Der Peter-Huchel-Preis, einer der renommiertesten Lyrikpreise, ging 2005 an Nicolas Born. Die Jury würdigte das Werk, das neben sämtlichen zu Lebzeiten publizierten Gedichten zahlreiche unveröffentlichte aus dem Nachlass enthält, als ´´herausragende Neuerscheinung des Jahres 2004´´. Born habe Gedichte von ´´extremer Sprachempfindlichkeit und Magie´´ geschrieben und in seltener Intensität die Vorstellung vom Glanz des einfachen und direkten Ausdrucks verwirklicht, ohne außer Acht zu lassen, was er zum Werk Ernst Meisters festgehalten hatte: ´Ein Gedicht muss dunkle Stellen haben´´.
Sein Werk, so die Jury weiter, weise Nicolas Born als ´´tonsetzende Figur´´ unter den Dichtern der siebziger Jahre aus. Auch heute noch besäßen seine Gedichte ´´außergewöhnliche Leuchtkraft´´.
Sein Werk, so die Jury weiter, weise Nicolas Born als ´´tonsetzende Figur´´ unter den Dichtern der siebziger Jahre aus. Auch heute noch besäßen seine Gedichte ´´außergewöhnliche Leuchtkraft´´.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.01.2005Aufgeblättertes Herz
Einer wie keiner: Die gesammelten Gedichte von Nicolas Born
Du lernst jemanden kennen, und plötzlich ist es da: dieses nicht erklärbare Gefühl, man kennt sich schon ein Leben lang. Du könntest die Sätze des anderen zu Ende führen oder sie beginnen, bevor er sie beginnt, kennst sein Lächeln, die Geste, wenn er nachdenkt, den tiefen Blick, die Falte auf der Stirn, die Art, wie er das Streichholz in die Hand nimmt und am Rand des Heftchens entzündet. Du kennst den Klang seiner Worte, die Melodie seiner Argumente, das unvermittelte Schweigen, die unterdrückte Wut, den versteckten Witz. Man ist schon zu alt, hat nicht mehr die Zeit, ein ganzes Leben nachzuholen, aber man muß es gar nicht, es ist da, alles. Die Zeit war auf der Überholspur, und wir in ihrem Windschatten.
Der 1979 verstorbene Nicolas Born, dessen zu Lebzeiten veröffentlichte und im Nachlaß gefundene Gedichte nun in einem wunderbaren Band versammelt sind, ist ein Autor, mit dem man sofort befreundet ist. Und wie das so ist mit Freunden: Man liebt sie, kann oft nicht einmal erklären, warum. Man geht mit ihnen ihre Wege, wie wirr sie auch sind, reist mit ihnen durch die Wüsten Amerikas und liegt mit ihnen am Pflasterstrand, empfindet eine Zärtlichkeit selbst für ihre Fehler. "Sollen dich meine schönen Verse immer / an meine häßlichen erinnern?" Nein, das sollen und werden sie nicht, nur die Schönheit der überraschend unangestrengten Verse brennt sich in die Erinnerung, nur ihr folgt die Spitze des Bleistifts, wenn er sie unterstreicht.
Natürlich gibt es auch Irritationen, man lebt sich auseinander, findet wieder zueinander, streitet sich, wirft sich die Wahrheit wie eine Flasche Bier an den Kopf und trinkt dann wieder zusammen, als wäre nichts geschehen. Selbst den diebischen Griff in Brechts große Manteltasche verzeiht man gerne, wenn er sich als "Selbstbildnis" tarnt: "Ich Zigarettenraucher halb schon Asche / Kaffeetrinker mit den älteren Damen / die mir halfen / wegen meiner sympathischen Fresse und / die Rücksichtslosigkeit mit der / ich höflich bin." Die ersten Gedichte sondieren noch die "Marktlage", so der Titel des ersten Bandes, suchen ihren eigenen Ton, sind in ihrer Lässigkeit noch etwas bemüht, wollen alles so, als ob nichts wäre, spannen ihre Muskeln für die Schlagworte der Zeit: Papst, Krupp, Starfighter, Nato. Aber dennoch entwickeln sie schon ein Sensorium für die Zeit, die schleichende Veränderung der Sprache durch ihre Kommerzialisierung, den Wechsel der Utopien und Wunschträume in die Versprechungen der Werbung: "Stunden verwend ich auf mich / Tage auf das Mobiliar / ich esse Obst und bleibe gesund. / Selten mach ich die Liebe, selten bin ich Dieb im Discount. / Wöchentlich spare ich eine Rasur / mit der blauen Gillette."
