Du Fu (712-770) gilt in China als größter Dichter und als das wichtigste Vorbild der nachfolgenden Lyriker. Der "heilige Dichter" lebte zur Zeit der Tang-Dynastie (618-905), als die klassische chinesische Lyrik in ihrer Hochblüte stand. Rund 1400 Gedichte umfasst sein überliefertes Werk. Virtuos meisterte Du Fu die ihm zu Gebote stehenden Formen und erschloss der chinesischen Dichtkunst neue Stoffe, indem er mit bis dahin unbekanntem Realismus eigene und fremde Not darstellte. Seine geistreichen Momentaufnahmen des Alltagslebens waren in ihrer schlichten Kultiviertheit ebenso zukunftsweisend wie die dichten, kühn die Grenzen der Sprache auslotenden Bilderfolgen seines Spätwerks. Die Übertragungen von Raffael Keller bieten erstmals die Gelegenheit, diesen Giganten der Weltliteratur in einer repräsentativen Auswahl in deutscher Sprache zu entdecken.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.02.2010Bis im Schlag des Takts mein Trinkgefäß zerschellt
Als Europa noch im Dornröschenschlaf lag, erlebte China eine nie dagewesene Kulturblüte: Du Fu war einer der großen Dichter der Tang-Dynastie.
Als Geburtsstunde des modernen Individuums gilt gemeinhin die italienische Renaissance, mit einem Vorlauf in der römischen Kaiserzeit. Es genügt an dieser Stelle, den Namen Petrarca zu nennen, der uns als individuelles Subjekt entgegentritt, während Horaz, Vergil oder Ovid trotz ihrer ausgeprägten Persönlichkeit idealtypisch stilisiert erscheinen wie antike Büsten. Aber unser eurozentrisches Welt- und Geschichtsbild wird radikal in Frage gestellt, wenn wir bei einem chinesischen Dichter des achten Jahrhunderts Verse lesen wie: "Mag mein Sohn, der Schule fern, ein fauler Bengel bleiben. / Arm seit je, ertrage ich den Kummer meiner Frau. / Hundert Jahre möchte ich vertrinken, / ungekämmt seit einem Monat schon."
Du Fu (712 bis 770) war ein Zeitgenosse der Merowinger, als Europas Kultur noch im Dornröschenschlaf lag, während das China der Tang-Dynastie seine Grenzen bis Zentralasien ausdehnte und die Konsolidierung des Reichs eine nie dagewesene Kulturblüte nach sich zog. Du Fus bewegtes Leben ist durchaus vergleichbar mit dem eines Horaz, Vergil oder Ovid, vom Buhlen um die Gunst des Kaisers und jähem Fall in Ungnade bis zu Verbannung, Flucht und halbherziger Rehabilitation. Aber hier hört die Parallele auch schon auf, denn im europäischen Kontext gab und gibt es keine Analogie zur chinesischen Beamtenlaufbahn, die mit Essays und Gedichten gepflastert war - buchstäblich und nicht im übertragenen Sinn.
Noch dazu blickte China schon vor Karl dem Großen auf eine schriftlich überlieferte, zweitausendjährige Geschichte zurück, so dass die Dichter der Tang-Dynastie sich nicht wie Pioniere fühlten, sondern als spät geborene Erben einer Kultur, die nach jeder Barbareninvasion wie Phönix aus der Asche neu auferstand: Hier stimmt das abgegriffene Bild, denn der Vogel Phönix war wie Tiger und Drache ein Wappentier des Reichs der Mitte, das tendenziell, ähnlich wie das Heilige Römische Reich, den gesamten Erdkreis umfasste.
Umso größer war der Schock, als das mächtige Imperium nach der Revolte von An Lushan, einem sogdischen General, der die Nordgrenze vor den Barbaren schützen sollte, wie ein Kartenhaus einstürzte. Das kaiserliche Heer wurde vernichtend geschlagen, und der Hofstaat musste aus Chang'an (dem heutigen Xian) fliehen, damals die größte und prächtigste Metropole der Welt, im Juli 756 von den Rebellen erobert. Diese Zeitenwende, nach der nichts mehr so war wie zuvor, fiel zusammen mit einer Wende im Leben von Du Fu, der gerade erst im dritten Anlauf die Staatsprüfung bestanden hatte und zum Adjutanten der Palastgarde aufgestiegen war, ein Posten, der ihm und seiner Familie ein Auskommen sichern sollte.
