Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.06.2014Auftritt der Zwerge, die nicht klein beigeben
Katherine Dunns Roman "Geek Love" feiert das Anderssein: Lange galt die berühmte Gesellschaftssatire als unübersetzbar - ein Irrtum, wie sich jetzt herausstellt
Immerhin, die Eltern sind fast normal: Al, der Direktor des Freakzirkus, ist der Lautsprecher des Familienunternehmens, Crystal Lil seine Seele, obwohl sie in ihren Glanzzeiten lebenden Hühnern die Köpfe abbiss und das Blut wie Champagner schlürfte. Dafür sind die Binewski-Kinder Freaks und Geeks, wie sie im Buche stehen. Elly und Iphy sind siamesische Zwillinge mit je eigenen Köpfen, die sich ständig in den Haaren liegen. Arturo, der Star der Show, ist ein Fischjunge mit Flossen, frechem Mundwerk und einem machiavellistischen Machtinstinkt, Nesthäkchen Chick verfügt über telekinetische Kräfte. Nur Oly alias Hoppelchen McGurk, die Erzählerin, hätte sich "gewünscht, besonderer zu sein": Als Albino-Zwerg mit Glatze und Buckel taugt sie allenfalls zum fünften Rad am Zirkuswagen.
Für die fabelhaften Binewskis ist Abnormität normal: Groteske Monstrositäten sind ihr Geschäftskapital, eine Gnade der Natur, der die Eltern gern auch mit Drogen- und Giftcocktails, Radioaktivität und Insektiziden nachhelfen. Die heitere Selbstverständlichkeit, mit der Oly von ihrer schrecklich normalen Familie erzählt, ist starker Tobak für den Leser, und eben das machte Katherine Dunns Roman 1989 zum Kultbuch. Die Eltern lieben ihre Kinder, selbst die missglückten Missgeburten, die sich als nicht lebensfähig erwiesen. Niemand leidet an seinem Anderssein: Telekinese kann manchmal nützlich sein, Zwerge bleiben immer auf Augenhöhe mit Kindern. Siamesische Zwillinge können wunderbar vierhändig Klavier spielen, und selbst wenn sie sich über Ernährungsfragen, Liebhaber und Sexualpraktiken entzweien, bleiben sie ein Paar auf Gedeih und Verderb. "Jeder dieser Naivlinge auf der Straße ist umfangen von der Angst um seine eigene Durchschnittlichkeit", doziert Arty, der Philosoph. "Diese Leute würden alles tun, um einzigartig zu sein."
Katherine Dunn beschönigt nichts. Freaks sind keine besseren Menschen; auch sie wollen nur glänzen, Spaß haben, ihr Publikum unterhalten und die "böswillig Gestörten", wie Papa sie nennt, erschrecken. Arty ist eifersüchtig auf Chick und spielt seinen Geschwistern oft übel mit, aber selbst für den zynischen Aquaboy ist die Familie heilig. Der Horror der Normalen vor den Geeks ist für ihn eine Waffe im Überlebenskampf: "Wir haben den entscheidenden Vorteil, dass die Normalen uns Weisheit unterstellen. Selbst der verkrachteste Zwerg bekommt Anerkennung für die irrsinnige Schlauheit hinter seinen Clownereien. Freaks sind wie Eulen, der Mythos verdammt sie zu augenzwinkernder, blutleerer Objektivität. Die Normalen glauben, wir seien frei von Versuchungen und Kleinkrämerei. Selbst unser Hass ist aus der Sicht ihrer Schwächlichkeit groß. Und je entstellter wir sind, desto heiliger sind wir in ihren Augen." Arty bastelt sich mit Chuzpe und Charisma eine Religion und schart eine Sekte um sich: Die Jünger des "Arturismus" lassen sich ihre Gliedmaßen amputieren, um ihrem Guru ähnlicher zu werden.
