Neben ihren bahnbrechenden Arbeiten zur Gender-Theorie und zur Philosophie hat Judith Butler immer auch als kritische Intellektuelle in die politischen Debatten eingegriffen. Ob sie die neue Form des Antisemitismus diskutiert, die rechtlich-politische Lage der Gefangenen in Guantanamo Bay oder die amerikanischen Reaktionen auf die Anschläge vom 11. September, immer erweist sie sich als ebenso subtile wie engagierte Denkerin, die zu differenzieren weiß und dadurch erst den Kern der Probleme freilegt. So wird der theoretische Entwurf einer Ethik, wie sie ihn zuletzt in Kritik der ethischen Gewalt entwickelt hat, auf die aktuelle politische Praxis bezogen. Butler zeigt, wie in jedem öffentlichen Diskurs scharfe Grenzen gezogen werden zwischen dem, was gesagt, und dem, was nicht gesagt werden darf.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Ein Teil der politischen Interventionen der amerikanischen Philosophin Judith Butler sei schon eher auf den politischen Kontext der USA in der Bush-Ära zugeschnitten, gibt Martin Saar zu bedenken, doch habe vieles darüber hinaus auch im internationalen Rahmen seine Berechtigung und Gültigkeit und sei insofern auch für deutsche Leser interessant. Butler betrachte die jüngsten innen- und außenpolitischen Entwicklungen der USA nach dem 11. September, resümiert Saar, wobei sie die politische Rhetorik der US-Regierenden auseinandernehme und auf die "verborgenen Beziehungen zwischen Politik, Trauer und Gewalt" durchforste. Zwei von Butler festgestellte Symptome "einer nationalen Unfähigkeit zu trauern" haben sich Saar bei der Lektüre besonders eingeprägt: das ist zum einen die stereotype Heroisierung der Toten des 11. September, die alle ohne Unterschied "in ein 'Wir' ohne Differenz" verwandelt worden seien; das ist zum anderen, als Kehrseite der Medaille, eine "Derealisierung", die Butler in Bezug auf die Opfer der amerikanischen Kriegspolitik im Irak festgestellt haben will. Als wolle man ihnen ihre Menschlichkeit aberkennen, gebe es von den gegnerischen Opfern oder Gefangenen in der amerikanischen Öffentlichkeit überhaupt kein Bild, fasst Saar zusammen. Für ihn sind Butlers Essays höchst zeitgemäß und formulieren eine moralische Grundposition, die er eine "generelle Ethik der Verletzbarkeit und wechselseitigen Abhängigkeit" nennen möchte.
© Perlentaucher Medien GmbH
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