Diese Gedichte sind ein Inventar der alten Bundesrepublik, ihrer Gegenstände, ihrer Ängste, ihrer Eitelkeiten und Selbstüberschätzungen, des anfänglich erstickenden Konservatismus und der Rebellion, sie erzählen von beschädigten und befreiten Biographien, von Nachrufen auf eine Arbeitswelt und ihre einfachen Menschen, die heute zugleich ein Nachruf auf die Arbeit sind, die fehlt wie den Menschen die Hoffnung darauf. Sie erzählen von als Parasiten denunzierten Künstlern, ihren Nöten, ihren privaten Widersprüchen, erzählen davon, daß alles nicht zusammengeht, die Politik und die Familie, das wilde Dichterleben und das Windelnwechseln, die bürgerliche Sicherheit und das sich Vergeuden in den Abenteuern, die an jeder Ecke lauern und in der Weite der Welt, deren Grenzen sich mit dem Erfolg dem suchenden Dichter immer mehr öffnen: "Wir sind keine Pferdediebe allerdings Deutsche / unsere Höflichkeit ist die Höflichkeit von Ausländern / wir werden schneller / wir meinen wir sausen / eingepackt in süße Luft / und in eine Musik die nie aufhört / altern wir ganz langsam / vielen Dank Pentagon / für diesen statistischen Verzögerungseffekt." Die Reise in die Vereinigten Staaten hat seinen Gedichten einen neuen Sound und Beat gegeben, ohne daß er, trotz aller Bewunderung, ein Beatnik geworden wäre; vielmehr konnte er Hölderlin und Ginsberg zusammendenken und auf eine Zeile bringen. Nomaden reisen niemals ohne Grund.
So begleitet man in dem Band Nicolas Born Gedicht für Gedicht durch sein Leben, blättert in seinem Kopf, schlägt sein Herz um, hört auf seine Stimme, wenn sie flüstert, wenn sie schreit, will ihn in den Arm nehmen oder ermutigen, teilt seinen Haß und seine Freuden, und immer lacht man mit ihm und ist überwältigt von seiner Selbstironie: "Ich, einer wie alle, verletzt von Angst / komme täglich unverletzt / aus dem Kugelhagel heraus."
Mit Freunden hat man zusammen Geheimnisse, die man mit niemand sonst teilt, versteht Andeutungen, die den anderen ein Rätsel sind. Und immer wieder geht es um die Liebe, die Enttäuschung, das Glück, das doch so nah war, zum Greifen nah: "In Köln-Knapsack küßte ich eine Frau / (. . .) / Wir verabredeten uns auf einen Zufall. / So bald komme ich nicht mehr nach / Köln-Knappsack." Und dann geht es auch um die Eifersucht, wenn plötzlich ein anderer Mensch näher dem Herzschlag ist als der Freund, wenn eine Fremdheit sich einschleicht, die nicht aus dem gemeinsam Erfahrenen erklärbar ist. Oder man hat verschiedene Ansichten, politisch, ästhetisch, im Leben. Aber so ist das mit Freundschaft, man verzeiht, drückt ein Auge zu, unterdrückt den Widerspruch, hat Geduld. Da ist etwas, das ist unverwundbar, etwas, das einem niemand mehr nehmen kann. Und weil die Freundschaft dies alles ist und mehr, müssen die Freunde auch ins Gedicht: "Piwitt fragt mich ob er hier vorkommt / ja sage ich aber nur als Name / er ist zufrieden und bricht auf / zu einer Wanderung."
Nicolas Born bricht das Gedicht auf ins Persönliche, nimmt ihm seine sakrale Aura, ersetzt das auratische "Es", das spricht, durch ein simples "Ich", er zeigt, wie ein Gedicht gemacht wird und was er macht, während er ein Gedicht schreibt: "Und hier schiebt sich zart und ungerecht / ein Rumpsteak ins Gedicht / das man irgendeinem namenlosen Tier / irgendwo in der Welt weggeschnitten hat." Vor allem aber zeigt er, was es ihn kostet, das Gedichtemachen, oder was es nach Meinung seiner Zeitgenossen kosten sollte: "Auch ich könnte mitten in einer Gedichtzeile / wegbleiben / nichts trennt mich vom Sozialismus / aber mein Stoffwechsel dreht mich um / wird der Kaffee drei- bis fünfmal so teuer / wenn wir die Gerechtigkeit haben / ist es eine Tragödie wenn ich so lange / bei dir bin / wenn ich diesen Tisch verrücke / Ist das dann / ein Vorgang in Worten."
Bei allem Alltagszauber ist Born stets sprachreflexiv, erörtert bis an die eigenen Schreibblockaden die Grenzen des Gedichts: "Wenn ich vor mir selbst bestehen will / mache ich immer etwas anderes, hol Kohlen / aus dem Keller / oder verbrenne einen Satz von dem ich tagelang meine / er hätte gehalten." Wir sind bei ihm immer "Im Inneren der Gedichte", dort erkennt er: "Du kannst nicht davon leben / mit der Wirklichkeit zu konkurrieren / noch kannst du von der Wirklichkeit leben / aber du kannst einen Eingriff überleben / und alles zurück kriegen / und durch Das Leben gehen / durch schnell verfallende Bilder / das warst du."