Der Roman "Geek Love" - der deutsche Untertitel führt in die Irre: Radioaktivität ist nur eine von vielen Zeugungshilfen - spielt auf zwei Ebenen. Auf der einen erzählt Oly in langen Rückblenden vom langsamen Niedergang ihrer Familie: Die klassische Freakshow ist ein Auslaufmodell in der Unterhaltungsbranche. Als Blindheit und Artys Extratouren geben ihr den Rest. In der Gegenwart ist die radioaktive Familie längst in Atome zerfallen. Oly, inzwischen Moderatorin einer Radioshow, lebt mit ihrer dementen Mutter und Tochter Miranda unter einem Dach, aber sie gibt sich ihnen nicht zu erkennen. Miranda, die nach ihrer Jungfernzeugung mit Chicks Hilfe zu den Nonnen ins Kinderheim abgeschoben wurde, sucht instinktiv die Nähe des buckligen Zwergs, aber Oly weist sie kühl ab. Heimlich verteidigt sie ihr Kind allerdings wie eine Löwin. Miranda versucht in ihrer Stripshow Mrs. Licks auf sich aufmerksam zu machen. Die schrullige alte Millionärin, eine exzentrische Wohltäterin wie aus einem Dickens-Roman, nimmt schöne Mädchen unter ihre Fittiche, um sie mit Geld, Fettdiäten und Hässlichkeitsoperationen vor zudringlichen Männern zu retten. Das verstößt gegen Olys Stolz und rechtfertigt schließlich sogar einen Mord.
Katherine Dunn, Boxreporterin und Journalistin, lässt sich viel Zeit für ihre Romane: An "Geek Love" arbeitete sie siebzehn Jahre; das seit vierundzwanzig Jahren angekündigte Nachfolgewerk "The Cut Man" ist bis heute nicht erschienen. Das lange Warten auf die Übersetzung - Monika Schmalz meistert die Untiefen und Wortspiele des Originals übrigens glänzend - hat sich gelohnt: "Binewskis", ein Buch, das für Generationen von Freaks von Kurt Cobain bis Terry Gilliam zur Bibel des Nonkonformismus wurde und John Irving zu seinem "Zirkuskind" inspirierte, ist eine verstörend scharfsinnige, brutal komische Reflexion über Normalität und Abweichung. Es ist Familienroman, Gesellschafts- und Mediensatire und Hommage an die Beutelmenschen und bärtigen Frauen der Rummelplätze, die auf unser Mitgefühl und unsere Schönheitsideale pfeifen. Katherine Dunn erzählt kühl und lakonisch ungerührt, warmherzig und nostalgisch von Zwergen, die nicht klein beigeben, von bizarren Menschenkindern, die mit der "warmen Erwachsenenblödheit" spielen, kurz: von "Spezialbegabungen", die sich nicht auf ihre Besonderheiten und Spezialitäten reduzieren lassen wollen.
Und doch bleibt ein leises Unbehagen. Die Manipulation von Körper und Geist durch plastische Chirurgie, digitale Prothesen, pharmazeutisches und biotechnisches Tuning, die Designerbabys aus den Retorten der Gentechnik, die Kernschmelzen von Tschernobyl und Fukushima und nicht zuletzt die Freakshows auf allen Kanälen von Fernsehen und Internet haben uns das Fürchten gelehrt. "Geek Love" feiert Recht, Weisheit und Stolz des selbstbestimmten Andersseins, aber das Panoptikum der Kuriositäten und Monstrositäten hat seine Unschuld oder jedenfalls seine subversive Kraft verloren. Was einmal nonkonformistische Extravaganz und strahlender Eigensinn jenseits aller bürgerlichen Normen war, ist heute die schrecklich normale Realität von individueller Selbstoptimierung und totalitärem Machbarkeitswahn.
MARTIN HALTER
Katherine Dunn:
"Binewskis. Verfall einer radioaktiven Familie". Roman. Aus dem Englischen von Monika Schmalz.
