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Als Wolfgang Hilbig am 2. Juni 2007 starb, verlor die deutschsprachige Literatur eine einzigartige Stimme. Bis zuletzt gelangen ihm Gedichte von dunkler, träumerischer Schönheit - sie waren der Anfang und das Ende seines Schreibens. Selbst in seinen großen Romanen war der lyrische Ton unüberhörbar. Ausgehend von den Traditionen der Romantik, des Symbolismus, des Expressionismus und geprägt von den Alltagserfahrungen eines Arbeiterlebens in der DDR, schuf er sich seine eigene Sprache: leidenschaftlich und voll brennender Sehnsucht, elegisch, grüblerisch, zärtlich. Es spricht ein Widerständiger…mehr

Produktbeschreibung
Als Wolfgang Hilbig am 2. Juni 2007 starb, verlor die deutschsprachige Literatur eine einzigartige Stimme. Bis zuletzt gelangen ihm Gedichte von dunkler, träumerischer Schönheit - sie waren der Anfang und das Ende seines Schreibens. Selbst in seinen großen Romanen war der lyrische Ton unüberhörbar. Ausgehend von den Traditionen der Romantik, des Symbolismus, des Expressionismus und geprägt von den Alltagserfahrungen eines Arbeiterlebens in der DDR, schuf er sich seine eigene Sprache: leidenschaftlich und voll brennender Sehnsucht, elegisch, grüblerisch, zärtlich. Es spricht ein Widerständiger und Verletzter, ein »Traumverlorener, ein versprengter Paradiesgänger« (Süddeutsche Zeitung) - es spricht ein Dichter, ein Mensch.

als sie noch jung waren die winde
war ich verworren
und blind und taub
für ihren gesang
jetzt wenn ich das land durchstreife
und nicht mehr weiß
wo ich bin
und nichts mehr wissen will
in meinem herzen
denk ich an die winde
die alt geworden sind

Wolfgang Hilbig
Autorenporträt
Wolfgang Hilbig, geboren 1941 in Meuselwitz bei Leipzig, gestorben 2007 in Berlin, übersiedelte 1985 aus der DDR in die Bundesrepublik. Er erhielt zahlreiche literarische Auszeichnungen, darunter den Georg-Büchner-Preis, den Ingeborg-Bachmann-Preis, den Bremer Literaturpreis, den Berliner Literaturpreis, den Literaturpreis des Landes Brandenburg, den Lessing-Preis, den Fontane-Preis, den Stadtschreiberpreis von Frankfurt-Bergen-Enkheim, den Peter-Huchel-Preis und den Erwin-Strittmatter-Preis. Im S. Fischer Verlag erscheint die siebenbändige Ausgabe seiner Werke, 'eine der wichtigsten Werkausgaben der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur' (Uwe Schütte, Wiener Zeitung). Wolfgang Hilbig WERKE Band I GEDICHTE Band II ERZÄHLUNGEN UND KURZPROSA Band III DIE WEIBER - ALTE ABDECKEREI - DIE KUNDE VON DEN BÄUMEN (Erzählungen) Band IV EINE ÜBERTRAGUNG (Roman) Band V 'ICH' (Roman) Band VI DAS PROVISORIUM (Roman) Band VII ESSAYS, REDEN, INTERVIEWS Literaturpreise: 1983 Brüder-Grimm-Preis 1985 Förderpreis der Akademie der Künste, Berlin 1987 Kranichsteiner Literaturpreis 1989 Ingeborg-Bachmann-Preis 1992 Berliner Literaturpreis 1993 Brandenburgischer Literaturpreis 1994 Bremer Literaturpreis 1996 Literaturpreis der Deutschen Schillerstiftung, Dresden 1997 Lessingpreis des Freistaates Sachsen 1997 Fontane-Preis der Berliner Akademie der Künste 1997 Hans-Erich-Nossack-Preis (Kulturkreis d. dt. Wirtschaft) 2001 Stadtschreiberpreis von Frankfurt-Bergen-Enkheim 2002 Peter-Huchel-Preis für deutschsprachige Lyrik 2002 Georg-Büchner-Preis 2002 Walter-Bauer-Literaturpreis der Stadt Merseburg 2007 Erwin-Strittmatter-Preis des Landes Brandenburg
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.05.2008

