Alma und Kristian, Camilla und Charles, Edward und Alwilda sind Jugendfreunde. Gemeinsam gehen sie jetzt durch die Phase des Lebens, die man die mittleren Jahre nennt. Herrlich schwerelos ziehen sie den Leser unmittelbar hinein in ihre Existenzen - ihre Leidenschaften, ihre Kümmernisse, ihre Sehnsüchte und Überempfindlichkeiten. Mit grandioser Beiläufigkeit und übermütiger Komik erzeugt Christina Hesselholdt dabei das Gefühl, dem Leben selbst nie näher gewesen zu sein als in den Lebensausschnitten dieser sechs Kopenhagener Freunde, die so radikal subjektiv, so befreiend offen über sich und ihre Beziehung zur Welt sprechen, über Liebe und Sex, Melancholie und Schmerz und das Glück der Freundschaft.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.08.2018Sommerhaus, zwanzig Jahre später
Sind die Beziehungsprobleme ästhetisch gebildeter Mittelklasse-Menschen als Literaturthema noch
zeitgemäß? Eine Probe an zwei Romanen dieses Sommers
VON MARIE SCHMIDT
Nach dem Ende der Geschichte und vor der Zukunft war kurz Pause. Es war 1998. Die Zeitstimmung war, vor allem im Rückblick, die eines langen, knisternden Sommertages in einer menschenleeren Stadt. Die Nachrichten wurden noch in Bonn gemacht. Der Umzug der Regierungsgeschäfte nach Berlin würde erst nächstes Jahr stattfinden, später. Die Revoluzzer mit den anstrengend guten Vorsätzen zogen aber schon mal die Turnschuhe aus und wurden Realos. Nach der Bundestagswahl kamen die Grünen zum ersten Mal mit an die Macht. Der Kapitalismus hatte sowieso gesiegt und machte ein freundliches Gesicht.
1998 war das Jahr, in dem „Titanic“ mit Leonardo di Caprio im Kino lief und der erfolgreichste Film aller damals bekannten Zeiten wurde. Das Jahr, in dem Viagra auf den Markt kam. Das Jahr, in dem Ernst Jünger starb, mit 102 Jahren (man hatte schon gedacht, er würde ewig leben), der Mann für das Pathos des 20. Jahrhunderts. Und dann erschien im Herbst ein Buch, das anscheinend schon einmal die Gefühlstemperatur des 21. Jahrhunderts anzeigte.
Judith Hermanns Kurzgeschichtensammlung „Sommerhaus, später“ war ganz Stimmung und wenig Handlung. Da fuhren zum Beispiel Figuren die Frankfurter Allee in Berlin rauf und runter und hörten Massive Attack: „Mein Kopf war völlig leer, ich fühlte mich ausgehöhlt und in einem seltsamen Schwebezustand, die Straße vor uns war breit und naß vom Regen, die Scheibenwischer schoben sich über die Windschutzscheibe, vor-zurück.“ Leute überlegten ganze Geschichten lang, ob sie sich küssen sollten und ließen es dann womöglich bleiben. Alles wurde in einem lakonischen Ton erzählt, als sei es anstrengend zu sprechen und die Worte müssten deshalb sehr genau gewählt werden.
Viele Figuren waren Künstler oder Geliebte von Künstlern und allein deswegen fiel es leicht zu glauben, dass sie besonders bedeutungsvolle Gefühle hatten, während sie vor sich hin blickten und rauchten. Es wurde wirklich viel geraucht bei Judith Hermann, sogar in der Eisenbahn. Charakteristische Sätze lauteten: „Marie will was von dem Künstler. Was sie von ihm will, weiß sie nicht“, oder: „Die Tage waren still und wie unter dem Wasser.“
Das Buch wurde sehr erfolgreich, Bestseller, Schullektüre, man fing aber auch sofort an, sich über die Weltlosigkeit dieser Prosa lustig zu machen. Das literarische Genre „Fräuleinwunder“ wurde dafür erfunden und in fast jeder Besprechung der elegische Blick auf dem Autorenporträt der noch nicht dreißigjährigen Judith Hermann beschrieben.