Berlin Verlag, Berlin 2014. 511 S., geb., 22,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Katherine Dunns Roman "Geek Love" feiert das Anderssein: Lange galt die berühmte Gesellschaftssatire als unübersetzbar - ein Irrtum, wie sich jetzt herausstellt
Immerhin, die Eltern sind fast normal: Al, der Direktor des Freakzirkus, ist der Lautsprecher des Familienunternehmens, Crystal Lil seine Seele, obwohl sie in ihren Glanzzeiten lebenden Hühnern die Köpfe abbiss und das Blut wie Champagner schlürfte. Dafür sind die Binewski-Kinder Freaks und Geeks, wie sie im Buche stehen. Elly und Iphy sind siamesische Zwillinge mit je eigenen Köpfen, die sich ständig in den Haaren liegen. Arturo, der Star der Show, ist ein Fischjunge mit Flossen, frechem Mundwerk und einem machiavellistischen Machtinstinkt, Nesthäkchen Chick verfügt über telekinetische Kräfte. Nur Oly alias Hoppelchen McGurk, die Erzählerin, hätte sich "gewünscht, besonderer zu sein": Als Albino-Zwerg mit Glatze und Buckel taugt sie allenfalls zum fünften Rad am Zirkuswagen.
Für die fabelhaften Binewskis ist Abnormität normal: Groteske Monstrositäten sind ihr Geschäftskapital, eine Gnade der Natur, der die Eltern gern auch mit Drogen- und Giftcocktails, Radioaktivität und Insektiziden nachhelfen. Die heitere Selbstverständlichkeit, mit der Oly von ihrer schrecklich normalen Familie erzählt, ist starker Tobak für den Leser, und eben das machte Katherine Dunns Roman 1989 zum Kultbuch. Die Eltern lieben ihre Kinder, selbst die missglückten Missgeburten, die sich als nicht lebensfähig erwiesen. Niemand leidet an seinem Anderssein: Telekinese kann manchmal nützlich sein, Zwerge bleiben immer auf Augenhöhe mit Kindern. Siamesische Zwillinge können wunderbar vierhändig Klavier spielen, und selbst wenn sie sich über Ernährungsfragen, Liebhaber und Sexualpraktiken entzweien, bleiben sie ein Paar auf Gedeih und Verderb. "Jeder dieser Naivlinge auf der Straße ist umfangen von der Angst um seine eigene Durchschnittlichkeit", doziert Arty, der Philosoph. "Diese Leute würden alles tun, um einzigartig zu sein."
Katherine Dunn beschönigt nichts. Freaks sind keine besseren Menschen; auch sie wollen nur glänzen, Spaß haben, ihr Publikum unterhalten und die "böswillig Gestörten", wie Papa sie nennt, erschrecken. Arty ist eifersüchtig auf Chick und spielt seinen Geschwistern oft übel mit, aber selbst für den zynischen Aquaboy ist die Familie heilig. Der Horror der Normalen vor den Geeks ist für ihn eine Waffe im Überlebenskampf: "Wir haben den entscheidenden Vorteil, dass die Normalen uns Weisheit unterstellen. Selbst der verkrachteste Zwerg bekommt Anerkennung für die irrsinnige Schlauheit hinter seinen Clownereien. Freaks sind wie Eulen, der Mythos verdammt sie zu augenzwinkernder, blutleerer Objektivität. Die Normalen glauben, wir seien frei von Versuchungen und Kleinkrämerei. Selbst unser Hass ist aus der Sicht ihrer Schwächlichkeit groß. Und je entstellter wir sind, desto heiliger sind wir in ihren Augen." Arty bastelt sich mit Chuzpe und Charisma eine Religion und schart eine Sekte um sich: Die Jünger des "Arturismus" lassen sich ihre Gliedmaßen amputieren, um ihrem Guru ähnlicher zu werden.
