Produktdetails
- insel taschenbuch 2423
- Verlag: Insel Verlag
- Seitenzahl: 116
- Deutsch
- Abmessung: 10mm x 123mm x 189mm
- Gewicht: 141g
- ISBN-13: 9783458341239
- ISBN-10: 3458341234
- Artikelnr.: 09923981
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.12.1995Leid des Epigonen
Der Lyriker Hans Carossa / Von Walter Hinck
Nie wieder hat Hans Carossa seine künstlerische Ausgangssituation so klar beschrieben wie in einem fast noch schülerhaften Gedicht aus dem Jahr 1897. Der Neunzehnjährige fühlt sich erdrückt vom "Überschwall der Fülle", mit dem die großen Dichter der Vergangenheit die Schönheit "erschöpft" haben und die Kinder eines Jahrhunderts einschüchtern, dem kaum etwas "zu erringen" bleibt. "Epigonenleid" heißt das Gedicht, und es gehört zur "Nachlese" der gesammelten (sowohl zu Lebzeiten veröffentlichten wie im Nachlaß gefundenen) Gedichte Carossas, die seine Tochter Eva Kampmann-Carossa jetzt herausgegeben und kommentiert hat.
Tatsächlich ist das Los des Epigonen Carossas Bürde: Er findet den "lebendig vorhandenen Kreis menschlicher Gefühle und Schicksale durchgearbeitet" (Goethe), und das Erbe wird ihm aufgezwungen. Carossa wählt den Weg derer, die dieses Erbe nicht einfach ausschlagen, es vielmehr produktiv umzuwandeln versuchen. Er gesellt sich also nicht zu den Formzertrümmerern und Neulandsuchern - die expressionistische Aufbruchsbewegung geht spurlos an ihm vorüber -, sondern bleibt im Gehege der Überlieferung. Sein Balanceakt, die Fesseln des Epigonentums abzustreifen und doch der Avantgarde nicht nachzueilen, kann gelingen, weil er wichtige Ratgeber und Freunde findet: Hugo von Hofmannsthal, Richard Dehmel und Alfred Mombert, den George-Schüler Karl Wolfskehl, den Graphiker Alfred Kubin und, nicht zu vergessen, die Insel-Verleger Katharina und Anton Kippenberg.
Dehmel bescheinigt dem jungen Carossa, weit weniger vom "Bildungsbettel der epigonalen Phrase" zu zehren als er selbst vor fünfundzwanzig Jahren. Dennoch hört man überall in den frühen Gedichten und Hymnen das Echo der Goethezeit: in der Hymne "An die Natur" aus Klopstocks "Der Zürchersee" und Goethes "Maifest", in anderen Texten aus Goethes "Prometheus" oder "An Schwager Kronos", "Herbstgefühl" oder "Selige Sehnsucht". Viele der frühen Gedichte Carossas sind talentierte Improvisationen über Themen und rhythmische Motive seines großen Vorbilds.
Aus der bloßen Goethe-Nachahmung hat sich Carossa als ein Goetheaner im Geist befreit. Die ganze Spannbreite wird sichtbar, wenn man gegen die frühen Hymnen und Naturgedichte die "Abendländische Elegie" von 1943 stellt, sein Plädoyer für eine besonnene, nicht auf Gedeih und Verderb hörige Liebe zum Erbe ("O Abendland, so reich in der Verarmung,/ Blick auf, laß das Vergängliche vergehn!/... Wer alles retten möchte, rettet nichts"). In der allgemeinen Maxime teilt sich der eigene Schaffensgrundsatz mit: daß alles "Bewahren" immer wieder den "reinen Anfang" braucht. Carossas eigentliches poetisches Revier sind die Natur und die Tages- und Jahreszeiten mit der unendlichen Vielfalt des oszillierenden Lebens. Aber in der Zeit des Ersten Weltkrieges weitet sich der Gattungsrahmen auch zum großen weltbetrachtenden Gedicht. Vom "Lebenslied" beeindruckt ist Rilke, der Mitautor des Insel Verlags. Und Werner Heisenberg hat später die "natürliche Verbindung von Physik und Erlebnis" bei Carossa gerühmt.