Diese "verfallenden Bilder" sind auch die Bilder des Film, wie überhaupt das Kino für Born eine ästhetisch zentrale Rolle spielt, seine Schnitte, Rückblenden, schnellen Wechsel, die neuen Erzählformen, die fremden Welten. Er ging mit seinen Frauen ins Kino - "NACH DIESER ERSTEN ZEILE / bin ich erst mal ins Kino gegangen" - und ging mit dem Kino in seine Gedichte: "Ich taste mich ab / ich bin zweifellos in einem Film / ich bin voll / synchronisiert." Er beobachtet eine Frau in einem Bahnhof und plötzlich erscheint sie ihm "wie die Rückblende in einem Zufallsfilm / den noch keiner gesehen hat". Genau so ergeht es einem beim Lesen, man denkt, man kennt das alles schon, selbst die Zufälle, aber man hat es so noch nicht gesehen und blendet sich ein in dieses Leben.
Man ist dankbar für diese Rückblende auf einen Dichter, dessen Gedichte fast verschwunden waren und so ein Gewinn sind für das Jetzt, das Erinnern in die Zukunft aus dem Wissen um das Geschehene, die Geschichte und ihre Geschichten. Die Tochter Katharina Born hat diesen fast siebenhundert Seiten starken Band mit viel Liebe, Einfühlvermögen, umfassenden Textnachweisen und -varianten, und einem sehr persönlichen biographischen Essay herausgegeben, hat nicht ohne gemischte Gefühle und auch mit etwas Angst den alten Schrank geöffnet, der den Nachlaß ihres Vaters hütete.
Man ist am Anfang etwas erschrocken, braucht die ganze Hand, um diesen Gedichtband zu umfassen, aber er umfaßt ja auch ein ganzes Dichterleben. 1979 starb Nicolas Born an Krebs. Ende November 1977 schreibt er in dem Gedicht "Ein paar Notizen aus dem Elbholz": "Wenn ich sterbe will ich allein sein / nicht mich berühren, nichts verwischen / kein Wort / es soll alles echt aussehen." Es ist nichts verwischt, nichts vergessen. Seine Gedichte sind echt, so echt wie die Freundschaft und so lebendig wie die Erinnerung an einen Freund, der uns zu früh verlassen hat. ",leben' ist auch so ein Wort / das sich langsam dreht / als wäre wirklich alles ganz einfach / und es ist einfach / ein ganzes Stück Welt in sich zu spüren."
Nicolas Born: "Gedichte". Herausgegeben von Katharina Born. Wallstein Verlag, Göttingen 2004. 666 S., 16 Abb., geb., 34,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Einer wie keiner: Die gesammelten Gedichte von Nicolas Born
Du lernst jemanden kennen, und plötzlich ist es da: dieses nicht erklärbare Gefühl, man kennt sich schon ein Leben lang. Du könntest die Sätze des anderen zu Ende führen oder sie beginnen, bevor er sie beginnt, kennst sein Lächeln, die Geste, wenn er nachdenkt, den tiefen Blick, die Falte auf der Stirn, die Art, wie er das Streichholz in die Hand nimmt und am Rand des Heftchens entzündet. Du kennst den Klang seiner Worte, die Melodie seiner Argumente, das unvermittelte Schweigen, die unterdrückte Wut, den versteckten Witz. Man ist schon zu alt, hat nicht mehr die Zeit, ein ganzes Leben nachzuholen, aber man muß es gar nicht, es ist da, alles. Die Zeit war auf der Überholspur, und wir in ihrem Windschatten.
Der 1979 verstorbene Nicolas Born, dessen zu Lebzeiten veröffentlichte und im Nachlaß gefundene Gedichte nun in einem wunderbaren Band versammelt sind, ist ein Autor, mit dem man sofort befreundet ist. Und wie das so ist mit Freunden: Man liebt sie, kann oft nicht einmal erklären, warum. Man geht mit ihnen ihre Wege, wie wirr sie auch sind, reist mit ihnen durch die Wüsten Amerikas und liegt mit ihnen am Pflasterstrand, empfindet eine Zärtlichkeit selbst für ihre Fehler. "Sollen dich meine schönen Verse immer / an meine häßlichen erinnern?" Nein, das sollen und werden sie nicht, nur die Schönheit der überraschend unangestrengten Verse brennt sich in die Erinnerung, nur ihr folgt die Spitze des Bleistifts, wenn er sie unterstreicht.
Natürlich gibt es auch Irritationen, man lebt sich auseinander, findet wieder zueinander, streitet sich, wirft sich die Wahrheit wie eine Flasche Bier an den Kopf und trinkt dann wieder zusammen, als wäre nichts geschehen. Selbst den diebischen Griff in Brechts große Manteltasche verzeiht man gerne, wenn er sich als "Selbstbildnis" tarnt: "Ich Zigarettenraucher halb schon Asche / Kaffeetrinker mit den älteren Damen / die mir halfen / wegen meiner sympathischen Fresse und / die Rücksichtslosigkeit mit der / ich höflich bin." Die ersten Gedichte sondieren noch die "Marktlage", so der Titel des ersten Bandes, suchen ihren eigenen Ton, sind in ihrer Lässigkeit noch etwas bemüht, wollen alles so, als ob nichts wäre, spannen ihre Muskeln für die Schlagworte der Zeit: Papst, Krupp, Starfighter, Nato. Aber dennoch entwickeln sie schon ein Sensorium für die Zeit, die schleichende Veränderung der Sprache durch ihre Kommerzialisierung, den Wechsel der Utopien und Wunschträume in die Versprechungen der Werbung: "Stunden verwend ich auf mich / Tage auf das Mobiliar / ich esse Obst und bleibe gesund. / Selten mach ich die Liebe, selten bin ich Dieb im Discount. / Wöchentlich spare ich eine Rasur / mit der blauen Gillette."
