Der jüngste Gedichtband von Elke Erb beginnt mit einem älteren Text, "Die Olympiade" von 1970, wie alle Texte in diesem Buch im Sommer, den Elke Erb jeweils in Wuischke verbringt, "aus dem Tagebuch geholt" und hier zum ersten Mal veröffentlicht: "Jammerschade, dass es nicht gelingt, diesen Traum zu erzählen ..." Das letzte Gedicht, "Das mit dem Baum" vom "12.12.18, halb sieben", ist den Bäumen gewidmet: "Sie werden mich übersterben. / Meine Handflächen meinen: Schade um sie." Von Traum zu Baum, dem Faden der Geduld entlang, mit dem Elke Erb das Alltäglichste und das Wunderbarste miteinander verbunden hat. Das ist "Poesie": "Ich sagte plötzlich beim Frühstück mit den beiden hier auf dem Land: / Man ist ja irgendwie immer elf, und Geli: stimmt, sie sei immer 12. / Ei!"
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Nico Bleutge mag das kindliche Staunen der Dichterin Elke Erb, die die Dinge stets ganz eigen wahrnimmt. Einmal mehr lässt sich der Kritiker in dem neuen Band "Gedichtverdacht" ein auf die "kleinen methodischen Apparaturen" der Dichterin, die hier nicht nur Worten, Dingen und Erinnerungen lauscht, sondern auch in den Dialog mit älteren Texten tritt. Wie Erb ihr Ich in den Versen immer wieder auflöst, zudem mit Ironie, Rhythmen und Sprache spielt, hat Bleutge gut gefallen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.08.2019Eine ganze Generation
hat von ihr gelernt
Elke Erb und ihr Band „Gedichtverdacht“
Von 1963 bis 1966 arbeitete Elke Erb als Lektorin im Mitteldeutschen Verlag in Halle. Nach dem ersten Jahr, heißt es in einer biografischen Notiz, die ihrem Gedicht „Unter dem Falschen nicht leiden“ vorangestellt ist: „Nervenklinik, und später noch einmal, bis ich dann kündigte.“
Die Psychologin in der Klinik hatte ihr geraten, „doch einfach mal ins Ausland zu fahren“, und diese Fahrt, die Erb dann unternahm, ins polnische Zakopane, zerschlug den Knoten. Die im „Goldlicht“ weidenden Schafe, von denen das Gedicht dann berichtet, die „Bellgirlanden“ der Hunde, die ganze Idylle der Kugelröcke, bäuerlichen Kopftücher und zu Rautenmustern ausgeworfenen Rechen kurierte die damals 28-Jährige: Sie kündigte ihre Stelle, wurde freischaffende Dichterin und es blieb „heil doch im Gedächtniskeller/ all die Jahre nachher“.
Ihre Kindheit hatte Erb in der Eifel verbracht, gemeinsam mit der Mutter und den beiden Schwestern. Der Vater war im Krieg, und als er aus der Gefangenschaft entlassen wurde, kehrte er nicht in das kleine Dorf ganz im Westen zurück, sondern zog nach Halle, in jenen Teil Deutschlands, von dem er sich eine bessere Zukunft erhoffte. Als erstes mussten die Töchter für dieses bessere Deutschland ihren Preis entrichten: Da im Zimmer des Vaters nur Platz war für die Mutter, wurden die Schwestern für zwei Jahre in ein Heim gesteckt.
Damit endeten alle Kindheitsidyllen, wenn sich Erb auch in ihrem ersten Buch „Gutachten“ von 1975 ohne Bitterkeit daran erinnert, wie die Mutter mit unendlicher Mühe die spelzigen Samenfädchen und Körnchen aus den winzigen Höhlen der Hagebutten schabte und schnitt, Stielchen und vertrocknete Knöspchen entfernte, die Früchte dann durch den Fleischwolf drückte und „aus der roten vitaminreichen Masse“ Konfekt für den „strengen weißen Winter“ formte.
„Gutachten“ ist, wie ein Großteil der Bücher Elke Erbs, inzwischen vergriffen: Die im Aufbau-Verlag erschienenen Folgebände „Der Faden der Geduld“ und „Vexierbild“ ebenso wie der epochale Band „Kastanienallee“, in dem Erb jedes der Gedichte mit einem Kommentar versah, der den Hallraum der jeweiligen Verse beleuchtete und ihn auf diese Weise noch erweiterte. Auswahlbände von ihr waren im Westen bei Wagenbach und der Deutschen Verlagsanstalt erschienen, 1988 kam der Huchel-Preis hinzu. Kurz nach der Wende erschien in der Edition Galrev ihr umfangreichstes Werk, „Winkelzüge“, auch dieses längst nicht mehr erhältlich.
Von 1996 an wurde Urs Engeler ihr treuer Verleger, erst unter dem Label Urs Engeler Editor, nach der Einstellung dieses Verlags dann in der kleinen Abo-Reihe Roughbooks. Zu ihrem 80. Geburtstag im vergangenen Jahr hat Engeler Erbs drei Roughbooks-Bände „Meins“, „Sonnenklar“ und „Das Hündle kam weiter auf drein“ in einem Band versammelt.
