Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.10.1995Wunderwelt so lang und breit
Poesie ist Leben, Prosa ist der Tod: Friederike Kempners Gedichte
Sie kämpfte gegen die Einzelhaft, die Todesstrafe, die Vivisektion, vor allem aber engagierte sie sich für die Errichtung von Leichenhäusern, wo Tote vor der Beisetzung drei Tage aufgebahrt werden, da sie sich vor nichts so fürchtete wie vor dem Schicksal, lebendig begraben zu werden, eine Furcht, die sie mit Keller, Schnitzler und Brecht teilte. Sie bekämpfte den Antisemitismus, unter dem sie als Jüdin zu leiden hatte, und warb für einen sozialen Staat, in dem niemand mehr hungern und frieren sollte.
Sie selber konnte nicht klagen: Sie war die Tochter eines Gutspächters, der es später zu eigenem Besitz brachte und sich "Rittergutsbesitzer" nannte. Geboren wurde sie, Friederike Kempner, am 15. Juni 1836 in Opatow in der damals preußischen Provinz Posen, und als sie am 23. Februar 1904 starb, war noch ein zweites Gut hinzugekommen: Friederikenhof bei Reichthal nahe Breslau, und das hatte sie sich dank ihrer fleißigen Feder erworben.
Ihr Name wurde zum Synonym unfreiwilliger Komik. Über ihre Gedichte lachte ganz Deutschland, weil sich die Sprache dem gewählten Anspruch und der angestrebten Moral stets erfolgreich entzog. Etwa, wenn sie Amerika pries: "Amerika, das Land der Träume, / Du Wunderwelt so lang und breit, / Wie schön sind Deine Kokosbäume, / Und Deine rege Einsamkeit!" Oder gegen die Vivisektion wetterte: "Ein unbekanntes Band der Seelen kettet / Den Menschen an das arme Tier, / Das Tier hat einen Willen - ergo Seele - / Wenn auch 'ne kleinere als wir."
Nicht minder erbaute es die Zeitgenossen, wenn die Poetin mit den Tücken von Metrum und Reim rang: "Süßes Kindchen, Menschenräupchen, / Mach' kein bitterbös Gesicht, / Und verbitt're drum das Leben / Deinen Mite-Raupen nicht." Klar: "Mit-Raupen" - da hätte eine Silbe gefehlt, also setzt sie unerschrocken "Mite" ein, dann klappt's. Wie findet sich ein Reim auf Proletarier? "Wie heißt das Wort, das in der halben Welt / Man gleichbedeutend mit dem Elend hält, / Doch mit dem Elend, - das mit wack'rem Mut / Die schwere, große Arbeit tut? / Es ist, es heißt: der, der, der, der, / Es heißet: Proletarier!"
Kaum hatte - etwa 1860, das genaue Datum ist unbekannt - Friederike Kempner ihre ersten Gedichte im Selbstverlag veröffentlicht, da sprach es sich bald herum, welche Schätze in diesem Büchlein zu finden waren. Die Verwandtschaft versuchte, die Exemplare rasch aufzukaufen. Das aber hätte sie besser gelassen, denn alsbald wurde eine Neuauflage fällig, und nun bedrängten die aufmerksam gewordenen Verlage die Poetin, die der zweiten Auflage "Worte des Dankes an die liebe Lesewelt" voranschickte. Dabei hatte sie außer Gedichten auch Novellen veröffentlicht und Dramen wie "Berenize" (1860), "Rudolf der Zweite" (1867) und "Jahel" (1886), von denen einige auch aufgeführt wurden. "Aufgabe und Ziel der Poesie ist: die Wahrheit für alle zu veranschaulichen, - und durch ihren Sieg dereinst alle zu versöhnen", ließ die Autorin die "liebe Lesewelt" wissen.