Diese Gedichte sind ein Inventar der alten Bundesrepublik, ihrer Gegenstände, ihrer Ängste, ihrer Eitelkeiten und Selbstüberschätzungen, des anfänglich erstickenden Konservatismus und der Rebellion, sie erzählen von beschädigten und befreiten Biographien, von Nachrufen auf eine Arbeitswelt und ihre einfachen Menschen, die heute zugleich ein Nachruf auf die Arbeit sind, die fehlt wie den Menschen die Hoffnung darauf. Sie erzählen von als Parasiten denunzierten Künstlern, ihren Nöten, ihren privaten Widersprüchen, erzählen davon, daß alles nicht zusammengeht, die Politik und die Familie, das wilde Dichterleben und das Windelnwechseln, die bürgerliche Sicherheit und das sich Vergeuden in den Abenteuern, die an jeder Ecke lauern und in der Weite der Welt, deren Grenzen sich mit dem Erfolg dem suchenden Dichter immer mehr öffnen: "Wir sind keine Pferdediebe allerdings Deutsche / unsere Höflichkeit ist die Höflichkeit von Ausländern / wir werden schneller / wir meinen wir sausen / eingepackt in süße Luft / und in eine Musik die nie aufhört / altern wir ganz langsam / vielen Dank Pentagon / für diesen statistischen Verzögerungseffekt." Die Reise in die Vereinigten Staaten hat seinen Gedichten einen neuen Sound und Beat gegeben, ohne daß er, trotz aller Bewunderung, ein Beatnik geworden wäre; vielmehr konnte er Hölderlin und Ginsberg zusammendenken und auf eine Zeile bringen. Nomaden reisen niemals ohne Grund.
So begleitet man in dem Band Nicolas Born Gedicht für Gedicht durch sein Leben, blättert in seinem Kopf, schlägt sein Herz um, hört auf seine Stimme, wenn sie flüstert, wenn sie schreit, will ihn in den Arm nehmen oder ermutigen, teilt seinen Haß und seine Freuden, und immer lacht man mit ihm und ist überwältigt von seiner Selbstironie: "Ich, einer wie alle, verletzt von Angst / komme täglich unverletzt / aus dem Kugelhagel heraus."
Mit Freunden hat man zusammen Geheimnisse, die man mit niemand sonst teilt, versteht Andeutungen, die den anderen ein Rätsel sind. Und immer wieder geht es um die Liebe, die Enttäuschung, das Glück, das doch so nah war, zum Greifen nah: "In Köln-Knapsack küßte ich eine Frau / (. . .) / Wir verabredeten uns auf einen Zufall. / So bald komme ich nicht mehr nach / Köln-Knappsack." Und dann geht es auch um die Eifersucht, wenn plötzlich ein anderer Mensch näher dem Herzschlag ist als der Freund, wenn eine Fremdheit sich einschleicht, die nicht aus dem gemeinsam Erfahrenen erklärbar ist. Oder man hat verschiedene Ansichten, politisch, ästhetisch, im Leben. Aber so ist das mit Freundschaft, man verzeiht, drückt ein Auge zu, unterdrückt den Widerspruch, hat Geduld. Da ist etwas, das ist unverwundbar, etwas, das einem niemand mehr nehmen kann. Und weil die Freundschaft dies alles ist und mehr, müssen die Freunde auch ins Gedicht: "Piwitt fragt mich ob er hier vorkommt / ja sage ich aber nur als Name / er ist zufrieden und bricht auf / zu einer Wanderung."
Nicolas Born bricht das Gedicht auf ins Persönliche, nimmt ihm seine sakrale Aura, ersetzt das auratische "Es", das spricht, durch ein simples "Ich", er zeigt, wie ein Gedicht gemacht wird und was er macht, während er ein Gedicht schreibt: "Und hier schiebt sich zart und ungerecht / ein Rumpsteak ins Gedicht / das man irgendeinem namenlosen Tier / irgendwo in der Welt weggeschnitten hat." Vor allem aber zeigt er, was es ihn kostet, das Gedichtemachen, oder was es nach Meinung seiner Zeitgenossen kosten sollte: "Auch ich könnte mitten in einer Gedichtzeile / wegbleiben / nichts trennt mich vom Sozialismus / aber mein Stoffwechsel dreht mich um / wird der Kaffee drei- bis fünfmal so teuer / wenn wir die Gerechtigkeit haben / ist es eine Tragödie wenn ich so lange / bei dir bin / wenn ich diesen Tisch verrücke / Ist das dann / ein Vorgang in Worten."