Er floh zusammen mit dem Hofstaat, geriet in die Gefangenschaft der Rebellen und schlug sich nach erneuter Flucht zum Kaiser durch, der ihn zu seinem Berater ernannte. Seine Wanderschaft war damit nicht zu Ende, im Gegenteil: Du Fu wurde degradiert, aus der Hauptstadt in die Provinz verbannt und lebte, protegiert von einem Jugendfreund, der Militärgouverneur von Chengdu geworden war, als Einsiedler in einer Grashütte, bevor er sich im Gebiet des heutigen Dreischluchtendamms als Sekretär eines Präfekten verdingte und im Jahr 770 in Changsha starb.
Der biblische Bannfluch "Unstet und flüchtig sollst du sein!" trifft auf Du Fu zu - schon die Titel seiner Gedichte zeigen das wie beispielsweise "Früh aus den Federn", "Kaum in Baidi, muss ich wieder nach Dongtun zurück", "Gefühle auf nächtlicher Reise" oder "Trennungsschmerz". Noch deutlicher werden die autobiographischen Bezüge in den Gedichten selbst, wobei der Autor Trauer und Selbstmitleid ironisch unterläuft und mit bitterem Sarkasmus konterkariert: "In Dürrejahren fehlen mir die Münzen für den Wein. / Im Garten treib ich jeden Tag Gemüsesteuern ein. / Einsam trinkend, sing ich das Lied vom süßen Quell, / so lange, bis im Schlag des Takts mein Trinkgefäß zerschellt."
Schon das kurze Zitat macht die Doppelbödigkeit von Du Fus Versen sichtbar, deren philosophischer Tiefgang an Bilderrätsel oder an die Fragmente der Vorsokratiker erinnert: "Zu Hause möchte niemand sehn, / wie Hühner Käfer fressen ./ Ob die Hühner wiederum / nicht bald im Kochtopf enden? / Käfer oder Hühner, / welche sind den Menschen näher? / Den Sklaven brüll ich zornig an, / er soll sie doch befreien."
Du Fus Lyrik macht keine in logische Begriffe übertragbaren Aussagen über die sogenannte Wirklichkeit, sie ist, wie Chinas klassische Kunst insgesamt, eine Chiffre, in der innere und äußere Natur, Welt und Ich, Zeit und Ewigkeit blitzartig verdichtet erscheinen: "Wie kann der Name sich durch Schriften zeigen? / Alt und krank gebührt Beamten Ruh. / Im Winde treibend, wem mag ich mich vergleichen? / Der Möwe, die zwischen Himmel und Erde schreit."
Von heute aus gesehen ist es schwer, ja unmöglich, die ungeschminkte Selbstdarstellung des Dichters von dessen literarischer Stilisierung zu trennen. Genaugenommen handelt es sich um zwei Seiten derselben Medaille, denn - mit den Worten des Herausgebers und Übersetzers Raffael Keller - die Gründe für die Überhöhung oder Herabsetzung der eigenen Person sind "so mannigfaltig wie die Rollen des Individuums in der Gesellschaft". Der Schweizer Sinologe hat Du Fus Gedichte zwar nicht glanzvoll, doch zuverlässig übersetzt und den Wohllaut des Originals, für dessen Musikalität es im Deutschen keine Entsprechung gibt, durch sparsamen Gebrauch von Alliterationen, Reim und Metrum anzudeuten versucht.
Raffael Kellers Einführung in die Zeitumstände von Du Fus Leben und Werk ist ebenso informativ wie die für deutsche Leser unentbehrlichen Anmerkungen zu den Gedichten, die deren Reichtum an literarhistorischen Bezügen sichtbar machen. So weit, so gut: Ärgerlich wird es dort, wo der Herausgeber sich bemüßigt fühlt, einen anderen großen Dichter, Du Fus Zeitgenossen und Freund Li Bai, besser bekannt als Li Bo oder Li Tai Pe, herabzusetzen, um Du Fu zu loben. Dazu hat Robert Musil in seinem Nachruf auf Rainer Maria Rilke das Entscheidende gesagt: "Die Höhe der Dichtung ist keine Spitze, auf der es immer höher geht, sondern ein Kreis, innerhalb dessen es nur ungleich Gleiches, Einmaliges, Unersetzliches, eine edle Anarchie und Ordens-Brüderlichkeit gibt."