In den Erzählungen blieb sie ihren Ideen treu. "Wasserleitungen von Kaffee und Bouillon" sollten für die Armen installiert werden ("In der goldenen Gans", 1898), und in der als "humoristische" betitelten Novelle "Eine Frage Friedrich's des Großen" protestiert sie gegen die Einzelhaft ("eine neue Erfindung Amerikas") und engagiert sich für den Feminismus ("Das ist das größte Übel auf Erden, daß die eine Hälfte des Menschengeschlechts unterdrückt wird von der anderen Hälfte"). Die Sozialversicherung der Arbeiter ist ihr ein eigenes Gedicht wert.
Natürlich gab es Neider und Spötter. "Dichtergrüße an Friederike Kempner" hieß ein 1885 anonym publiziertes Buch, dessen Autor sich "Methusalem" nannte. Er wußte wohl nicht, daß man unfreiwillige Komik nicht parodieren kann, und so sind seine Persiflagen durchweg einfallslos, simpel und kleinlich polemisch. Die Angegriffene reagierte gereizt: "Anonyme Flüche blitzen, / Zünden, treffen und erhitzen / Nur den Fluchenden allein. / Armer Flucher, urgemein!" Ihrem Selbstbewußtsein konnte das nichts anhaben: "Jung und kräftig, und vom Mute strahlend, / Lebenswarm die Brust, das weiche Herz: / Mitwelt, Deine Schuld bezahlend, / Sticht die Nachwelt einst mein Bild in Erz."
Der Verlag, der jetzt Friederike Kempners gesammelte Lyrik auf den Markt brachte, hat diese Ausgabe ziemlich lieblos ediert. Die Gedichte sind nicht datiert, aber was in den acht Auflagen zwischen etwa 1860 und 1903 jeweils hinzugefügt worden ist, hätte sich anmerken lassen. Überhaupt wären Anmerkungen erwünscht gewesen, denn die erwähnten Namen und Begebenheiten sind nicht jedem Leser heute noch verständlich. Auch Hartmut Lange vermeidet in seinem Vorwort sorgfältig alle Fakten. Daß die Autorin außer Gedichten noch anderes geschrieben hat, wozu auch ihre Denkschriften gehören, wird gar nicht erst erwähnt, und die Gedichte sind auch nicht immer korrekt wiedergegeben.
Die Behauptung, Alfred Kerr habe sich "über die unerwünschte Namensgleichheit geärgert" (hieß sie Friederike Kerr?), ist Unsinn. Brecht hatte ihm vorgehalten, die unfreiwillige Komik seiner Kritiken sei ein Erbteil seiner Tante, aber Alfred Kempner (Kerr) war gar nicht Friederikes Neffe, was er in einem launigen Gedicht der Öffentlichkeit bekanntmachte.
Friederike Kempner liebte und bewunderte Byron, Börne, Heine und Freiligrath, und mit diesen, die Trivialität nicht immer gänzlich scheuenden Dichtern, ist sie im Zusammenhang zu sehen und weitaus weniger mit der Weimarer Klassik, zu der im Vorwort sehr bemüht Bezüge hergestellt werden. Die ständige Wechselbeziehung zwischen Hoch- und Trivialliteratur: Dazu könnte das einst so populäre Werk der Kempner schöne Materialien liefern, vor allem weil sie, anders als andere Autoren ihres Formats, sehr konkrete soziale Ziele verfolgte und sie im Alltag durchzusetzen versuchte und nicht nur auf dem Papier. So ist es ihr tatsächlich gelungen, die Einführung von Leichenhäusern und einer Aufbahrungspflicht zu erreichen: 1871 wurde das in Preußen Gesetz. Heute würde man das mit Recht eine "Lex Kempner" nennen. ECKART KLESSMANN
Friederike Kempner: "Gedichte". Ausgabe letzter Hand. Mit einem Vorwort von Hartmut Lange und mit Vignetten von Max Klinger. Matthes & Seitz Verlag, München 1995. 384 S., geb., 39,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Poesie ist Leben, Prosa ist der Tod: Friederike Kempners Gedichte
Sie kämpfte gegen die Einzelhaft, die Todesstrafe, die Vivisektion, vor allem aber engagierte sie sich für die Errichtung von Leichenhäusern, wo Tote vor der Beisetzung drei Tage aufgebahrt werden, da sie sich vor nichts so fürchtete wie vor dem Schicksal, lebendig begraben zu werden, eine Furcht, die sie mit Keller, Schnitzler und Brecht teilte. Sie bekämpfte den Antisemitismus, unter dem sie als Jüdin zu leiden hatte, und warb für einen sozialen Staat, in dem niemand mehr hungern und frieren sollte.