Dabei bestand das Verführerische von „Sommerhaus, später“ doch genau in der luxurierenden Empfindsamkeit: Ein ganzes Leben, versprachen diese Geschichten, konnte man so führen, dass schon die minimalsten Begebenheiten sehr starke und interessante Gefühle auslösten. Der sogenannte Ernst des Lebens wäre dieser Sensibilität natürlich immer schon zu viel gewesen und musste deshalb dauernd verschoben werden auf, na eben später. Und im Grunde war diese Gefühlsintensität eine wundersame Entwicklung, wenn man bedenkt, dass sie am Ende eines Jahrhunderts der Weltkriege und der Vernichtung stand. Eltern und Großeltern sagten damals noch Sätze wie: „Gefühle konnten wir uns nie leisten“, und die Nachkommen brüteten schon in der kostbaren Langeweile von Frieden und Wohlstand vor sich hin. Der radikale Individualismus dieser Zeit wurde ihnen präsentiert von: Demokratie und kapitalistischer Wirtschaftsordnung.
Aber auch die ewigen Sommerferien des Jahres 1998 endeten mal, Terroranschläge folgten, die Afghanistan- und Irak-Kriege, der ständig dräuende Zusammenbruch der Weltwirtschaft, der Rückbau der Sozialstaats- und Solidaritätssysteme, soziale Medien wurden erfunden, Überwachungsmethoden durch den NSA-Skandal offenbar. Es stellte sich als doch nicht so leicht heraus, mit seinen Gefühlen allein zu bleiben. Die Zeit vor zwanzig Jahren wirkt heute sehr lange her.
Allerdings haben ästhetisch gebildete Mittelklasse-Menschen, wie sie in „Sommerhaus, später“ die Hauptrollen spielten, natürlich nicht aufgehört zu fühlen. Jetzt erscheinen zwei Romane, deren Protagonisten Judith Hermanns gealterte Figuren oder Leser sein könnten: „Wie bin ich denn hierhergekommen“ von Dirk von Petersdorff, der bisher vor allem für seine Lyrik bekannt war und in Jena Professor der Deutschen Literaturwissenschaft ist, und „Gefährten“ der dänischen Schriftstellerin Christina Hesselholdt, die bis zu diesem Roman nicht ins Deutsche übersetzt war.
In beiden Romanen befragen sich Freundeskreise von Menschen in der Mitte Lebens darüber, wie ihre Beziehungen zueinander und zum Rest der Welt beschaffen sind, welche Rollen sie für die anderen einnehmen, ob das statische Konstellationen sind oder man sich noch einmal neu aufstellen sollte. Jeweils steht ein Paar, eine Frau und ein Mann, im Zentrum, wie das Normalnull des Soziallebens, von dem aus sich Grade der Freiheit messen lassen. Und natürlich ist die Frage aller Fragen, die Frage aller Zeiten auch in diesen Büchern: ob es nicht gerade Bindung ist, die frei macht.
Aber gäbe es, lautet der sich gleich wieder aufdrängende Zweifel, nicht relevantere Stoffe? Stimmen aus anderen Schichten und Weltgegenden, in denen die Zeitläufte tragischer in die Schicksale einbrechen als in Deutschland oder Dänemark? Geht das noch, die ewig sich wiederholenden Beziehungsgeschichten von Westeuropäern zum Literaturthema zu machen?