Der Roman "Geek Love" - der deutsche Untertitel führt in die Irre: Radioaktivität ist nur eine von vielen Zeugungshilfen - spielt auf zwei Ebenen. Auf der einen erzählt Oly in langen Rückblenden vom langsamen Niedergang ihrer Familie: Die klassische Freakshow ist ein Auslaufmodell in der Unterhaltungsbranche. Als Blindheit und Artys Extratouren geben ihr den Rest. In der Gegenwart ist die radioaktive Familie längst in Atome zerfallen. Oly, inzwischen Moderatorin einer Radioshow, lebt mit ihrer dementen Mutter und Tochter Miranda unter einem Dach, aber sie gibt sich ihnen nicht zu erkennen. Miranda, die nach ihrer Jungfernzeugung mit Chicks Hilfe zu den Nonnen ins Kinderheim abgeschoben wurde, sucht instinktiv die Nähe des buckligen Zwergs, aber Oly weist sie kühl ab. Heimlich verteidigt sie ihr Kind allerdings wie eine Löwin. Miranda versucht in ihrer Stripshow Mrs. Licks auf sich aufmerksam zu machen. Die schrullige alte Millionärin, eine exzentrische Wohltäterin wie aus einem Dickens-Roman, nimmt schöne Mädchen unter ihre Fittiche, um sie mit Geld, Fettdiäten und Hässlichkeitsoperationen vor zudringlichen Männern zu retten. Das verstößt gegen Olys Stolz und rechtfertigt schließlich sogar einen Mord.
Katherine Dunn, Boxreporterin und Journalistin, lässt sich viel Zeit für ihre Romane: An "Geek Love" arbeitete sie siebzehn Jahre; das seit vierundzwanzig Jahren angekündigte Nachfolgewerk "The Cut Man" ist bis heute nicht erschienen. Das lange Warten auf die Übersetzung - Monika Schmalz meistert die Untiefen und Wortspiele des Originals übrigens glänzend - hat sich gelohnt: "Binewskis", ein Buch, das für Generationen von Freaks von Kurt Cobain bis Terry Gilliam zur Bibel des Nonkonformismus wurde und John Irving zu seinem "Zirkuskind" inspirierte, ist eine verstörend scharfsinnige, brutal komische Reflexion über Normalität und Abweichung. Es ist Familienroman, Gesellschafts- und Mediensatire und Hommage an die Beutelmenschen und bärtigen Frauen der Rummelplätze, die auf unser Mitgefühl und unsere Schönheitsideale pfeifen. Katherine Dunn erzählt kühl und lakonisch ungerührt, warmherzig und nostalgisch von Zwergen, die nicht klein beigeben, von bizarren Menschenkindern, die mit der "warmen Erwachsenenblödheit" spielen, kurz: von "Spezialbegabungen", die sich nicht auf ihre Besonderheiten und Spezialitäten reduzieren lassen wollen.
Und doch bleibt ein leises Unbehagen. Die Manipulation von Körper und Geist durch plastische Chirurgie, digitale Prothesen, pharmazeutisches und biotechnisches Tuning, die Designerbabys aus den Retorten der Gentechnik, die Kernschmelzen von Tschernobyl und Fukushima und nicht zuletzt die Freakshows auf allen Kanälen von Fernsehen und Internet haben uns das Fürchten gelehrt. "Geek Love" feiert Recht, Weisheit und Stolz des selbstbestimmten Andersseins, aber das Panoptikum der Kuriositäten und Monstrositäten hat seine Unschuld oder jedenfalls seine subversive Kraft verloren. Was einmal nonkonformistische Extravaganz und strahlender Eigensinn jenseits aller bürgerlichen Normen war, ist heute die schrecklich normale Realität von individueller Selbstoptimierung und totalitärem Machbarkeitswahn.
MARTIN HALTER
Katherine Dunn:
"Binewskis. Verfall einer radioaktiven Familie". Roman. Aus dem Englischen von Monika Schmalz.
Berlin Verlag, Berlin 2014. 511 S., geb., 22,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
I felt electrocuted when I read that first page with Crystal Lil and her freak brood. I stood there in the bookstore and my jaw came unhinged. No book I've read, before or since, has given me that specific jolt Karen Russell, author of Swamplandia