Der Tanz auf der Mauer
Wolfgang Hilbigs gesammelte Gedichte sind ein Ereignis
Sachsen, wo es am heruntergekommensten, von den Folgen realsozialistischer Planwirtschaft am meisten gebeutelt und der Akzent der Menschen am wenigsten goutierbar ist, war Wolfgang Hilbig zufällige Heimat und notwendiger Bildspender zugleich. Er wusste allerdings, dass er selber von noch viel weiter her stammte: „mein großvater . . . nach europa trug den honigduftenden samen . . . wie das steppengras zischte und die halme sich rieben so / klangen seine polnischen flüche in seinem lachen / grollten hufe und gewitter seine stirn ein feuer / wetterleuchtete fern die rote kolchis / unwissend und tief im orkus”.
Hilbig hat die sächsische Braunkohlenlandschaft, der er trotz späteren Aufbruchs gen Westen und in die Berliner Metropole biographisch stets verbunden blieb, nie verleugnet. Was er von ihr zu bezeugen hatte, wissen ihm bis heute die wenigsten dort zu danken: „der dörfer fischgerüche zogen mich in tagebaue / der dörfer dasein war in mir verworren und gespalten / die feuerluft / der tage war der flammenschatten jener nächte / glutsinne flammennerven bauten / verflogene namen spiegelungen auf”. Eine solche Landschaft brauchte Hilbig nicht zu suchen, sie hatte sich ihm aufgedrängt. Und doch lagen jene, die in seinen Versen nichts weiter als lyrisch denunzierende Protokolle schamloser Naturausbeutung suchten, von Anfang an falsch. Seine Poesie erschöpft sich nicht in Bildern eines vergewaltigten Lebensraums, sondern destilliert aus solchen Eindrücken autonome Kunstgebilde – und hier schon ist sie in tieferen, entfernteren Schichten daheim; beim protestantischen Kirchenlied etwa, bei Hölderlin, Novalis, den Weltsprachen der modernen Poesie. Der Bildraum von Hilbigs poetischen Landschaften ist in seiner Eindringlichkeit mit den schwermütigen Kinolandschaften Andrej Tarkowskis vergleichbar; morbid-real wie sie in der Optik des Dichters aufscheinen, sind sie wiederum auch zum Erbarmen schön: „am wald wartete / einst ein steinernes haus . . . nun ist es zerbrochen / das dach die wände zerfalln / das wasser voll steinbrocken / allein / der keller steht noch / morsch in der mulde wo / herbstliches gras sich an die erde / schmiegt wie hundeohrn im wind.”
Um ein anderes Beispiel für die Durchdringung von äußerster Welt und innerster Provinz anzuführen: Als Motto zum bereits 1966 entstandenen Gedicht „abwertung eines unverständlichen gegenstands” zitiert Hilbig Verse eines amerikanischen Zeitgenossen, dessen Namen er offiziell, auf Meuselwitzer Radius geeicht, gar nicht hätte kennen können – „I cannot be more than / the man who watches”. Diese von Robert Creeley auf die Beziehung zur Tochter gemünzten Worte (in „The Name” am Schluss der Sammlung „For Love”) gewinnen für Hilbig eine ganz neue Bedeutung – umreißen sie doch seine desolate frühe Lage, mit „unverständlichen Gegenständen” wie Gedichten in der aus Parolen gezimmerten Gesellschaft zum passiven Zuschauer, zum Abwesenden verdammt zu sein. Eine derart eigenwillige Transformation eines lyrischen Vorbilds (das dazu noch der Kultur des offiziellen Klassenfeinds angehörte) dürfte jedenfalls zu den Seltenheiten der Literaturgeschichte gehören.
Der stöhnende Herzapparat
Entdeckungen dieser Art gestattet der jetzt vorliegende Sammelband von Hilbigs Gedichten; zum ersten Mal kann sein in den Bänden „abwesenheit” (1978), „die versprengung” (1986) im Westen, sowie in den ostdeutschen Auswahlpublikationen „stimme stimme” (1983) und „zwischen den paradiesen” (1991) veröffentlichtes Werk, dem nach der Wende noch in Zeitschriften verstreute Gedichte sowie die zu seinem 60. Geburtstag 2003 herausgekommenen „Bilder vom Erzählen” folgten, nahezu umfassend überschaut werden. Außerdem wird ein erster Einblick in Hilbigs umfangreichen lyrischen Nachlass gewährt – von einem in seiner Stasiakte wiedergefundenen frühen Zyklus von Liebesgedichten bis hin zu Reinschriften von Entwürfen der Berliner Zeit. Auch wenn die Herausgeber gute Gründe haben, ihren Anmerkungsapparat zu beschränken, so hätte man sich doch gerade für diesen Nachlass, der immerhin ein gutes Drittel des Buchs ausmacht, eine etwas großzügigere Mitteilungspolitik erhofft, was Ort, Zeit, Kontext der Entstehung und Art der Überlieferung betrifft. Und es mag für die Belange einer Leseausgabe seine Richtigkeit haben, Gedichte Hilbigs, die mehrmals in Büchern veröffentlicht wurden, nur am Ort ihrer Erstveröffentlichung anzugeben – die Komplikationen seiner Publikationsgeschichte werden so aber einfach unter den Tisch gekehrt, als spielte es etwa keine Rolle mehr, dass seinerzeit die ostdeutschen Zensoren sein Programmgedicht „das meer in sachsen” nur in einer verstümmelten, sinnentstellten Kürzung im Reclamheftchen „stimme stimme” abgedruckt hatten.