Von kaum einer zeitgenössischen Dichterin hat die Generation der heute Vierzig- und Fünfzigjährigen so viel gelernt wie von Elke Erb. Dass man nämlich zugleich Denken und Reimen kann, dass Arbeit am Begriff und sinnliche Anschauung Hand in Hand gehen können. Angesichts dessen gebührte ihr eigentlich der Büchner-Preis, und die Publikationslage ist geradezu ein Skandal.
Trösten kann man sich damit, dass jetzt ein vierter Erb-Band bei Roughbooks erschienen ist, „Gedichtverdacht“. In ihm finden sich auch die Bellgirlanden von „Unter dem Falschen nicht leiden“, jener für Erbs Verhältnisse ungewöhnlich erzählerischen Erinnerung an einen Wendepunkt ihres Lebens. Daneben enthält das Buch alles, was Elke Erb auszeichnet, es ist wie ein Destillat ihres Schaffens: Die tagebuchartigen Notate, die hereingeholten Lektüren, der abgelauschte Berliner, genauer der Weddinger O-Ton („schap“ für „Ich habe“), der Selbstkommentar (der in einem Fall unter dem Titel „Maxime“ ganz an die Stelle des Gedichts tritt), die Politik (in Gestalt von Leo Trotzki), die Träume.
Tatsächlich betätigt Elke Erb sich seit einigen Jahren als Destillatorin des eigenen Werks. Schreiben heißt für sie auch Wiederschreiben, Umschreiben. Häufig findet man unter ihren Gedichten Vermerke wie die folgende: „13.7.06/ geholt am 5.10.17“. Mitunter liegen Verse vierzig Jahre in den Tagebüchern, bevor sie „geholt“ werden, bevor ihre Zeit reif ist. Manchmal aber auch stehen die Daten im Titel, offenbar, weil der historische Text weitgehend unbearbeitet übernommen wurde, zum Beispiel in dem Gedicht „Tagebuch, Frühjahr 1988“: „Ich fange eine Taube Oh Jetzt/ habe ich die 2, habe ich die 2/ Flügel, bin ein von Luft/ umfangenes Leben Wunder/ Leben Ein & Ausatmen/ oh Auf & Ab Flügel/ Köpfchen Schnabel Wolke.“
Eine wirklich wundersame Anverwandlung, mit einer sich in die Lüfte schwingenden rhythmischen Bewegung im letzten Vers: Was müssen noch für Schätze in den Archiven Elke Erbs zu heben sein! Schon die Titel ihrer Gedichte sind eine eigene Lektüre wert: „Schlaue Maus“, „Schone den Wicht“ oder „Hübsch naiv“. Elke Erb ist nichts zu banal oder zu krude, alles kann Gedicht sein, weil alles Welt ist, Gegenwart und Erinnerung, die es festzuhalten, umzustülpen und eingehend zu betrachten gilt. Alles steht unter „Gedichtverdacht“. Nicht nur Dichter können da von ihr lernen.
TOBIAS LEHMKUHL
Elke Erb: Gedichtverdacht. Roughbooks, Berlin, Wuischke und Schupfart 2019. 94 Seiten, 10 Euro.
Gehört kanonisiert: die Dichterin Elke Erb.
Foto:Gerald Zoerne/ picture alliance
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hat von ihr gelernt
Elke Erb und ihr Band „Gedichtverdacht“
Von 1963 bis 1966 arbeitete Elke Erb als Lektorin im Mitteldeutschen Verlag in Halle. Nach dem ersten Jahr, heißt es in einer biografischen Notiz, die ihrem Gedicht „Unter dem Falschen nicht leiden“ vorangestellt ist: „Nervenklinik, und später noch einmal, bis ich dann kündigte.“
Die Psychologin in der Klinik hatte ihr geraten, „doch einfach mal ins Ausland zu fahren“, und diese Fahrt, die Erb dann unternahm, ins polnische Zakopane, zerschlug den Knoten. Die im „Goldlicht“ weidenden Schafe, von denen das Gedicht dann berichtet, die „Bellgirlanden“ der Hunde, die ganze Idylle der Kugelröcke, bäuerlichen Kopftücher und zu Rautenmustern ausgeworfenen Rechen kurierte die damals 28-Jährige: Sie kündigte ihre Stelle, wurde freischaffende Dichterin und es blieb „heil doch im Gedächtniskeller/ all die Jahre nachher“.
Ihre Kindheit hatte Erb in der Eifel verbracht, gemeinsam mit der Mutter und den beiden Schwestern. Der Vater war im Krieg, und als er aus der Gefangenschaft entlassen wurde, kehrte er nicht in das kleine Dorf ganz im Westen zurück, sondern zog nach Halle, in jenen Teil Deutschlands, von dem er sich eine bessere Zukunft erhoffte. Als erstes mussten die Töchter für dieses bessere Deutschland ihren Preis entrichten: Da im Zimmer des Vaters nur Platz war für die Mutter, wurden die Schwestern für zwei Jahre in ein Heim gesteckt.