Die Kriegserfahrungen drängen vor allem zum Prosanotat ("Rumänisches Tagebuch", 1924), aber gelegentlich auch zur poetischen Form, so in Gedichten wie "Flucht" oder "Das Mädchen von Dobrowlany", die das Elend der Kriegsflüchtlinge oder die stille Menschlichkeit einer "kleinen galizischen Antigone" festhalten. Schon zu einem 1914 entstandenen Gedicht zitiert Carossa Sophokles' Verse "Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da". Das Gegenwort zu den "Haßgesängen an England und Frankreich" (in einem Brief vom 13. April 1915) zu einer Zeit, da so viele deutsche Dichter dem chauvinistischen Rausch erlagen, nimmt bereits Carossas Opposition zur Hitlerdiktatur vorweg.
Zu jenen Autoren der inneren Emigration allerdings, die mit ihrer Literatur den Widerstand unter der Gefahr - und auch um den Preis - des Lebens wagten, zählt Carossa nicht. "Eignem Dunkel, eigner Last" wird sich der Dichter nach dem Krieg bewußt ("Der volle Preis. Mai 1945"). Aber Rechenschaft legt er im 1951, fünf Jahre vor seinem Tod, erschienenen "Lebensbericht" ab. Als Lyriker bleibt er auch hier einer der "Stillen im Lande", glaubt nur "ein einsam Selbstgericht" suchen zu müssen.
Immerhin ist die "Abendländische Elegie", das Gegenzeugnis zur Welt der Gewalt, während der letzten Jahre des "Dritten Reichs" illegal in Abschriften verbreitet worden. Die Gedichte Carossas, die nun - bis auf "Belangloses" aus der Jugendzeit und allzu Bruchstückhaftes aus der Spätzeit - vollzählig vorliegen, und zwar einschließlich ihrer Varianten, sind Versuche, zur "Essenz seiner Natur" vorzustoßen. "Was du gesammelt hast an Waffen und Geschmeid", heißt es im "Lebenslied", "Die Masken auch, durch die sich oft das Leben hält,/ Laß alles hier!"
Hans Carossa: "Gedichte. Die Veröffentlichungen zu Lebzeiten und Gedichte aus dem Nachlaß". Herausgegeben und kommentiert von Eva Kampmann-Carossa. Insel Verlag, Frankfurt am Main 1995. 354 S., geb., 58,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Lyriker Hans Carossa / Von Walter Hinck
Nie wieder hat Hans Carossa seine künstlerische Ausgangssituation so klar beschrieben wie in einem fast noch schülerhaften Gedicht aus dem Jahr 1897. Der Neunzehnjährige fühlt sich erdrückt vom "Überschwall der Fülle", mit dem die großen Dichter der Vergangenheit die Schönheit "erschöpft" haben und die Kinder eines Jahrhunderts einschüchtern, dem kaum etwas "zu erringen" bleibt. "Epigonenleid" heißt das Gedicht, und es gehört zur "Nachlese" der gesammelten (sowohl zu Lebzeiten veröffentlichten wie im Nachlaß gefundenen) Gedichte Carossas, die seine Tochter Eva Kampmann-Carossa jetzt herausgegeben und kommentiert hat.
Tatsächlich ist das Los des Epigonen Carossas Bürde: Er findet den "lebendig vorhandenen Kreis menschlicher Gefühle und Schicksale durchgearbeitet" (Goethe), und das Erbe wird ihm aufgezwungen. Carossa wählt den Weg derer, die dieses Erbe nicht einfach ausschlagen, es vielmehr produktiv umzuwandeln versuchen. Er gesellt sich also nicht zu den Formzertrümmerern und Neulandsuchern - die expressionistische Aufbruchsbewegung geht spurlos an ihm vorüber -, sondern bleibt im Gehege der Überlieferung. Sein Balanceakt, die Fesseln des Epigonentums abzustreifen und doch der Avantgarde nicht nachzueilen, kann gelingen, weil er wichtige Ratgeber und Freunde findet: Hugo von Hofmannsthal, Richard Dehmel und Alfred Mombert, den George-Schüler Karl Wolfskehl, den Graphiker Alfred Kubin und, nicht zu vergessen, die Insel-Verleger Katharina und Anton Kippenberg.
