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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2003

Wer weniger liebt, hat schon gewonnen
Die "Gefährlichen Liebschaften" des Choderlos de Laclos, neu übersetzt / Von Martin Mosebach

Es gehört zu den Eigentümlichkeiten des achtzehnten Jahrhunderts, des "Zeitalters der Vernunft", daß es in seinen größten Kunstwerken, in "Faust" und "Don Giovanni", Teufelspakt und Höllenfahrt zum Thema machte. Am Vorabend der Revolution ist nicht mit rationalem Optimismus von den kommenden herrlichen Zeiten die Rede, sondern von dem "sich selbst erkennenden Bösen", wie Baudelaire den Satanismus genannt hat. Die Autonomie des von allen Beschränkungen befreiten Individuums bestätigt sich in den rituellen Schlacht-Orgien des Marquis de Sade.

Auch wenn nicht von Tod und Teufel die Rede ist, in den spieluhrenartigen Komödien à la "Così fan tutte" ist der Mensch ein Automat, dessen innere Stahlfedern ihn zum Bösartigen hin ausschlagen lassen. Und genau zwischen "Così fan tutte" und de Sade ist der berühmte Briefroman des Choderlos de Laclos, "Les liaisons dangereuses", angesiedelt, die "Gefährlichen" - nach Heinrich Mann "Schlimmen Liebschaften". Zu den Triumphen eines Erzählers gehört, wenn er eine Figur erschaffen hat, die über das Buch hinaus zur Legende wird. Laclos ist eine solche Schöpfung gelungen: Die Marquise de Merteuil ist eines der großen Monstren der Weltliteratur. Ohne die Sadeschen Requisiten der Blasphemie, ohne die Aura von Blut und Gestank, die sie vermutlich geschmacklos gefunden hätte, ist sie die vielleicht reinste Sadesche Persönlichkeit. Das Böse ist ihr Lebensmotor. Berauscht von ihrer eigenen Kälte, beschreibt sich diese Frau als Kunstwerk ihres Intellekts. Der vollkommene, in der Flamme der Reflexion durchgeglühte Mensch, das ist sie. In ihrer Welterkenntnis könnte sie eine gelassene Quietistin sein, die in der bloßen Einsicht in die Umstände ein stilles Vergnügen findet. Sie ist schön, reich, klug, sie wird begehrt und bewundert - warum ist sie nicht gut? Oder wenigstens nett? Das Böse ist das Unbegreifliche, das mit den Mitteln der Psychologie, die in diesem Roman so meisterhaft angewandt werden, letztlich nicht Faßbare.

Die altertümlichsten Kategorien bieten sich an, um diese Bosheit zu erfassen, obwohl nicht die leiseste Andeutung in dieser Richtung fällt: Besessenheit. Auch Laclos' Zeitgenosse Diderot zeigte sich in "Rameaus Neffe" fasziniert von einer zur Bewunderung zwingenden vollendeten Bosheit. Die platonische Trinität ist gesprengt: Das Wahre und das Schöne müssen keineswegs gut, sie können sogar sehr böse sein.

Unter den Briefromanen sind die "Liaisons dangereuses" der Archetypus, der Höhepunkt der Gattung. Heute erscheint es als Kunstgriff, einen Kreis von Personen unentwegt über sämtliche Details des täglichen Lebens korrespondieren zu lassen, aber in der Welt des Laclos waren die Mitglieder der von ihm beschriebenen Milieus besessene Briefschreiber. Voltaire schrieb achtzig Briefe am Tag und wechselte mit seiner Freundin Madame du Châtelet sogar Briefe, als er mit ihr in demselben ziemlich kleinen Schloß wohnte.

Wer die Effekte der "Liaisons dangereuses" im Naturzustand genießen möchte, der schlage etwa den "Biedermann" auf, die Sammlung von Briefen der Zeitgenossen Goethes, in der man immer wieder ein und dasselbe Ereignis von fünf oder sechs verschiedenen Briefschreibern geschildert finden kann: naiv und eingeweiht, hämisch und devot, snobistisch und brav; ein Ganzes entsteht nicht aus den vielen verschiedenen Aspekten, sondern der Verdacht, alles sei in Wahrheit noch einmal ganz anders gewesen. Der Leser wird in solche Korrespondenzen hineingezogen; er wird zum Detektiv, der sich aus reichen Indizienfunden sein Bild von der Sache selbst zusammensetzt. Ganz allmählich ahnt er an winzigen Zeichen, daß Madame de Merteuil, wie es bei Teufelspakten zu sein pflegt, die Betrogene ist. Die Liebe hat sie in sich vernichten können, nicht aber die Eifersucht, die ihr und ihrem Spießgesellen Valmont schließlich nach vielen Meisterintrigen das Grab gräbt. Es ist, als habe Laclos hier in viel grelleren Farben das Schicksal der bereits erwähnten Madame du Châtelet nachzeichnen wollen, die stets hochgemut gelehrt hatte, es komme in der Liebe darauf an, etwas weniger als der andere zu lieben, und die schließlich durch die Liebe zu einem kühlen jungen Mann beinahe verrückt wurde.

