Produktdetails
  • Gesammelte Werke in Einzelbänden
  • Verlag: Aufbau-Verlag
  • Seitenzahl: 539
  • Abmessung: 195mm
  • Gewicht: 572g
  • ISBN-13: 9783351023133
  • Artikelnr.: 26364541
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.12.1996

Gelage des Lichts
Zweite Geburt erwünscht: Boris Pasternaks lyrisches Werk in Nachdichtungen · Von Ralph Dutli

"Pasternaks Gedichte zu lesen, reinigt die Kehle, stärkt den Atem, erneuert die Lunge. Solche Verse müßten von der Tuberkulose heilen. Es gibt jetzt bei uns keine gesündere Poesie. Das ist Tatarenkumyß nach amerikanischer Kondensmilch." So pries Ossip Mandelstam den Dichterkollegen Boris Pasternak (1890 bis 1960), als 1922 der Gedichtband "Meine Schwester das Leben" in Moskau erschien. Das Buch hatte tatsächlich etwas Unerhörtes: Nach den blutigen, hungergeprägten Jahren der Revolution und des Bürgerkriegs schenkte es den russischen Lesern eine Poesie voller Frische und ungestümer Vitalität, ein neues Lebensgefühl, das in entfesselten Bilderfluten alle Grenzen zwischen Mensch und Natur liebestrunken verwischen wollte.

Neidlos haben ihn die besten seiner Dichterkollegen gefeiert, haben mit höchstem Lob nicht gegeizt. Marina Zwetajewa war 1922 bereits nach Berlin emigriert, als sie Pasternaks Gedichtbuch "blitzhaft" erreichte, was sie zu einem wunderbaren Essay inspirierte: "Lichtregen. Die Poesie des Ewigmännlichen". Der Essay überschlug sich fast vor lauter Lichtmetaphorik: "Pasternak: das ist Verschwendung. Verströmen von Licht. Unendliches Verströmen von Licht." Als "Lichtschrift" bezeichnete sie das Phänomen, als "Lichtsalven", als "Lichtgelage".

Mit dem Lichtblitz des Buches "Meine Schwester das Leben", das die Gedichte des bewegten Sommers 1917 vereint, läßt der verdienstvolle Herausgeber Fritz Mierau seine deutschsprachige Sammlung von Pasternaks Gedichten und Poemen anheben. Das ist gewiß keine schlechte Entscheidung, bedeutet jedoch auch Verzicht auf die frühesten Werke, auf die Bücher "Zwilling in Wolken" (1914) und "Über die Barrieren" (1917). Der Liebhaber muß auf so schöne Gedichte wie "Venedig" (1913) oder auf das "Marburg"-Gedicht (1915) verzichten, das gerade für eine deutschsprachige Auswahl einen Brückenschlag hätte bedeuten können. 1912 hatte sich Pasternak als Student der Philosophie in Marburg aufgehalten, um ein Sommersemester lang bei dem Neukantianer Hermann Cohen zu studieren. In Marburg kam es zu jener unglücklichen Liebeserfahrung, die Pasternak laut seinem eigenen Zeugnis zum Dichter machte. In dem autobiographischen Prosawerk "Der Geleitbrief" (1931) spielt die Marburger Episode eine Schlüsselrolle.

Der Herausgeber kann sich aber mit gutem Recht auf Pasternak selber berufen, der sein Frühwerk gleich mehrfach verworfen hat. Wo er es nicht in Bausch und Bogen verdammte, schrieb er es - nach größerer "Einfachheit" strebend - immer wieder um. Am Ende seines Lebens wollte er nur noch die "Schiwago"-Gedichte (1946 bis 1953) und die Sammlung "Wenn es aufklart" (1956 bis 1959) gelten lassen - und könnte damit manchen Freund moderner Poesie zur Verzweiflung treiben. Es ging ihm darum, alle kühnen modernistischen Bildgefüge abzuwerfen und endlich zu einer "Menschensprache" zurückzufinden, wie er 1959 in einem Brief schrieb. Manchen Gedichten der Spätzeit steht man so ratlos gegenüber, weil sich Pasternak mit vollem Bewußtsein vor das moderne Gedicht zurückkatapultiert. Gedichte wie "Der Pilzsammler" oder "Hei, es schneit" (1956) sind harmoniesüchtige, geradezu biedere Gebilde, die Sehnsucht nach der offenbarenden Kraft von "Meine Schwester das Leben" wecken. Kaum mehr zu begreifen ist, daß Pasternak einmal auch von der futuristischen Avantgarde, von der Gruppe "Zentrifuge", ausgegangen war.

Daß Pasternak sein lyrisches Spätwerk über alles andere stellte (wie er von allen Prosawerken nur noch "Doktor Schiwago" anerkennen wollte), hat man zu akzeptieren - auch wenn es schmerzt. Andererseits fühlt man sich als Pasternak-Verehrer von Pasternak provoziert, eine Lanze für viele der verworfenen Werke zu brechen - selbst gegen ihren Autor.