Sei es drum: Diese Werkausgabe von Wolfgang Hilbigs Gedichten ist ein Ereignis für die Lyrik im deutschsprachigen Raum, wie es in jüngster Zeit vielleicht nur noch der „Kaddish”-Zyklus Paulus Böhmers gewesen ist (SZ vom 4. Februar 2008) – ein Ereignis für die Literatur im Ganzen, beginnt man sich einmal auf die Funktion der Lyrik als Speerspitze im literarischen Progress zu besinnen: „In bezug auf Lyrik reagiere ich allergisch auf unhaltbare Ergebnisse. Gedichte sind für mich die Essenzen literarischer Arbeit”, hatte Hilbig einmal gesagt. Der Rabe Edgar Allen Poes wird für ihn zum Sinnbild eines Anspruchs, wie er höher nicht sein könnte: „war es notwendig / den stöhnenden herzapparat in die marionette zu pflanzen – / war die erfindung des wagenrads der anblick / unserer stärke notwendig war der käfig der unsterblichkeit / an dem dieses röcheln sich wetzt war / dieser schmutzige gesträubte rabe notwendig.”
Auroren an die Kehle
Wie Poe war Hilbig auch Erzähler, manischer Chronist einer Realität, die immer wieder ins Spukhafte entglitt, wie Poe diente ihm die Beschäftigung mit Lyrik dann als Rettungsanker im verfließenden Strom von Geschichten, deren Entwicklung und Ausgang er selber nicht in der Hand zu haben schien. Schildern seine Geschichten die unkontrollierbar wuchernden Geschwüre einer Wirklichkeit, die ihr Spiegelbild nur noch im Wahnsinn, der schizophrenen Persönlichkeitsverdopplung und -entäußerung findet, so sind vor allem die nach der Periode des Erzählens entstandenen (wieder in Großschreibung gedruckten) Gedichte aus der Flut von Phänomenen gerettete „Bilder vom Erzählen” – luzide, exemplarische Montagen, geschaffen für einen Einstieg in sein Gesamtwerk vom Ende her.
Konsequenterweise schließen die „Bilder vom Erzählen” den Kreis um Hilbigs Schriftstellerdasein; vier Jahre vor seinem Tod erschienen, nehmen sie diesen bereits vorweg – und das, was von ihm bleiben könnte: die „Essenz”, die epiphanische Vision vom Eintauchen ins Mythische in unmittelbarster Gegenwart. Sie führt an die Ursprünge der modernen Poesie, die ihrerseits die Ursprünge der Antike berührt: zu Pounds „Cantos”, die mit dem Elften Gesang der Odyssee einsetzen – dem Abstieg in die Unterwelt. Für Hilbig, der in der DDR zur Abwesenheit, zum Untergrund („nach unten gehn heißt oben bleiben”), im Westen zu Selbstflucht, Abtauchen, Doppelleben („hier in der luft der lüge”) verdammt war, hätte kein Mythos näher gelegen. Und musste sich demjenigen, der schon 1986 mit Zeilen wie „es drehn / sich die brüder im tanz auf der mauer” das vermeintliche Ende der Geschichte vorausgesehen hatte, die Dimension des Mythischen nicht von selbst aufdrängen?
Es ist diese Identifikation mit den Mythen des poetisch autonom Erzeugten, die ihn dazu befähigte, der Sterblichkeit des eigenen Körpers ein Überdauern im Gedicht entgegenzuhalten und „wie Brüder die durch Äonen / geschieden sind” in einem real erblickten Raben (während eines Schreibaufenthalts in Amerika) das von Edgar Allen Poe an ihn übergegangene Totemtier zu grüßen. Man muss lange nach einem Dichter wie Hilbig suchen, der derart mühelos mit den Größen der Literaturgeschichte ins Zwiegespräch treten konnte, so dass jeder Vergleich mit direkten Zeitgenossen ins Leere gehen muss. Etiketten wie „DDR-Emigrant”, „Heizer und Symbolist”, „Sächsischer Surrealist” erklären kaum seine Einzigartigkeit. Hilbig war Dichter und spätestens mit der nun vorliegenden Werkausgabe dürfte klar sein, dass er zu den allergrößten hierzulande zählt, die monolithisch und nur durch sich selbst erklärbar in der Literaturgeschichte stehen.
Poesie, die die Zeiten überdauern soll, lässt sich nicht an der Anzahl errungener Preise und Stipendien oder einer medienkompatiblen Allseitsfreundlichkeit ermessen. Sie geht – „auroren an die kehle” – aufs Ganze, ohne sich um die Konsequenzen ihrer Kompromisslosigkeit zu scheren. Das ist sie der fragilen Materie des Gedichtes schuldig. Wolfgang Hilbig wusste das: ein Aufrechter, dem die Poesie den einzigen Halt im Leben schenkte. Mag sein, dass ihn das unsterblich machen wird.JAN VOLKER RÖHNERT
WOLFGANG HILBIG: Gedichte. Mit einem Nachwort von Uwe Kolbe. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008. 538 Seiten, 22,90 Euro.
Wolfgang Hilbig 2001 als Stadtschreiber in Bergen-Enkheim Foto: dpa
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.08.2008