"Les liaisons dangereuses" haben im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert rechtschaffene Empörung und lüsterne Neugier ausgelöst. Der Roman galt als wichtiges Belastungsmoment in dem Prozeß, den die Französische Revolution gegen die Aristokratie des Ancien régime führte. Schönheit und Eleganz konnte man einer Schicht nicht absprechen, die in Häusern und Möbeln lebte, die zum Vollkommensten gehörten, was die Menschheit hervorgebracht hat, und auch der literarische Stil dieser Leute war in Schlankheit und Präzision unübertrefflich: Wenn Madame de Merteuil sich auf einen Stuhl an einen Tisch setzte, um einen Brief zu schreiben, setzte sie sich auf ein Kunstwerk an ein Kunstwerk, um ein Kunstwerk abzufassen. Die ästhetische Exklusivität dieser Welt läßt der Roman übrigens nur ahnen, sie ist selbstverständlich, nur der Hauch der Mühelosigkeit, der über allem liegt, zeugt von ihr. Aber dieser Glanz kontrastiert nur noch unbarmherziger die Schwärze, Leere und Kälte in den Herzen dieser Könige des Lebens. Sinnlos und funktionslos ist ihre Existenz, sie sind weder Soldaten noch Regenten, sie tragen keine Verantwortung und glauben nur an ihr Vergnügen: Dies besteht darin, andere Menschen zu quälen und zugrunde zu richten. Der perverse Libertin ist die einzige Form der Freiheit, die in der absoluten Monarchie möglich ist. Da war die Guillotine der Revolution kein Instrument der Strafe, sondern der kluge Aderlaß eines menschenfreundlichen Arztes, der die Menschheit von solchen Geschwüren befreite.

Wie der Arzt hieß, ist bekannt. Er war auch gar kein Arzt, sondern Rechtsanwalt: Maximilien de Robespierre. Wenn er während seiner Reden eine Pause machte und durch kleine Brillengläser ins Publikum sah, wurde es den Zuhörern ungemütlich. Dann wandte er sich wieder seinem Manuskript zu. Das aber hatte häufig niemand anders verfaßt als Choderlos de Laclos.

Auch heute noch werden die "Liaisons dangereuses" vielfach als "Sittenroman", als getreuliches Abbild einer Gesellschaft und einer Zeit gelesen. Ja, so sollen sie gewesen sein, die Draculas in seidenen Kleidern, die mit höchster Delikatesse Jungfrauenblut tranken. Daß Choderlos de Laclos die Welt, die er beschrieb, nicht gekannt hätte, daß er sich den Phantasien der Kolportageschriftsteller hingegeben hätte, wird man ihm nicht nachsagen können.

Genau die Schicht, die er beschrieb, den Adel, der sich vom Hof fernhielt und keine Pflichten übernahm, hat er aus größter Nähe studieren können. Laclos war vor der Revolution Privatsekretär des Herzogs von Orléans, eines königlichen Prinzen aus der jüngeren Linie der Bourbonen, in der der Haß auf den König erblich war. Dieser Orléans war einer der großen Förderer der Revolution; er unterstützte die Aufstände des Jahres 1789, auch den Sturm auf die Bastille, mit Geld und Agenten. Müßig ging der Adel um den Herzog von Orléans gerade nicht, dazu war er zu intensiv mit der Vorbereitung der Revolution beschäftigt. Laclos' Held, der unwiderstehliche, grausame Vicomte de Valmont, hätte, wenn er gelebt hätte, gute Chancen gehabt, ein revolutionärer Todesengel à la Saint-Just zu werden.

In den Kreisen des Herzogs von Orléans mischte sich mittelalterliche Frondeursgesinnung mit den philosophischen Ideen der Enzyklopädisten. Die "réaction nobiliaire", die zu den wesentlichen Auslösern der Revolution gehörte, versammelte große Namen: Mirabeau, Lafayette, Talleyrand. Verglichen mit ihnen war Laclos nur ein kleiner Zuträger. Aber für die eigentümliche Funktion, die der literarischen Pornographie und Obszönität im vorrevolutionären Kampf zukam, durfte er eine Schlüsselrolle übernehmen. Dabei bleibt er viel dezenter als seine Gesinnungsgenossen Mirabeau, Restif de la Bretonne, Crébillon und Sade.