HANS CHRISTOPH BUCH
Du Fu: "Gedichte". Aus dem Chinesischen übersetzt und kommentiert von Raffael Keller. Dieterich'sche Verlagsbuchhandlung, Mainz 2009. 220 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Als Europa noch im Dornröschenschlaf lag, erlebte China eine nie dagewesene Kulturblüte: Du Fu war einer der großen Dichter der Tang-Dynastie.
Als Geburtsstunde des modernen Individuums gilt gemeinhin die italienische Renaissance, mit einem Vorlauf in der römischen Kaiserzeit. Es genügt an dieser Stelle, den Namen Petrarca zu nennen, der uns als individuelles Subjekt entgegentritt, während Horaz, Vergil oder Ovid trotz ihrer ausgeprägten Persönlichkeit idealtypisch stilisiert erscheinen wie antike Büsten. Aber unser eurozentrisches Welt- und Geschichtsbild wird radikal in Frage gestellt, wenn wir bei einem chinesischen Dichter des achten Jahrhunderts Verse lesen wie: "Mag mein Sohn, der Schule fern, ein fauler Bengel bleiben. / Arm seit je, ertrage ich den Kummer meiner Frau. / Hundert Jahre möchte ich vertrinken, / ungekämmt seit einem Monat schon."
Du Fu (712 bis 770) war ein Zeitgenosse der Merowinger, als Europas Kultur noch im Dornröschenschlaf lag, während das China der Tang-Dynastie seine Grenzen bis Zentralasien ausdehnte und die Konsolidierung des Reichs eine nie dagewesene Kulturblüte nach sich zog. Du Fus bewegtes Leben ist durchaus vergleichbar mit dem eines Horaz, Vergil oder Ovid, vom Buhlen um die Gunst des Kaisers und jähem Fall in Ungnade bis zu Verbannung, Flucht und halbherziger Rehabilitation. Aber hier hört die Parallele auch schon auf, denn im europäischen Kontext gab und gibt es keine Analogie zur chinesischen Beamtenlaufbahn, die mit Essays und Gedichten gepflastert war - buchstäblich und nicht im übertragenen Sinn.
Noch dazu blickte China schon vor Karl dem Großen auf eine schriftlich überlieferte, zweitausendjährige Geschichte zurück, so dass die Dichter der Tang-Dynastie sich nicht wie Pioniere fühlten, sondern als spät geborene Erben einer Kultur, die nach jeder Barbareninvasion wie Phönix aus der Asche neu auferstand: Hier stimmt das abgegriffene Bild, denn der Vogel Phönix war wie Tiger und Drache ein Wappentier des Reichs der Mitte, das tendenziell, ähnlich wie das Heilige Römische Reich, den gesamten Erdkreis umfasste.
Umso größer war der Schock, als das mächtige Imperium nach der Revolte von An Lushan, einem sogdischen General, der die Nordgrenze vor den Barbaren schützen sollte, wie ein Kartenhaus einstürzte. Das kaiserliche Heer wurde vernichtend geschlagen, und der Hofstaat musste aus Chang'an (dem heutigen Xian) fliehen, damals die größte und prächtigste Metropole der Welt, im Juli 756 von den Rebellen erobert. Diese Zeitenwende, nach der nichts mehr so war wie zuvor, fiel zusammen mit einer Wende im Leben von Du Fu, der gerade erst im dritten Anlauf die Staatsprüfung bestanden hatte und zum Adjutanten der Palastgarde aufgestiegen war, ein Posten, der ihm und seiner Familie ein Auskommen sichern sollte.
Er floh zusammen mit dem Hofstaat, geriet in die Gefangenschaft der Rebellen und schlug sich nach erneuter Flucht zum Kaiser durch, der ihn zu seinem Berater ernannte. Seine Wanderschaft war damit nicht zu Ende, im Gegenteil: Du Fu wurde degradiert, aus der Hauptstadt in die Provinz verbannt und lebte, protegiert von einem Jugendfreund, der Militärgouverneur von Chengdu geworden war, als Einsiedler in einer Grashütte, bevor er sich im Gebiet des heutigen Dreischluchtendamms als Sekretär eines Präfekten verdingte und im Jahr 770 in Changsha starb.