Bei allem Alltagszauber ist Born stets sprachreflexiv, erörtert bis an die eigenen Schreibblockaden die Grenzen des Gedichts: "Wenn ich vor mir selbst bestehen will / mache ich immer etwas anderes, hol Kohlen / aus dem Keller / oder verbrenne einen Satz von dem ich tagelang meine / er hätte gehalten." Wir sind bei ihm immer "Im Inneren der Gedichte", dort erkennt er: "Du kannst nicht davon leben / mit der Wirklichkeit zu konkurrieren / noch kannst du von der Wirklichkeit leben / aber du kannst einen Eingriff überleben / und alles zurück kriegen / und durch Das Leben gehen / durch schnell verfallende Bilder / das warst du."
Diese "verfallenden Bilder" sind auch die Bilder des Film, wie überhaupt das Kino für Born eine ästhetisch zentrale Rolle spielt, seine Schnitte, Rückblenden, schnellen Wechsel, die neuen Erzählformen, die fremden Welten. Er ging mit seinen Frauen ins Kino - "NACH DIESER ERSTEN ZEILE / bin ich erst mal ins Kino gegangen" - und ging mit dem Kino in seine Gedichte: "Ich taste mich ab / ich bin zweifellos in einem Film / ich bin voll / synchronisiert." Er beobachtet eine Frau in einem Bahnhof und plötzlich erscheint sie ihm "wie die Rückblende in einem Zufallsfilm / den noch keiner gesehen hat". Genau so ergeht es einem beim Lesen, man denkt, man kennt das alles schon, selbst die Zufälle, aber man hat es so noch nicht gesehen und blendet sich ein in dieses Leben.
Man ist dankbar für diese Rückblende auf einen Dichter, dessen Gedichte fast verschwunden waren und so ein Gewinn sind für das Jetzt, das Erinnern in die Zukunft aus dem Wissen um das Geschehene, die Geschichte und ihre Geschichten. Die Tochter Katharina Born hat diesen fast siebenhundert Seiten starken Band mit viel Liebe, Einfühlvermögen, umfassenden Textnachweisen und -varianten, und einem sehr persönlichen biographischen Essay herausgegeben, hat nicht ohne gemischte Gefühle und auch mit etwas Angst den alten Schrank geöffnet, der den Nachlaß ihres Vaters hütete.
Man ist am Anfang etwas erschrocken, braucht die ganze Hand, um diesen Gedichtband zu umfassen, aber er umfaßt ja auch ein ganzes Dichterleben. 1979 starb Nicolas Born an Krebs. Ende November 1977 schreibt er in dem Gedicht "Ein paar Notizen aus dem Elbholz": "Wenn ich sterbe will ich allein sein / nicht mich berühren, nichts verwischen / kein Wort / es soll alles echt aussehen." Es ist nichts verwischt, nichts vergessen. Seine Gedichte sind echt, so echt wie die Freundschaft und so lebendig wie die Erinnerung an einen Freund, der uns zu früh verlassen hat. ",leben' ist auch so ein Wort / das sich langsam dreht / als wäre wirklich alles ganz einfach / und es ist einfach / ein ganzes Stück Welt in sich zu spüren."
Nicolas Born: "Gedichte". Herausgegeben von Katharina Born. Wallstein Verlag, Göttingen 2004. 666 S., 16 Abb., geb., 34,- [Euro].
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.11.2004Ein Projektil ziert jede Wand
Der früh Verstorbene hinterließ viel in seinem Wandschrank. Jetzt hat sich Nicolas Borns Familie an den reichen Nachlass herangewagt
Vor 25 Jahren ist in Breese in der Elbmarsch bei Dannenberg der Lyriker und Romancier Nicolas Born gestorben. Als einen „werdenden deutschen Camus” hat ihn später sein Verleger Ledig-Rowohlt bezeichnet. Das mag man übertrieben finden, aber tatsächlich wurde Borns literarisches Werk in seinem Rang und Umriss eben erst erkennbar, als der Autor mit kaum 42 Jahren starb. Trotz solcher posthumen Prophezeiungen wurde es um Born zunehmend stiller. Zwar verschaffte Volker Schlöndorffs Verfilmung der „Fälschung” Borns Roman ein halbwegs beständiges Nachleben, aber zugleich nährte der Film - mit einem schwermütig dreinblickenden Bruno Ganz - auch den Verdacht, Borns Bücher seien der „bleiernen Zeit”, den depressiven Siebzigern derart verhaftet, dass sie später allenfalls noch als Zeitdokument in Betracht kamen. Irgendwann hatte man Born das Etikett „Neue Subjektivität” angeheftet, und Born war nicht mehr die Zeit gegeben, es zu widerlegen oder wenigstens es abzustreifen.