Pasternak war ein Zauderer, ein Virtuose des Selbstzweifels, den zeitlebens der Vorwurf quälte, seine Gedichte seien ,unverständlich". Daß der Vorwurf der "Kompliziertheit" und des "Subjektivismus" in der Stalin-Epoche gefährliche Konsequenzen haben konnte, muß man bei allen Bekundungen des Willens zur "unerhörten Einfachheit" mitlesen, mithören. Pasternak stand nach dem Selbstmord Majakowskis im April 1930 unter ungeheurem Erwartungsdruck. Die Jahre des Stalinschen "Säuberungs"-Terrors 1936 bis 1938 überlebte er - als Dichter verstummt, doch als genialer Übersetzer Shakespeares, Goethes, Kleists über die Runden kommend. Die Gründe dieses Überlebens müssen für immer im dunkeln bleiben: Ob Stalins angebliches Diktum "Diesen Himmelsbewohner rührt mir nicht an!" geholfen hat oder ob dem Diktator aus Georgien Pasternaks schöne Übertragungen georgischer Lyrik geschmeichelt haben? Die meisten Gerüchte aber unterstellen Stalin einen viel zu guten literarischen Geschmack. Geholfen hat vielleicht auch Pasternaks stetes Bemühen um "Versöhnung mit der Wirklichkeit", das Programm einer Annahme der Welt, wie sie ist, während die radikal Unversöhnlichen den Selbstmord wählten (Zwetajewa) oder den Lagertod erlitten (Mandelstam).

Mit Stalins Tod 1953 und dem 20. Parteitag 1956 waren die Albträume aber längst nicht zu Ende. Schon im ersten der "Schiwago"-Gedichte, in "Hamlet" von 1953 (von Richard Pietraß übertragen), gibt es eine Ahnung davon: "Fest gewickelt ist die Handlungsspule, / Und die Tore sind aufs End gestellt. - Ich bin allein: im Pharisäerrudel. / Leben ist kein Gang durch freies Feld." Als der Roman "Doktor Schiwago" 1957 bei Feltrinelli in Mailand erschien und dem Autor 1958 der Literaturnobelpreis zugesprochen wurde, setzte in der Sowjetunion eine infame Hetzkampagne gegen Pasternak ein, in der sich auch ZK-Sekretäre hervortaten: "Pasternak ist schlimmer als ein Schwein, weil ein Schwein nicht in den Trog scheißt, aus dem es frißt." Nicht zuletzt der Verbitterung über die widerliche Hetze ist Pasternak schließlich 1960 erlegen. Im Gedicht "Der Nobelpreis" (1959) heißt es in der Übertragung Rolf-Dietrich Keils: "Bin am End, ein Tier im Netze. / Fern gibt's Menschen, Freiheit, Licht. / Hinter mir der Lärm der Hetze, / Und nach draußen kann ich nicht." So endet dieses lyrische Werk - das sich so verbissen um "Aufklarung", um "Einfachheit" und "Menschensprache" bemüht hatte - in Einsamkeit und Ausweglosigkeit.

Pasternaks Werk trägt jedoch tief eingeschrieben in sich das Goethesche "Stirb und werde", und zwar schon im Buch "Meine Schwester das Leben" des erfüllten Sommers 1917, das Elke Erb eindrücklich nachgedichtet hat: "So sang ich, sang so, starb und sang / Und starb, der dennoch wiederkam / Zu ihren Händen, Bumerang, / Soviel ich weiß: der Abschied nahm."

Daß nun endlich eine repräsentative Sammlung von Pasternaks lyrischem Werk vorliegt, wird jeder Freund der russischen Poesie begrüßen. Der Band ist reich an gelungenen Nachdichtungen: gerade dort, wo dissonante, rauhe, unreine Reime klingen, glaubt man Pasternaks neue Tonalität am besten zu vernehmen. Jetzt kann jene phänomenale lyrische Potenz wieder fühlbar und sichtbar werden, die hinter dem einen Roman "Doktor Schiwago" - oder hinter dessen verkitschter Hollywood-Verfilmung - zu verschwinden drohte. Man darf Pasternak im deutschen Sprachraum wünschen, was er sich mit seinem Gedichtband von 1932 gewünscht hat: eine "zweite Geburt".

Boris Pasternak: "Gedichte und Poeme". Gesammelte Werke in Einzelbänden. Herausgegeben von Fritz Mierau. Nachdichtungen von Heinz Czechowski, Stefan Döring, Elke Erb, Roland Erb, Kerstin Hensel, Rolf-Dietrich Keil, Elisabeth Kottmeier, Andreas Koziol, Richard Pietraß und Ilse Tschörtner. Aufbau-Verlag, Berlin 1996. 539 S., geb., 49,90 DM.

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