Es geht. Aber diese Zweifel sind den Romanen nicht fremd. Sie kommen in der erzählten Welt selbst vor, in den Gedanken der Figuren: „Dagegen sind die Politik und der Gang der Geschichte und die Natur bisher auf meiner Seite – solchen Katastrophen bin ich, im Gegensatz zu vielen anderen Menschen, nicht zusätzlich ausgesetzt, weder Folterherrschaft noch Dürre oder Überschwemmungen. Nicht, dass mich das trösten würde. Ich sage es nur. Unvorstellbar, wenn ich auch das noch erleiden müsste. Vielleicht würden meine westlichen Sorgen aber auch von dem ganz großen Unglück fortgeschwemmt.“ So geht Liebeskummer im Sommer 2018 und in Christina Hesselholdts „Gefährten“.
In beiden Büchern sprechen die Protagonisten über Auslandsjahre in Indien oder Mosambik, wenn sie prägende Erlebnisse rekapitulieren. Bei Dirk von Petersdorff treffen sich eine deutsche und eine aus Kenia stammende Mutter auf dem Spielplatz: „,SHIT!’ rief sie laut und rannte zu ihrem Sohn, der dem Nachbarssohn den Spaten gegen das Schienbein stieß: ,Das ist der Nigerianer in ihm!‘ rief sie. Ihr Mann war Nigerianer. Anna bekam einen Schreck: Durfte man das sagen, war das in Ordnung, eine innerafrikanische Angelegenheit sozusagen?“ Die spezielle Verhaltensunsicherheit und Schwerfälligkeit der Figuren ist jetzt auch identitätspolitisch.
Ausweislich dieser beiden Romane hat das beflissene Bewusstsein der Kulturmenschen für die Konfliktträchtigkeit und Verschiedenheit der Welt am „Wie unter Wasser“-Lebensgefühl nichts grundsätzlich geändert. Die Käseglocke des westlichen Selbstgefühls hat sich nicht gehoben, es staut sich jetzt aber schlechtes Gewissen darunter an, ein schlimmer Verdacht gegen das eigene Wohlergehen. So etwas kann sich schlimmstenfalls zu Verlustängsten auswachsen.
Dirk von Petersdorff schildert das in einem alltagsähnlichen Ton, der übrigens keine Maske seiner Prosa ist. In seinem Lyrikband „Sirenenpop“ (2014) gab es Gedichte wie „Zurück im Job“ mit nur um der Metrik und des Reimes willen verfremdeten Versen: „Dazu Johanna zügig abgestillt,/Reflex: ist immer etwas zu beweisen“. In seinem Roman wird Soziologie studiert und das passt zur vernünftigen Erzählweise und effektiven Dramaturgie von „Wie bin ich denn hierhergekommen“: Da gibt es einen Tim und eine Anna mit ihrem kleinen Sohn Elias, sowie jeweils die Jugendfreunde Johannes und Doris, die nicht so festgelegt sind, noch am Suchen, etwas verloren.
Christina Hesselholdt erzählt weitschweifiger, ihr Roman ist komplizierter aufgebaut, in Anlehnung an „Die Wellen“ von Virginia Woolf. Wie in diesem Roman gibt es sechs Freunde, die abwechselnd zu Wort kommen und Schwänke aus ihrem Leben erzählen.
Eine klare Geschichte ergibt sich nicht daraus, es handelt sich eher um eine talking cure in der Gruppe. Die Figuren sind in ihren Vierzigern, schon von Krankheiten und dem Tod der Eltern betroffen. In Kopenhagen lebende Intellektuelle, die in den Ferien durch England reisen, um die Häuser von Wordsworth und seiner Schwester Dorothy, der Brontë-Schwestern, von Virginia Woolf und Sylvia Plath zu besuchen. Wie um sich zu erinnern, dass der Weltinnenraum der Gefühle und des Privaten gerade für Frauen vieler Jahrhunderte auch etwas Bedrängtes war: „Hier wurde sie verlassen, und als alleinerziehende Mutter zweier Kinder schrieb sie ab vier Uhr morgens und bis der Säugling (,die fette Kanne‘, so nennt sie ihn liebevoll in einem Gedicht) gegen sechs Uhr aufwachte, einige ihrer besten Gedichte“, heißt es über Sylvia Plath.