Wer Born sagt, kann an Camus denken, aber vielleicht fallen einem auch lange nicht gehörte Namen wie die von Jürgen Theobaldy oder Hermann Peter Piwitt wieder ein, von Freunden, Weggefährten und Verlagskollegen Borns aus den siebziger Jahren, die wie er in Jürgen Mantheys Taschenbuchreihe „Das neue Buch” publizierten und das ihre zum kurzen Sommer einer „Rowohlt-Culture” beitrugen. Hier erschien, neben neuen Büchern von Rühmkorf und Jelinek, 1972 auch „Das Auge des Entdeckers”, der erste vom breiten Publikum beachtete Gedichtband von Nicolas Born. Es sollte sein letzter in Rowohlts Reihe bleiben, in der ein paar Jahre später die Selbsterfahrungsprosa der Maria Erlenberger („Der Hunger nach Wahnsinn”) für Aufsehen sorgte. An Borns Lyrik lässt sich dieser eigentümliche deutsche Stimmungsumschwung zwischen den Jahren 1972 und 1977, der Gang in die Depression, mustergültig nachvollziehen. Kaum ist das Auge des Entdeckers als lyrisches Sehwerkzeug ausgerufen, hat es auch schon wieder ausgedient. Der imaginative Optimismus des Jahres 1972 hielt nicht lang.
Seiner offenkundigen Historizität, seinem schweren „Zeitgefühl” zum Trotz findet Nicolas Borns Werk seit einiger Zeit wieder stärkere Beachtung. Es gibt Nicolas-Born-Preise, ein Born-Archiv und eine Born-Ausstellung im Wendland, wo Born in den letzten Lebensjahren mit seiner Familie lebte. Und es gibt neuerdings eine von seiner Tochter Katharina Born herausgegebene kritische Ausgabe seiner Gedichte, die neben den bereits veröffentlichten Arbeiten eine große Zahl unveröffentlichter Gedichte aus Borns Nachlass enthält. Sie enthält auch ein liebevolles und kluges Porträt des Schriftstellers und Vaters Nicolas Born, verfasst von seiner Tochter, die bei Borns Tod sechs Jahre alt war. Darin erzählt sie von dem alten Schrank, der die gesamte literarische Habe ihres Vaters beherbergte, nachdem das erste Wohnhaus der Familie im Wendland 1976 abgebrannt war. „Für uns Kinder”, schreibt Katharina Born, „war der Schrank immer das einzige Terrain im großen Bauernhaus in Breese gewesen, in das wir nicht eindringen durften.” Der Bann hat lange über Borns Tod hinaus Bestand gehabt. Erst jetzt mochten Borns Frau und die beiden Töchter an die Sichtung des Nachlasses gehen.
Dass Born nach der Schule als Chemigraf im Ruhrgebiet tätig gewesen sei, steht in jeder Kurzbiografie des Autors, aber hier erfüllt sich dieser Beruf erstmals mit Leben. In der Klischee-Anstalt Vignold in Essen hat Born als Vierzehnjähriger begonnen, Klischees zu ätzen, Druckplatten also, die als Vorlagen für Plakate und Fotos dienten. Literarisch ist der junge, lesewütige Mann Autodidakt: Ernst Meister im nahen Hagen ist eines seiner Vorbilder, Johannes Bobrowski wird später ein anderes. Ein Meilenstein in Borns literarischer Entwicklung ist der „Lehrgang Prosaschreiben”, der 1964 im Literarischen Colloquium Berlin stattfindet. Unter den Schülern befinden sich Peter Bichsel, H. C. Buch, Hubert Fichte und Ror Wolf; Vorträge werden gehalten von Michel Butor, Ernst Bloch, John Steinbeck, Witold Gombrowicz und anderen. Born gerät in den Einzugsbereich der Gruppe 47 und später in die Nähe der von Dieter Wellershoff propagierten „Kölner Schule”. Mitte der sechziger Jahre, als sein erster Roman, „Der zweite Tag”, erscheint, ist Born mit einem Mal etabliert, lebt in Berlin, und zieht mit Grass und Chotjewitz durch die Kneipen am Savignyplatz. Mit Grass verbindet ihn der unakademische Habitus, die Erfahrung mit Handarbeit, die sozialdemokratische Gesinnung und die Abneigung gegen den studentischen Radikalismus.
Literarisch bedeutsam wird Born wohl erst in dem Moment, da er die in manchen frühen Gedichten spürbare Grass-Affinität aufgibt und sich ebenso von Wellershoffs „Neuem Realismus” verabschiedet, um mit dem „Auge des Entdeckers” erstmals aufs Ganze zu gehen: aufs Ganze einer damals vielleicht neuen Subjektivität, für die als erster Karl Heinz Bohrer die passenden Worte fand, als er Borns Gedichte, namentlich eines mit dem Titel „Drei Wünsche”, mit einer neuen Tendenz zum Utopischen in Verbindung brachte: „Sind Tatsachen nicht quälend und langweilig? / Ist es nicht besser drei Wünsche zu haben / unter der Bedingung, daß sie allen erfüllt werden? / Ich wünsche ein Leben ohne große Pausen / in denen die Wände nach Projektilen abgesucht werden / ein Leben, das nicht heruntergeblättert wird / von Kassierern”. Der demokratische Hedonismus, den Born hier verkündet, ist politisch anspruchslos geworden. Er zehrt von der Einsicht, dass das Wünschen nur noch denen helfen kann, die ihr Heil im Privaten suchen. Von Grass zu Handke, so ließe sich Borns Weg beschreiben, ein Weg in die „Innerlichkeit” vielleicht, jedenfalls ein Weg ins Freie, wo, nach Handkes Wort, nichts anderes einen bedrücken darf und soll als das „Gewicht der Welt”.