Die Zärtlichkeit meiner Rose im Schädel

Für die Schublade zu schreiben, fand er unwürdig, und doch musste er es in der DDR lange tun. Jetzt sind die Scherben von damals zusammengefügt - und funkeln: Wolfgang Hilbigs gesammelte Gedichte.

Von Harald Hartung

Mitte der sechziger Jahre, in Meuselwitz, dem verdrecktesten Braunkohleort der DDR, schrieb ein junger Mann, der zum Bohrwerksdreher ausgebildet worden war und von wechselnden Jobs lebte, Verse in ein DIN-A5-Heft, versah diese dreiundfünfzig Gedichte mit Motti und Kapitelgliederungen und gab ihnen den Titel "Scherben für damals und jetzt". Das war vermutlich 1964, um die Zeit, da man ihn zu einem Zirkel schreibender Arbeiter nach Leipzig delegierte. Wolfgang Hilbig mag sich damals die Publikation dieser Gedichte versprochen haben.

Es kam anders. Die Stasi beschlagnahmte das Heft. Und der Autor muss es verlorengegeben haben. Er hatte nicht mit dem bürokratischen Ordnungssinn der Stasi gerechnet. Aus ihrem Nachlass gelangte das konfiszierte Manuskript, jede Seite versehen mit dem Stempel der Bundesbeauftragten für Stasi-Unterlagen, in die Hände seines Eigentümers zurück. Der Titel von einst erhielt damit eine späte Rechtfertigung: Die Scherben von damals wurden wieder zusammengefügt, ordnen sich jetzt dem Gesamtwerk ein. Man darf das eine Sensation nennen. Die dreiundfünfzig Gedichte kann man nun in der Gesamtausgabe des im Vorjahr verstorbenen Autors lesen. Sie eröffnen den zweiten Teil dieser Ausgabe, der einen erstaunlich umfangreichen Bestand an nachgelassener Lyrik enthält. Auf zweihundert Seiten ist hier dokumentiert, wie ein Autor knapp fünfzehn Jahre lang ohne Aussicht darauf schrieb, dass ihn eine größere Öffentlichkeit wahrnahm. Hilbig folgte einfach nur seinem Traum, Dichter zu werden.

Diese Hoffnung wider alle Hoffnung muss ihn alle die Jahre beflügelt haben, in Meuselwitz, später in Ost-Berlin. Der meistens als Heizer tätige Nachtarbeiter, der in der bleiernen Erschöpfung der Arbeitswoche nach Freiräumen suchte, im Boxen, Raufen, im exzessiven Trinken, fand sein Lebenselixier im Schreiben, das aus nicht minder exzessiver Lektüre erwuchs. Hilbig zeigt in seinen dreiundfünfzig Scherben die bekannten Schwächen des Autodidakten. Er bedichtet die Maimorgensonne und das Fröschlein am Ufer des Quells, reimt Schwermut auf Herzblut und schaut gläubig zu Hermann Hesse auf.