So sehr sich diese Romane im Ton unterscheiden, teilen sie doch das eine Motiv, dass die „Zwei-Personen-Besitz-Liebe“, wie das bei Petersdorff heißt, immer noch kein stabiles, glückliches Leben bedeutet. Sie wenden diese ewig gültige Einsicht aber anders als die Literatur der Neunzigerjahre.
Petersdorff, der eben auch Germanist ist, schrieb in seiner „Literaturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland“ über Judith Hermanns „Sommerhaus, später“, ihren Figuren fehle es an geeigneten normativen Grundlagen, um sich für eine Lebensform entscheiden zu können. In „Wie bin ich den hierher gekommen“ und „Gefährten“ mendelt sich eine solche normative Grundlage aber heraus. Es ist die Treue der Freundschaft, die Großzügigkeit im Teilen freundschaftlicher Bindungen. An die Stelle der existenzialistischen Erhabenheit der Vereinzelung von früher tritt in der Selbstbespiegelungsliteratur der gebildeten Mittelschicht heute eine große Sehnsucht nach echter Zugehörigkeit zu mehr Menschen, größeren Gruppen als einem Paar.
Das kann man als Suche nach einer lebbaren Form der Solidarität und der Anteilnahme lesen, und es stellte sich dann als auf keinen Fall unpolitisch heraus, so wie ja das Private immer schon politisch und eigentlich noch nie irgendetwas unpolitisches war. Man staunt heute, wenn man „Sommerhaus, später“ wieder liest, was darin alles schon angezeigt war: Die innere Spaltung des Landes in der feindseligen Fremdheit der Berliner Wochenendhäusler gegenüber den Einwohnern Brandenburgs („Die sind doch ekelhaft“), Sexismusprobleme („er hatte diesen verlotterten Altmännersex, dem Christine sich nie entziehen konnte, und er war berühmt“), der verdrehte Rassismus mit dem man eine Frau aus Bali Blondinenwitze erzählen ließ, um sich über sie zu amüsieren.
Das scheinbar so harmlose 1998 war ja auch das Jahr des Lewinsky-Skandals, der Mutter aller „MeToo“-Storys. Das Jahr in dem vor den US-Botschaften in Nairobi und Daressalam Bomben hochgingen, und als Drahtzieher galt Osama bin Laden. Das Jahr, in dem Notenbankpräsident Alan Greenspan nur knapp den Zusammenbruch der Weltwirtschaft verhinderte, indem er schon mal die Zinsen senkte: „Nie zuvor war der Welt so eindringlich vor Augen geführt worden, was die Globalisierung, der grenzenlose Handel mit Geld und Kapital, konkret bewirkt“, stand in der SZ. Und schon 1998 war das heißeste Jahr seit Beginn der Wetteraufzeichnungen, was man zaghaft mit dem Wort „Klimawandel“ in Verbindung zu bringen begann. Die Geschichte war längst weitergegangen. Wir haben es bloß erst später gemerkt.
„Ich fühlte mich
ausgehöhlt und in einem
seltsamen Schwebezustand.“
Der Weltinnenraum des
Privaten war gerade für Frauen
auch etwas Bedrängtes
Dirk von Petersdorff:
Wie bin ich denn hierher-
gekommen. Roman.
C.H. Beck, München 2018. 218 Seiten, 22 Euro.
Heute ein Reiseziel für Leser: Gartenhaus der Sommerresidenz „Monk’s House“, in dem Virginia Woolf schrieb.
Foto: National Trust Images/Caroline Arber
Christina Hesselholdt:
Gefährten. Roman.
Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein. Hanser Berlin, Berlin 2018.