Dieses Gewicht allerdings erweist sich in Borns letzten Lebensjahren als unerträglich. Mit „Die erdabgewandte Seite der Geschichte” legt Born 1976 einen der finstersten Romane der deutschen Literatur vor. Die Beziehungen sind kaputt, die Umwelt ist bedroht, und wir hängen am „Tropf der Systeme”, so klingt es aus den späten „Notizen aus dem Elbholz”, aber dann finden sich andererseits und immer noch auch Spuren des absichtslos Schönen, die den Idylliker Born besänftigen. In Borns späten Gedichten ist ein stilles Pathos am Werk, eine karge Innigkeit, die man wohl ganz zu Unrecht mit seinem bevorstehenden Tod und mit der Geste des Abschieds in Verbindung bringt. Vielleicht hatte der Lyriker Born damals gerade erst seine Sprache gefunden.
Nicolas Born
Gedichte
Herausgegeben von Katharina Born. Wallstein Verlag, Göttingen 2004. 666 Seiten, 34 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Der früh Verstorbene hinterließ viel in seinem Wandschrank. Jetzt hat sich Nicolas Borns Familie an den reichen Nachlass herangewagt
Vor 25 Jahren ist in Breese in der Elbmarsch bei Dannenberg der Lyriker und Romancier Nicolas Born gestorben. Als einen „werdenden deutschen Camus” hat ihn später sein Verleger Ledig-Rowohlt bezeichnet. Das mag man übertrieben finden, aber tatsächlich wurde Borns literarisches Werk in seinem Rang und Umriss eben erst erkennbar, als der Autor mit kaum 42 Jahren starb. Trotz solcher posthumen Prophezeiungen wurde es um Born zunehmend stiller. Zwar verschaffte Volker Schlöndorffs Verfilmung der „Fälschung” Borns Roman ein halbwegs beständiges Nachleben, aber zugleich nährte der Film - mit einem schwermütig dreinblickenden Bruno Ganz - auch den Verdacht, Borns Bücher seien der „bleiernen Zeit”, den depressiven Siebzigern derart verhaftet, dass sie später allenfalls noch als Zeitdokument in Betracht kamen. Irgendwann hatte man Born das Etikett „Neue Subjektivität” angeheftet, und Born war nicht mehr die Zeit gegeben, es zu widerlegen oder wenigstens es abzustreifen.
Wer Born sagt, kann an Camus denken, aber vielleicht fallen einem auch lange nicht gehörte Namen wie die von Jürgen Theobaldy oder Hermann Peter Piwitt wieder ein, von Freunden, Weggefährten und Verlagskollegen Borns aus den siebziger Jahren, die wie er in Jürgen Mantheys Taschenbuchreihe „Das neue Buch” publizierten und das ihre zum kurzen Sommer einer „Rowohlt-Culture” beitrugen. Hier erschien, neben neuen Büchern von Rühmkorf und Jelinek, 1972 auch „Das Auge des Entdeckers”, der erste vom breiten Publikum beachtete Gedichtband von Nicolas Born. Es sollte sein letzter in Rowohlts Reihe bleiben, in der ein paar Jahre später die Selbsterfahrungsprosa der Maria Erlenberger („Der Hunger nach Wahnsinn”) für Aufsehen sorgte. An Borns Lyrik lässt sich dieser eigentümliche deutsche Stimmungsumschwung zwischen den Jahren 1972 und 1977, der Gang in die Depression, mustergültig nachvollziehen. Kaum ist das Auge des Entdeckers als lyrisches Sehwerkzeug ausgerufen, hat es auch schon wieder ausgedient. Der imaginative Optimismus des Jahres 1972 hielt nicht lang.
Seiner offenkundigen Historizität, seinem schweren „Zeitgefühl” zum Trotz findet Nicolas Borns Werk seit einiger Zeit wieder stärkere Beachtung. Es gibt Nicolas-Born-Preise, ein Born-Archiv und eine Born-Ausstellung im Wendland, wo Born in den letzten Lebensjahren mit seiner Familie lebte. Und es gibt neuerdings eine von seiner Tochter Katharina Born herausgegebene kritische Ausgabe seiner Gedichte, die neben den bereits veröffentlichten Arbeiten eine große Zahl unveröffentlichter Gedichte aus Borns Nachlass enthält. Sie enthält auch ein liebevolles und kluges Porträt des Schriftstellers und Vaters Nicolas Born, verfasst von seiner Tochter, die bei Borns Tod sechs Jahre alt war. Darin erzählt sie von dem alten Schrank, der die gesamte literarische Habe ihres Vaters beherbergte, nachdem das erste Wohnhaus der Familie im Wendland 1976 abgebrannt war. „Für uns Kinder”, schreibt Katharina Born, „war der Schrank immer das einzige Terrain im großen Bauernhaus in Breese gewesen, in das wir nicht eindringen durften.” Der Bann hat lange über Borns Tod hinaus Bestand gehabt. Erst jetzt mochten Borns Frau und die beiden Töchter an die Sichtung des Nachlasses gehen.