Aber er öffnet sich auch der Moderne. Die Sequenz "Die Sprache eines Feuerfressers" bezieht sich auf Tristan Corbière, und das ist gewiss kein Allerweltsname. Sie beschwört, gespeist durch seine Erfahrung als Heizer, auf kraftvolle Weise das Feuer: "Ich geboren, / unterm Feuer der Zeit, / verkohlt, verräuchert, entmoralisiert". Der junge Dichter schreibt ein vorweggenommenes Epitaph: "auf meinen Grabstein hau man mir / ein Herz, durchbohrt mit einem Schwert." Hier kündigt sich jenes Pathos an, das bei Hilbig mit dem Leiden zusammenhängt. Doch Hilbig besaß Nehmerqualitäten und hielt es für eine Perversion, für die Schublade zu schreiben. 1968 schickte er an die "Neue Deutsche Literatur" folgende Anzeige: "Welcher deutschsprachige Verlag veröffentlicht meine Gedichte? Nur ernstgemeinte Zuschriften an W. Hilbig, 7404 Meuselwitz, Breitscheidstraße 19b." Die Redaktion druckte die Annonce, unsicher im Dschungel der Anweisungen oder überrascht von Hilbigs provokatorischer Chuzpe. Es gab keine Reaktion, weder in Ost noch West. Und so dauerte es noch weitere zehn Jahre, ehe Hilbigs erstes Buch erschien, der Gedichtband "abwesenheit".

Er erschien, vermittelt von Karl Corino, bei S. Fischer in Frankfurt. Noch am Vorabend der Manuskriptübergabe glaubte Hilbig das Manuskript verloren. Er hatte in der Leipziger Wohnung eines Freundes daraus vorgelesen und rief: "Das wurde von der Stasi geklaut." In diesem Falle freilich nicht: Das Konvolut fand sich, von Rotweinflecken gesprenkelt, unter dem Reisstrohteppich des Bücherzimmers. Die West-Veröffentlichung trug Hilbig eine Strafe von 2000 Mark ein, weil sie vom Büro für Urheberrechte nicht genehmigt war. Eine unbeabsichtigte Reklame. Das nun erlangte Renommee schützte ihn fortan vor weiteren Schikanen der DDR-Literaturbürokratie. Hilbig war endlich bekannt, und das in beiden deutschen Staaten. Spätestens nach Hilbigs Übersiedlung in den Westen 1985 wuchs der Ruhm, 2002 kam der Büchner-Preis.

Bemerkenswert, was er den Umständen vorher abrang. "Auschwitz-Prozeß", aus dem Juli 1965, ist ein galliger Kommentar zu den Mechanismen der Verdrängung. Illusionslose Klarsicht bewährte sich auch in eigener Sache. "Hiobswoche" von 1966 zeichnet schon früh den fatalen Zirkel des Alkoholismus: "das war die Woche in der ich die Menschen nur / durch Schwämme erblickt hab in der ich all / mein Geld vernichtet hab und meine Liebe und / die Zärtlichkeit meiner Rose im Schädel." Doch die Rose im Schädel war nicht endgültig zu vernichten. Dieser Hiob wollte kein heiliger Trinker sein. Im Jahr der "Hiobswoche" wählte er sich einen dichtenden Arzt zum Eideshelfer. Für "vom traum der dichtkunst" nahm er das Motto von William Carlos Williams: "new books of poetry will be written". In diesem Gedicht gibt es einen scheinbar autoaggressiven Schluss: "tretet mir auf den mund tretet / mir doch auf den mund." Das kann nur sagen, wer weiß, dass seine Stimme unauslöschlich ist.

Zumindest einen Versuch der Staatsmacht, Hilbig mundtot zu machen, hat es gegeben. Im Mai 1978 wurde er beschuldigt, nach der Maifeier eine Fahne, also ein staatliches Emblem, heruntergeholt und verbrannt zu haben. Die Anklage wegen "Rowdytums", die auf der Aussage eines schwer alkoholisierten Zeugen basierte, musste fallengelassen werden, und Hilbig kam nach knapp zwei Monaten frei, aber das Gefängnistrauma wirkte nach.

