt mein Elend sich herum?“, dem Marlene Streeruwitz eine „Sprache der Ausgrenzung“ und des problematischen „Fühldenkens“ nachgewiesen hat. Frappierend ist, welch unterschiedliche Gesichter Christine Lavant in den Sammlungen zeigt. In den Gedichten an Ingeborg Teuffenbach dominiert ein Gestus dankbarer Unterwerfung: „Bin voll Furcht zu dir gekommen“. Die Gedichte an Werner Berg sind freier, aber oft metaphorisch überfrachtet („Wie eine kleine, halbwilde Löwin / überspringt meine Hoffnung / den Bogen des Monds“), in einigen Liebesgedichten auch nah am Klischee des Geliebten, der das Herz gestohlen hat.
Die „unzarte Sprache“, die Lavants Vertrauter Werner Berg bewunderte, zeigt sich in den Gedichten, die den Hauptanteil des Nachlasses ausmachen: die Gedichte, die Christine Lavant für sich behielt, wie diejenigen, die für ihren allerersten Gedichtband „Nacht an den Tag“ vorgesehen waren, der nie veröffentlicht wurde. Man überliest beinahe, dass die Anmut der Bilder und die Geschmeidigkeit der Reime und des Rhythmus’ permanent von einem gewaltsamen Subtext gebrochen wird, so gekonnt beherrscht Lavant die Nuancen der Sprache. Im Eröffnungsgedicht „Nacht an den Tag“ ordnen die Verse sich um den Blick eines „mondenen Auges“, das die Ruhe und Gleichmut der Nacht ausstrahlt, aber eben auch „schmalgesichelt“ in des Tages „Gezelt“ dringt. Die Sichel richtet sich sowohl gegen die Sprecherin als auch gegen den unerreichbaren Geliebten.
Schon in einem frühen Gedicht wie „An den verweigerten Gott“ zeigt sie sich bei aller Beschwörung des Allmächtigen und seiner Gemeinschaft dem Angebeteten gegenüber souverän, reimt „beten“ auf „betreten“, „Licht“ auf „zerbricht“ und verschiebt peu à peu die Akzente so, dass am Ende das zweifelnde, sehnende Ich die göttliche Instanz herausfordert. Die Bildsprache und das Changieren der Gedichte zwischen Moral und Amoral zeigen die Nähe ihrer Autorin zu Geistesverwandten der Avantgarde. Die kurzen, oft vierhebigen Verse, der Kreuz-, Paar- und programmatisch umarmende Reim zeigen die Nähe zur Volksdichtung, die ja auch oft unheimlich doppelbödig ist, gerade da, wo sie naiv erscheint. Obacht also vor den lavantschen Diminutiven. Auf der anderen Seite ist aber auch echt, was Christine Lavant 1963 in einem Brief an Otto Scrinzi ihren „basso continuo“ nennt: „Scham, Ekel und Angst“ sowie „Schuld und Entsetzen und Unvermögen“. Die Dichtung dürfte für Christine Lavant beides sein, die Materialisierung all ihrer Schuldgefühle und deren Überwindung: „Fast in jedem Traum / kommt mich große Angst versuchen / vor den Stimmen, die mir fluchen, / weil ich nichts bereu.“
Wer in Zukunft die Gedichte Christine Lavants lesen möchte, sollte an die Sichtweise Thomas Klings denken, der in „Botenstoffe“ der „berserkerhaften“, „randalierenden“ Lavant huldigte. Ebenso aber auch an ihre verletzte, geschundene, auch problematisch angepasste Seite. Dem Wallstein Verlag sowie Doris Moser und Fabjan Hafner, die als Herausgeber die Gedichtbände mit kluger Umsicht kommentiert haben, ist ein Schritt in Richtung Kanonisierung gelungen. Jetzt muss die Lavant nur noch gelesen werden. Am besten von allen.
INSA WILKE
Christine Lavant: Gedichte aus dem Nachlass. Herausgegeben von Doris Moser und Fabjan Hafner unter Mitarbeit von Brigitte Strasser. Mit einem Nachwort von Doris Moser. Wallstein Verlag, Göttingen 2017. 654 Seiten, 38,80 Euro. E-Book 30,99 Euro.
Christine Lavant: Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus. Herausgegeben von Klaus Amann. Wallstein Verlag, Göttingen 2016. 140 Seiten, 16,90 Euro. E-Book 13,99 Euro.
Die „Schamlosigkeit“ und
„grauenhafte Selbstpreisgabe“
sind eine ständige Unterströmung
Thomas Kling huldigte der
„berserkerhaften“, der
„randalierenden“ Dichterin
Christine Lavant, 1915 als Christl Thonhauser geboren, starb 1973.
Foto: Privat
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»Ihr Eigensinn und ihre Singularität stellt sie in eine Reihe mit Sappho, Günderode, Droste und Lasker-Schüler.« (Deutschlandradio Kultur, 23.04.2017) »Jetzt muss die Lavant nur noch gelesen werden. Am besten von allen.« (Insa Wilke, Süddeutsche Zeitung, 18.08.2017) »Ein melancholischer Blues schwingt in ihren Versen, gehalten vom "Garn der Saturnjahre"« (Björn Hayer, Berliner Zeitung, 13.01.2018) »Der editorisch erneut so wohlgelungene vorletzte Band der Werkausgabe könnte Christine Lavant gleichsam posthum entfesseln.« (Wolfgang Albrecht, Informationsmittel (IFB), 25 (2017)) »viele große Gedichte, die sich hier finden lassen« (Vincent Sauer, www.fixpoetry.com, 18.04.2017) »Christine Lavants 'Gedichte aus dem Nachlass' sind ohne Zweifel eine Entdeckung für die Lyrik unserer Zeit.« (Andreas Puff-Trojan, Ö1 Ex libris, 21.05.2017) »die übergroße Mehrheit ist (...) großartig, einzigartig, solitär« (Jan Kuhlbrodt, www.signaturen-magazin.de, 30.05.2017) »Nun ist es der Verdienst des Wallstein-Verlags, dass Christine Lavant aus dem Vergessen geholt wird.« (Petra Haase, Lübecker Nachrichten, 26.07.2017) »wahrlich ein literarischer Schatz ohnegleichen« (Passauer Neue Presse, 22.08.2017) »für Lavant-Fans und LyrikliebhaberInnen, die sich vertieft mit ihrem Werk auseinandersetzen wollen (...) ein Muss« (Sabine Reifenauer, Weiber Diwan, Sommer 2017) »Die Gedichte sind voller Bildgewalt, führen mitten hinein in ein Leben voller Zweifel, innerer Spannungen und seelischer Leiden.« (Reichenhaller Tagblatt, 18.09.2017) »Eine Entdeckung.« (Marianne Fischer, Kleine Zeitung, 07.12.2017) »Ihre Gedichte verdienen es, immer wieder entdeckt zu werden.« (Maria Renhardt, Die Furche, 15.03.2018) »hat mich in den letzten Jahren am meisten beeindruckt und nachhaltig wirklich tief bewegt« (Stefan Thurner, Die Presse, 15.12.2018) »eine wunderschöne Werkausgabe« (Robert Leiner, Bücherschau, Februar 2019)…mehr