Dass Born nach der Schule als Chemigraf im Ruhrgebiet tätig gewesen sei, steht in jeder Kurzbiografie des Autors, aber hier erfüllt sich dieser Beruf erstmals mit Leben. In der Klischee-Anstalt Vignold in Essen hat Born als Vierzehnjähriger begonnen, Klischees zu ätzen, Druckplatten also, die als Vorlagen für Plakate und Fotos dienten. Literarisch ist der junge, lesewütige Mann Autodidakt: Ernst Meister im nahen Hagen ist eines seiner Vorbilder, Johannes Bobrowski wird später ein anderes. Ein Meilenstein in Borns literarischer Entwicklung ist der „Lehrgang Prosaschreiben”, der 1964 im Literarischen Colloquium Berlin stattfindet. Unter den Schülern befinden sich Peter Bichsel, H. C. Buch, Hubert Fichte und Ror Wolf; Vorträge werden gehalten von Michel Butor, Ernst Bloch, John Steinbeck, Witold Gombrowicz und anderen. Born gerät in den Einzugsbereich der Gruppe 47 und später in die Nähe der von Dieter Wellershoff propagierten „Kölner Schule”. Mitte der sechziger Jahre, als sein erster Roman, „Der zweite Tag”, erscheint, ist Born mit einem Mal etabliert, lebt in Berlin, und zieht mit Grass und Chotjewitz durch die Kneipen am Savignyplatz. Mit Grass verbindet ihn der unakademische Habitus, die Erfahrung mit Handarbeit, die sozialdemokratische Gesinnung und die Abneigung gegen den studentischen Radikalismus.
Literarisch bedeutsam wird Born wohl erst in dem Moment, da er die in manchen frühen Gedichten spürbare Grass-Affinität aufgibt und sich ebenso von Wellershoffs „Neuem Realismus” verabschiedet, um mit dem „Auge des Entdeckers” erstmals aufs Ganze zu gehen: aufs Ganze einer damals vielleicht neuen Subjektivität, für die als erster Karl Heinz Bohrer die passenden Worte fand, als er Borns Gedichte, namentlich eines mit dem Titel „Drei Wünsche”, mit einer neuen Tendenz zum Utopischen in Verbindung brachte: „Sind Tatsachen nicht quälend und langweilig? / Ist es nicht besser drei Wünsche zu haben / unter der Bedingung, daß sie allen erfüllt werden? / Ich wünsche ein Leben ohne große Pausen / in denen die Wände nach Projektilen abgesucht werden / ein Leben, das nicht heruntergeblättert wird / von Kassierern”. Der demokratische Hedonismus, den Born hier verkündet, ist politisch anspruchslos geworden. Er zehrt von der Einsicht, dass das Wünschen nur noch denen helfen kann, die ihr Heil im Privaten suchen. Von Grass zu Handke, so ließe sich Borns Weg beschreiben, ein Weg in die „Innerlichkeit” vielleicht, jedenfalls ein Weg ins Freie, wo, nach Handkes Wort, nichts anderes einen bedrücken darf und soll als das „Gewicht der Welt”.
Dieses Gewicht allerdings erweist sich in Borns letzten Lebensjahren als unerträglich. Mit „Die erdabgewandte Seite der Geschichte” legt Born 1976 einen der finstersten Romane der deutschen Literatur vor. Die Beziehungen sind kaputt, die Umwelt ist bedroht, und wir hängen am „Tropf der Systeme”, so klingt es aus den späten „Notizen aus dem Elbholz”, aber dann finden sich andererseits und immer noch auch Spuren des absichtslos Schönen, die den Idylliker Born besänftigen. In Borns späten Gedichten ist ein stilles Pathos am Werk, eine karge Innigkeit, die man wohl ganz zu Unrecht mit seinem bevorstehenden Tod und mit der Geste des Abschieds in Verbindung bringt. Vielleicht hatte der Lyriker Born damals gerade erst seine Sprache gefunden.
Nicolas Born
Gedichte
Herausgegeben von Katharina Born. Wallstein Verlag, Göttingen 2004. 666 Seiten, 34 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Als "wunderbar" feiert der rezensierende Schriftsteller Albert Ostermaier diesen Band mit Nicolas Borns gesammelten Gedichten, die für ihn zum "Inventar der alten Bundesrepublik" gehören mit ihren Ängsten, Eitelkeiten und Größenphantasien. Während des Lesens begleitet er Born Gedicht für Gedicht durch dessen Leben, überwältigt von der Kunst und der Selbstironie des Autors. Bei allem Alltagszauber bleibt Born für Ostermaier trotzdem "stets sprachreflexiv". Er erörtere bis an die eigenen Schreibblockladen die Grenzen der Lyrik. Auch an Borns Tochter Katharina geht ein dickes Lob für diese liebevolle und kenntnisreiche Edition. Die Textnachweise und -varianten schätzt er ebenso wie ihren sehr persönlichen biografischen Essay.
© Perlentaucher Medien GmbH
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