Man liest Hilbigs nunmehr gesammelte Lyrik anders, wenn man die Gedichte der Schweigejahre hinzunimmt. Man liest auch die bekannten Gedichtbände, die den Ruhm begründeten, pointierter, nämlich als die Summen dreier poetischer Epochen. Da fungiert "abwesenheit" (1979) als eine Absage an staatliche Bevormundung; "versprengung" (1986) als anarchisch-revoltierende Zerstäubung von Subjekt und Sinnbezug; und die späten "Bilder vom Erzählen" (2001) als Heimkehr zu den großen Figuren des abendländischen Erbes. Es ist die Heimkehr zum "Traumbuch der Moderne", zu Poe, Eliot und Ezra Pound, der das Ithaka der Poesie wiederfinden wollte.

In dieser großen Abendphantasie teilt sich auch Hilbig einen Platz zu, keinen überzogenen, doch auch keinen allzu bescheidenen. Die letzten Zeilen aus diesem letzten Gedichtband enden mit dem Aufruf zu neuem Aufbruch: "was gestern licht und wert war ist verschwendet - / und es ist Nacht und Zeit daß du dich wandelst." Das ist, mit dem Titel des Gedichts, "Pro domo et mundo" gesprochen, für Haus und Welt. Es zitiert den Titel einer Aphorismensammlung von Karl Kraus. Und so verstand Hilbig, um Kraus, fortzuspinnen, das Haus als das alte Haus der Sprache und sich als den Letzten derer, die darin wohnen.

- Wolfgang Hilbig: "Gedichte". Mit einem Nachwort von Uwe Kolbe. (Werke Bd. 1.) Hrsg. von Jörg Bong, Jürgen Hosemann, Oliver Vogel. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008. 538 S., geb., 22,90 [Euro].

- Karen Lohse: "Wolfgang Hilbig". Eine motivische Biographie. Plöttner Verlag, Leipzig 2008. 144 S., geb., 17,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Der erste Band der Gesamtausgabe von Wolfgang Hilbig erscheint Rezensent Harald Hartung als Sensation. Stößt er darin doch auf Schätze wie die 53 einst von der Stasi konfiszierten Gedichte, betitelt "Scherben für damals und jetzt". Der in diesem Band publizierte umfangreiche lyrische Nachlass des Autors legt für Hartung Zeugnis ab von der Unbeirrbarkeit des Dichters Hilbig in der DDR. Dass er in den Texten mitunter auf "die bekannten Schwächen des Autodidakten" stößt und auf Pathos, lässt den Rezensenten allerdings nicht verkennen, dass sich Hilbig, etwa durch Bezüge auf Tristan Corbiere, auch der Moderne öffnet. Das den Verhältnissen Abgerungene erscheint Hartung allemal bemerkenswert. Ob "galliger" Kommentar zu den Mechanismen der Verdrängung oder Klarsicht beim Blick auf das eigene Alkoholproblem, immer vernimmt Hartung den Glauben des Dichters an die eigene unauslöschliche Stimme. Darüber hinaus ermöglicht der nun publizierte Nachlass dem Rezensenten einen neuen Blick auf Hilbigs bekannte Gedichtbände - als Summen verschiedener poetischer Epochen. Der Autor verdient damit nach seinem Dafürhalten einen Platz unter den großen Figuren des abendländischen Erbes.

© Perlentaucher Medien GmbH
Der erste Band der Gesamtausgabe von Wolfgang Hilbig erscheint Rezensent Harald Hartung als Sensation. Stößt er darin doch auf Schätze wie die 53 einst von der Stasi konfiszierten Gedichte, betitelt "Scherben für damals und jetzt". Der in diesem Band publizierte umfangreiche lyrische Nachlass des Autors legt für Hartung Zeugnis ab von der Unbeirrbarkeit des Dichters Hilbig in der DDR. Dass er in den Texten mitunter auf "die bekannten Schwächen des Autodidakten" stößt und auf Pathos, lässt den Rezensenten allerdings nicht verkennen, dass sich Hilbig, etwa durch Bezüge auf Tristan Corbiere, auch der Moderne öffnet. Das den Verhältnissen Abgerungene erscheint Hartung allemal bemerkenswert. Ob "galliger" Kommentar zu den Mechanismen der Verdrängung oder Klarsicht beim Blick auf das eigene Alkoholproblem, immer vernimmt Hartung den Glauben des Dichters an die eigene unauslöschliche Stimme. Darüber hinaus ermöglicht der nun publizierte Nachlass dem Rezensenten einen neuen Blick auf Hilbigs bekannte Gedichtbände - als Summen verschiedener poetischer Epochen. Der Autor verdient damit nach seinem Dafürhalten einen Platz unter den großen Figuren des abendländischen Erbes.

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