Obszön sind die Empfindungen der Merteuil, niemals ihre Worte. Das hemmungslose Treiben in dieser Literatur war in hochpolitischer Absicht gegen die moralischen Säulen der alten Herrschaft gerichtet. Die Libertins verbreiteten amoralische Literatur, um die Macht der Kirche und der patriarchalischen Ordnung zu erschüttern. Kaum war die Revolution gelungen, drehten dieselben Leute den Spieß um: Ihre eigene Literatur wurde nun zum Beweis genommen, wie dekadent die Aristokratie sich betragen habe. Mirabeau malte seinen Lesern aus, wie ein Vater seine zwölfjährige Tochter in die Freuden der physischen Liebe einführte, aber im Prozeß gegen Marie Antoinette wurde Ernst aus dem süßen Rokoko-Spaß: Dort hielt der Ankläger ihr vor, ihren eigenen Sohn mißbraucht zu haben. Die wildesten Perversionen wollte Marats Zeitschrift "L'ami du peuple" der Königin zutrauen, einer Tochter Maria Theresias aus dem strenggläubigen Wien. Eine mondäne zynische Intrigantin, eine Messalina sollte sie gewesen sein - erkennt man nicht in diesen Charakteristika die Silhouette der Madame de Merteuil?

Als die Merteuil entlarvt ist und alle ihre Teufeleien in der Welt sind, erlebt sie in der Oper, daß das gesamte Publikum sich bei ihrem Eintritt erhebt und sie allein dastehen läßt - das war das Urteil der Gesellschaft, das die Kreise um Laclos auch der Königin zugedacht hatten; der Gesellschaftsvertrag mit der Monarchie sollte aufgekündigt werden. Ein Beispiel engagierter Kunst sind die "Liaisons dangereuses" also. Da ist es erstaunlich, wie frisch und erschreckend sie bis auf den heutigen Tag geblieben sind. Der Grund dafür ist einfach: Der Autor hat sich in seine böse Heldin verliebt. Sie ist ein wahrhaftes Ungeheuer, überlebensgroß, ehrfurchtgebietend, geheimnisvoll, und wenn sie auch wie Don Giovanni in die - gesellschaftliche - Hölle fährt, so schließt diese Hölle ewiges Leben keineswegs aus.

Ist die neue Übersetzung von Tschöke ein dringendes Desiderat gewesen? Heinrich Manns Übersetzung liegt immerhin auch noch vor. Mann ist gelegentlich eleganter als Tschöke, aber oft nicht so genau; wo er, zur Charakterisierung der jungen Cécile etwa, Jargontöne anklingen läßt, ist er veraltet. Die neue Ausgabe bringt außerdem die nicht unwichtige Vorrede von Laclos und einen - leider - sehr knappen Kommentarteil. Der Türspalt, der den deutschen Blick auf das einzigartige Werk gestattet, ist ein bißchen weiter geöffnet.

Choderlos de Laclos: "Gefährliche Liebschaften". Roman. Aus dem Französischen neu übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Wolfgang Tschöke. Nachwort von Elke Schmitter. Hanser Verlag, München 2003. 542 S., geb., 27,90 [Euro].

Choderlos de Laclos: "Gefährliche Liebschaften". Roman. Aus dem Französischen von Heinrich Mann. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2003. 532 S., br., 12,- [Euro].

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»Gefährliche Liebschaften ist unter den erotischen und gesellschaftskritischen Romanen des französischen 18. Jahrhunderts vielleicht der klügste, kühlste, unsentimentalste. Literarisch und psychologisch glänzend.« Hermann Hesse
»Literarisch und psychologisch glänzend.« Hermann Hesse »Es gibt keinen Zweifel: Wer sich eine Bibliothek mit Weltliteratur in Form von Hörbüchern aufbauen möchte, kommt an dieser Edition nicht vorbei.« WDR 3 »Hier wird fündig, wer an Hörbuchproduktionen Freude hat, die nicht schnell hingeschludert sind, sondern mit einer Regie-Idee zum Text vom und für den Rundfunk produziert sind.« NDR KULTUR »Mehr Zeit hätte man ja immer gern, aber für diese schönen Hörbücher [...] besonders.« WAZ »Die Hörbuch-Edition 'Große Werke. Große Stimmen.' umfasst herausragende Lesungen deutschsprachiger Sprecherinnen und Sprecher, die in den Archiven der Rundfunkanstalten schlummern.« SAARLÄNDISCHER RUNDFUNK