Damit endeten alle Kindheitsidyllen, wenn sich Erb auch in ihrem ersten Buch „Gutachten“ von 1975 ohne Bitterkeit daran erinnert, wie die Mutter mit unendlicher Mühe die spelzigen Samenfädchen und Körnchen aus den winzigen Höhlen der Hagebutten schabte und schnitt, Stielchen und vertrocknete Knöspchen entfernte, die Früchte dann durch den Fleischwolf drückte und „aus der roten vitaminreichen Masse“ Konfekt für den „strengen weißen Winter“ formte.
„Gutachten“ ist, wie ein Großteil der Bücher Elke Erbs, inzwischen vergriffen: Die im Aufbau-Verlag erschienenen Folgebände „Der Faden der Geduld“ und „Vexierbild“ ebenso wie der epochale Band „Kastanienallee“, in dem Erb jedes der Gedichte mit einem Kommentar versah, der den Hallraum der jeweiligen Verse beleuchtete und ihn auf diese Weise noch erweiterte. Auswahlbände von ihr waren im Westen bei Wagenbach und der Deutschen Verlagsanstalt erschienen, 1988 kam der Huchel-Preis hinzu. Kurz nach der Wende erschien in der Edition Galrev ihr umfangreichstes Werk, „Winkelzüge“, auch dieses längst nicht mehr erhältlich.
Von 1996 an wurde Urs Engeler ihr treuer Verleger, erst unter dem Label Urs Engeler Editor, nach der Einstellung dieses Verlags dann in der kleinen Abo-Reihe Roughbooks. Zu ihrem 80. Geburtstag im vergangenen Jahr hat Engeler Erbs drei Roughbooks-Bände „Meins“, „Sonnenklar“ und „Das Hündle kam weiter auf drein“ in einem Band versammelt.
Von kaum einer zeitgenössischen Dichterin hat die Generation der heute Vierzig- und Fünfzigjährigen so viel gelernt wie von Elke Erb. Dass man nämlich zugleich Denken und Reimen kann, dass Arbeit am Begriff und sinnliche Anschauung Hand in Hand gehen können. Angesichts dessen gebührte ihr eigentlich der Büchner-Preis, und die Publikationslage ist geradezu ein Skandal.
Trösten kann man sich damit, dass jetzt ein vierter Erb-Band bei Roughbooks erschienen ist, „Gedichtverdacht“. In ihm finden sich auch die Bellgirlanden von „Unter dem Falschen nicht leiden“, jener für Erbs Verhältnisse ungewöhnlich erzählerischen Erinnerung an einen Wendepunkt ihres Lebens. Daneben enthält das Buch alles, was Elke Erb auszeichnet, es ist wie ein Destillat ihres Schaffens: Die tagebuchartigen Notate, die hereingeholten Lektüren, der abgelauschte Berliner, genauer der Weddinger O-Ton („schap“ für „Ich habe“), der Selbstkommentar (der in einem Fall unter dem Titel „Maxime“ ganz an die Stelle des Gedichts tritt), die Politik (in Gestalt von Leo Trotzki), die Träume.
Tatsächlich betätigt Elke Erb sich seit einigen Jahren als Destillatorin des eigenen Werks. Schreiben heißt für sie auch Wiederschreiben, Umschreiben. Häufig findet man unter ihren Gedichten Vermerke wie die folgende: „13.7.06/ geholt am 5.10.17“. Mitunter liegen Verse vierzig Jahre in den Tagebüchern, bevor sie „geholt“ werden, bevor ihre Zeit reif ist. Manchmal aber auch stehen die Daten im Titel, offenbar, weil der historische Text weitgehend unbearbeitet übernommen wurde, zum Beispiel in dem Gedicht „Tagebuch, Frühjahr 1988“: „Ich fange eine Taube Oh Jetzt/ habe ich die 2, habe ich die 2/ Flügel, bin ein von Luft/ umfangenes Leben Wunder/ Leben Ein & Ausatmen/ oh Auf & Ab Flügel/ Köpfchen Schnabel Wolke.“
Eine wirklich wundersame Anverwandlung, mit einer sich in die Lüfte schwingenden rhythmischen Bewegung im letzten Vers: Was müssen noch für Schätze in den Archiven Elke Erbs zu heben sein! Schon die Titel ihrer Gedichte sind eine eigene Lektüre wert: „Schlaue Maus“, „Schone den Wicht“ oder „Hübsch naiv“. Elke Erb ist nichts zu banal oder zu krude, alles kann Gedicht sein, weil alles Welt ist, Gegenwart und Erinnerung, die es festzuhalten, umzustülpen und eingehend zu betrachten gilt. Alles steht unter „Gedichtverdacht“. Nicht nur Dichter können da von ihr lernen.
TOBIAS LEHMKUHL
Elke Erb: Gedichtverdacht. Roughbooks, Berlin, Wuischke und Schupfart 2019. 94 Seiten, 10 Euro.
Gehört kanonisiert: die Dichterin Elke Erb.
Foto:Gerald Zoerne/ picture alliance
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