Sie selber konnte nicht klagen: Sie war die Tochter eines Gutspächters, der es später zu eigenem Besitz brachte und sich "Rittergutsbesitzer" nannte. Geboren wurde sie, Friederike Kempner, am 15. Juni 1836 in Opatow in der damals preußischen Provinz Posen, und als sie am 23. Februar 1904 starb, war noch ein zweites Gut hinzugekommen: Friederikenhof bei Reichthal nahe Breslau, und das hatte sie sich dank ihrer fleißigen Feder erworben.
Ihr Name wurde zum Synonym unfreiwilliger Komik. Über ihre Gedichte lachte ganz Deutschland, weil sich die Sprache dem gewählten Anspruch und der angestrebten Moral stets erfolgreich entzog. Etwa, wenn sie Amerika pries: "Amerika, das Land der Träume, / Du Wunderwelt so lang und breit, / Wie schön sind Deine Kokosbäume, / Und Deine rege Einsamkeit!" Oder gegen die Vivisektion wetterte: "Ein unbekanntes Band der Seelen kettet / Den Menschen an das arme Tier, / Das Tier hat einen Willen - ergo Seele - / Wenn auch 'ne kleinere als wir."
Nicht minder erbaute es die Zeitgenossen, wenn die Poetin mit den Tücken von Metrum und Reim rang: "Süßes Kindchen, Menschenräupchen, / Mach' kein bitterbös Gesicht, / Und verbitt're drum das Leben / Deinen Mite-Raupen nicht." Klar: "Mit-Raupen" - da hätte eine Silbe gefehlt, also setzt sie unerschrocken "Mite" ein, dann klappt's. Wie findet sich ein Reim auf Proletarier? "Wie heißt das Wort, das in der halben Welt / Man gleichbedeutend mit dem Elend hält, / Doch mit dem Elend, - das mit wack'rem Mut / Die schwere, große Arbeit tut? / Es ist, es heißt: der, der, der, der, / Es heißet: Proletarier!"
Kaum hatte - etwa 1860, das genaue Datum ist unbekannt - Friederike Kempner ihre ersten Gedichte im Selbstverlag veröffentlicht, da sprach es sich bald herum, welche Schätze in diesem Büchlein zu finden waren. Die Verwandtschaft versuchte, die Exemplare rasch aufzukaufen. Das aber hätte sie besser gelassen, denn alsbald wurde eine Neuauflage fällig, und nun bedrängten die aufmerksam gewordenen Verlage die Poetin, die der zweiten Auflage "Worte des Dankes an die liebe Lesewelt" voranschickte. Dabei hatte sie außer Gedichten auch Novellen veröffentlicht und Dramen wie "Berenize" (1860), "Rudolf der Zweite" (1867) und "Jahel" (1886), von denen einige auch aufgeführt wurden. "Aufgabe und Ziel der Poesie ist: die Wahrheit für alle zu veranschaulichen, - und durch ihren Sieg dereinst alle zu versöhnen", ließ die Autorin die "liebe Lesewelt" wissen.