Der biblische Bannfluch "Unstet und flüchtig sollst du sein!" trifft auf Du Fu zu - schon die Titel seiner Gedichte zeigen das wie beispielsweise "Früh aus den Federn", "Kaum in Baidi, muss ich wieder nach Dongtun zurück", "Gefühle auf nächtlicher Reise" oder "Trennungsschmerz". Noch deutlicher werden die autobiographischen Bezüge in den Gedichten selbst, wobei der Autor Trauer und Selbstmitleid ironisch unterläuft und mit bitterem Sarkasmus konterkariert: "In Dürrejahren fehlen mir die Münzen für den Wein. / Im Garten treib ich jeden Tag Gemüsesteuern ein. / Einsam trinkend, sing ich das Lied vom süßen Quell, / so lange, bis im Schlag des Takts mein Trinkgefäß zerschellt."
Schon das kurze Zitat macht die Doppelbödigkeit von Du Fus Versen sichtbar, deren philosophischer Tiefgang an Bilderrätsel oder an die Fragmente der Vorsokratiker erinnert: "Zu Hause möchte niemand sehn, / wie Hühner Käfer fressen ./ Ob die Hühner wiederum / nicht bald im Kochtopf enden? / Käfer oder Hühner, / welche sind den Menschen näher? / Den Sklaven brüll ich zornig an, / er soll sie doch befreien."
Du Fus Lyrik macht keine in logische Begriffe übertragbaren Aussagen über die sogenannte Wirklichkeit, sie ist, wie Chinas klassische Kunst insgesamt, eine Chiffre, in der innere und äußere Natur, Welt und Ich, Zeit und Ewigkeit blitzartig verdichtet erscheinen: "Wie kann der Name sich durch Schriften zeigen? / Alt und krank gebührt Beamten Ruh. / Im Winde treibend, wem mag ich mich vergleichen? / Der Möwe, die zwischen Himmel und Erde schreit."
Von heute aus gesehen ist es schwer, ja unmöglich, die ungeschminkte Selbstdarstellung des Dichters von dessen literarischer Stilisierung zu trennen. Genaugenommen handelt es sich um zwei Seiten derselben Medaille, denn - mit den Worten des Herausgebers und Übersetzers Raffael Keller - die Gründe für die Überhöhung oder Herabsetzung der eigenen Person sind "so mannigfaltig wie die Rollen des Individuums in der Gesellschaft". Der Schweizer Sinologe hat Du Fus Gedichte zwar nicht glanzvoll, doch zuverlässig übersetzt und den Wohllaut des Originals, für dessen Musikalität es im Deutschen keine Entsprechung gibt, durch sparsamen Gebrauch von Alliterationen, Reim und Metrum anzudeuten versucht.
Raffael Kellers Einführung in die Zeitumstände von Du Fus Leben und Werk ist ebenso informativ wie die für deutsche Leser unentbehrlichen Anmerkungen zu den Gedichten, die deren Reichtum an literarhistorischen Bezügen sichtbar machen. So weit, so gut: Ärgerlich wird es dort, wo der Herausgeber sich bemüßigt fühlt, einen anderen großen Dichter, Du Fus Zeitgenossen und Freund Li Bai, besser bekannt als Li Bo oder Li Tai Pe, herabzusetzen, um Du Fu zu loben. Dazu hat Robert Musil in seinem Nachruf auf Rainer Maria Rilke das Entscheidende gesagt: "Die Höhe der Dichtung ist keine Spitze, auf der es immer höher geht, sondern ein Kreis, innerhalb dessen es nur ungleich Gleiches, Einmaliges, Unersetzliches, eine edle Anarchie und Ordens-Brüderlichkeit gibt."
HANS CHRISTOPH BUCH
Du Fu: "Gedichte". Aus dem Chinesischen übersetzt und kommentiert von Raffael Keller. Dieterich'sche Verlagsbuchhandlung, Mainz 2009. 220 S., geb., 24,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Ludger Lütkehaus lässt sich bezaubern von der persönlichen Note dieses Dichters, die seinen bevorzugten realitätsnahen Themen (Alltag, Familie, kleine Dinge und Nöte), aber auch den großen Sujets wie Liebe und Tod oder den Naturgedichten etwas Beruhigendes verleihen. Die vorliegende kommentierte Auswahl von Du Fus Gedichten in der Übersetzung von Raffael Keller hält Lütkehaus für schön und meistens bildkräftig übertragen. Nur einzelne Texte erscheinen ihm in den bisherigen Übersetzungen prägnanter.
© Perlentaucher Medien GmbH
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