Dehmel bescheinigt dem jungen Carossa, weit weniger vom "Bildungsbettel der epigonalen Phrase" zu zehren als er selbst vor fünfundzwanzig Jahren. Dennoch hört man überall in den frühen Gedichten und Hymnen das Echo der Goethezeit: in der Hymne "An die Natur" aus Klopstocks "Der Zürchersee" und Goethes "Maifest", in anderen Texten aus Goethes "Prometheus" oder "An Schwager Kronos", "Herbstgefühl" oder "Selige Sehnsucht". Viele der frühen Gedichte Carossas sind talentierte Improvisationen über Themen und rhythmische Motive seines großen Vorbilds.
Aus der bloßen Goethe-Nachahmung hat sich Carossa als ein Goetheaner im Geist befreit. Die ganze Spannbreite wird sichtbar, wenn man gegen die frühen Hymnen und Naturgedichte die "Abendländische Elegie" von 1943 stellt, sein Plädoyer für eine besonnene, nicht auf Gedeih und Verderb hörige Liebe zum Erbe ("O Abendland, so reich in der Verarmung,/ Blick auf, laß das Vergängliche vergehn!/... Wer alles retten möchte, rettet nichts"). In der allgemeinen Maxime teilt sich der eigene Schaffensgrundsatz mit: daß alles "Bewahren" immer wieder den "reinen Anfang" braucht. Carossas eigentliches poetisches Revier sind die Natur und die Tages- und Jahreszeiten mit der unendlichen Vielfalt des oszillierenden Lebens. Aber in der Zeit des Ersten Weltkrieges weitet sich der Gattungsrahmen auch zum großen weltbetrachtenden Gedicht. Vom "Lebenslied" beeindruckt ist Rilke, der Mitautor des Insel Verlags. Und Werner Heisenberg hat später die "natürliche Verbindung von Physik und Erlebnis" bei Carossa gerühmt.
Die Kriegserfahrungen drängen vor allem zum Prosanotat ("Rumänisches Tagebuch", 1924), aber gelegentlich auch zur poetischen Form, so in Gedichten wie "Flucht" oder "Das Mädchen von Dobrowlany", die das Elend der Kriegsflüchtlinge oder die stille Menschlichkeit einer "kleinen galizischen Antigone" festhalten. Schon zu einem 1914 entstandenen Gedicht zitiert Carossa Sophokles' Verse "Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da". Das Gegenwort zu den "Haßgesängen an England und Frankreich" (in einem Brief vom 13. April 1915) zu einer Zeit, da so viele deutsche Dichter dem chauvinistischen Rausch erlagen, nimmt bereits Carossas Opposition zur Hitlerdiktatur vorweg.
Zu jenen Autoren der inneren Emigration allerdings, die mit ihrer Literatur den Widerstand unter der Gefahr - und auch um den Preis - des Lebens wagten, zählt Carossa nicht. "Eignem Dunkel, eigner Last" wird sich der Dichter nach dem Krieg bewußt ("Der volle Preis. Mai 1945"). Aber Rechenschaft legt er im 1951, fünf Jahre vor seinem Tod, erschienenen "Lebensbericht" ab. Als Lyriker bleibt er auch hier einer der "Stillen im Lande", glaubt nur "ein einsam Selbstgericht" suchen zu müssen.
Immerhin ist die "Abendländische Elegie", das Gegenzeugnis zur Welt der Gewalt, während der letzten Jahre des "Dritten Reichs" illegal in Abschriften verbreitet worden. Die Gedichte Carossas, die nun - bis auf "Belangloses" aus der Jugendzeit und allzu Bruchstückhaftes aus der Spätzeit - vollzählig vorliegen, und zwar einschließlich ihrer Varianten, sind Versuche, zur "Essenz seiner Natur" vorzustoßen. "Was du gesammelt hast an Waffen und Geschmeid", heißt es im "Lebenslied", "Die Masken auch, durch die sich oft das Leben hält,/ Laß alles hier!"
Hans Carossa: "Gedichte. Die Veröffentlichungen zu Lebzeiten und Gedichte aus dem Nachlaß". Herausgegeben und kommentiert von Eva Kampmann-Carossa. Insel Verlag, Frankfurt am Main 1995. 354 S., geb., 58,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main