In den Erzählungen blieb sie ihren Ideen treu. "Wasserleitungen von Kaffee und Bouillon" sollten für die Armen installiert werden ("In der goldenen Gans", 1898), und in der als "humoristische" betitelten Novelle "Eine Frage Friedrich's des Großen" protestiert sie gegen die Einzelhaft ("eine neue Erfindung Amerikas") und engagiert sich für den Feminismus ("Das ist das größte Übel auf Erden, daß die eine Hälfte des Menschengeschlechts unterdrückt wird von der anderen Hälfte"). Die Sozialversicherung der Arbeiter ist ihr ein eigenes Gedicht wert.
Natürlich gab es Neider und Spötter. "Dichtergrüße an Friederike Kempner" hieß ein 1885 anonym publiziertes Buch, dessen Autor sich "Methusalem" nannte. Er wußte wohl nicht, daß man unfreiwillige Komik nicht parodieren kann, und so sind seine Persiflagen durchweg einfallslos, simpel und kleinlich polemisch. Die Angegriffene reagierte gereizt: "Anonyme Flüche blitzen, / Zünden, treffen und erhitzen / Nur den Fluchenden allein. / Armer Flucher, urgemein!" Ihrem Selbstbewußtsein konnte das nichts anhaben: "Jung und kräftig, und vom Mute strahlend, / Lebenswarm die Brust, das weiche Herz: / Mitwelt, Deine Schuld bezahlend, / Sticht die Nachwelt einst mein Bild in Erz."
Der Verlag, der jetzt Friederike Kempners gesammelte Lyrik auf den Markt brachte, hat diese Ausgabe ziemlich lieblos ediert. Die Gedichte sind nicht datiert, aber was in den acht Auflagen zwischen etwa 1860 und 1903 jeweils hinzugefügt worden ist, hätte sich anmerken lassen. Überhaupt wären Anmerkungen erwünscht gewesen, denn die erwähnten Namen und Begebenheiten sind nicht jedem Leser heute noch verständlich. Auch Hartmut Lange vermeidet in seinem Vorwort sorgfältig alle Fakten. Daß die Autorin außer Gedichten noch anderes geschrieben hat, wozu auch ihre Denkschriften gehören, wird gar nicht erst erwähnt, und die Gedichte sind auch nicht immer korrekt wiedergegeben.
Die Behauptung, Alfred Kerr habe sich "über die unerwünschte Namensgleichheit geärgert" (hieß sie Friederike Kerr?), ist Unsinn. Brecht hatte ihm vorgehalten, die unfreiwillige Komik seiner Kritiken sei ein Erbteil seiner Tante, aber Alfred Kempner (Kerr) war gar nicht Friederikes Neffe, was er in einem launigen Gedicht der Öffentlichkeit bekanntmachte.
Friederike Kempner liebte und bewunderte Byron, Börne, Heine und Freiligrath, und mit diesen, die Trivialität nicht immer gänzlich scheuenden Dichtern, ist sie im Zusammenhang zu sehen und weitaus weniger mit der Weimarer Klassik, zu der im Vorwort sehr bemüht Bezüge hergestellt werden. Die ständige Wechselbeziehung zwischen Hoch- und Trivialliteratur: Dazu könnte das einst so populäre Werk der Kempner schöne Materialien liefern, vor allem weil sie, anders als andere Autoren ihres Formats, sehr konkrete soziale Ziele verfolgte und sie im Alltag durchzusetzen versuchte und nicht nur auf dem Papier. So ist es ihr tatsächlich gelungen, die Einführung von Leichenhäusern und einer Aufbahrungspflicht zu erreichen: 1871 wurde das in Preußen Gesetz. Heute würde man das mit Recht eine "Lex Kempner" nennen. ECKART KLESSMANN
Friederike Kempner: "Gedichte". Ausgabe letzter Hand. Mit einem Vorwort von Hartmut Lange und mit Vignetten von Max Klinger. Matthes & Seitz Verlag, München 1995. 384 S., geb., 39,80 DM.
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