448 Seiten, 25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Sind die Beziehungsprobleme ästhetisch gebildeter Mittelklasse-Menschen als Literaturthema noch
zeitgemäß? Eine Probe an zwei Romanen dieses Sommers
VON MARIE SCHMIDT
Nach dem Ende der Geschichte und vor der Zukunft war kurz Pause. Es war 1998. Die Zeitstimmung war, vor allem im Rückblick, die eines langen, knisternden Sommertages in einer menschenleeren Stadt. Die Nachrichten wurden noch in Bonn gemacht. Der Umzug der Regierungsgeschäfte nach Berlin würde erst nächstes Jahr stattfinden, später. Die Revoluzzer mit den anstrengend guten Vorsätzen zogen aber schon mal die Turnschuhe aus und wurden Realos. Nach der Bundestagswahl kamen die Grünen zum ersten Mal mit an die Macht. Der Kapitalismus hatte sowieso gesiegt und machte ein freundliches Gesicht.
1998 war das Jahr, in dem „Titanic“ mit Leonardo di Caprio im Kino lief und der erfolgreichste Film aller damals bekannten Zeiten wurde. Das Jahr, in dem Viagra auf den Markt kam. Das Jahr, in dem Ernst Jünger starb, mit 102 Jahren (man hatte schon gedacht, er würde ewig leben), der Mann für das Pathos des 20. Jahrhunderts. Und dann erschien im Herbst ein Buch, das anscheinend schon einmal die Gefühlstemperatur des 21. Jahrhunderts anzeigte.
Judith Hermanns Kurzgeschichtensammlung „Sommerhaus, später“ war ganz Stimmung und wenig Handlung. Da fuhren zum Beispiel Figuren die Frankfurter Allee in Berlin rauf und runter und hörten Massive Attack: „Mein Kopf war völlig leer, ich fühlte mich ausgehöhlt und in einem seltsamen Schwebezustand, die Straße vor uns war breit und naß vom Regen, die Scheibenwischer schoben sich über die Windschutzscheibe, vor-zurück.“ Leute überlegten ganze Geschichten lang, ob sie sich küssen sollten und ließen es dann womöglich bleiben. Alles wurde in einem lakonischen Ton erzählt, als sei es anstrengend zu sprechen und die Worte müssten deshalb sehr genau gewählt werden.
Viele Figuren waren Künstler oder Geliebte von Künstlern und allein deswegen fiel es leicht zu glauben, dass sie besonders bedeutungsvolle Gefühle hatten, während sie vor sich hin blickten und rauchten. Es wurde wirklich viel geraucht bei Judith Hermann, sogar in der Eisenbahn. Charakteristische Sätze lauteten: „Marie will was von dem Künstler. Was sie von ihm will, weiß sie nicht“, oder: „Die Tage waren still und wie unter dem Wasser.“
Das Buch wurde sehr erfolgreich, Bestseller, Schullektüre, man fing aber auch sofort an, sich über die Weltlosigkeit dieser Prosa lustig zu machen. Das literarische Genre „Fräuleinwunder“ wurde dafür erfunden und in fast jeder Besprechung der elegische Blick auf dem Autorenporträt der noch nicht dreißigjährigen Judith Hermann beschrieben.
Dabei bestand das Verführerische von „Sommerhaus, später“ doch genau in der luxurierenden Empfindsamkeit: Ein ganzes Leben, versprachen diese Geschichten, konnte man so führen, dass schon die minimalsten Begebenheiten sehr starke und interessante Gefühle auslösten. Der sogenannte Ernst des Lebens wäre dieser Sensibilität natürlich immer schon zu viel gewesen und musste deshalb dauernd verschoben werden auf, na eben später. Und im Grunde war diese Gefühlsintensität eine wundersame Entwicklung, wenn man bedenkt, dass sie am Ende eines Jahrhunderts der Weltkriege und der Vernichtung stand. Eltern und Großeltern sagten damals noch Sätze wie: „Gefühle konnten wir uns nie leisten“, und die Nachkommen brüteten schon in der kostbaren Langeweile von Frieden und Wohlstand vor sich hin. Der radikale Individualismus dieser Zeit wurde ihnen präsentiert von: Demokratie und kapitalistischer Wirtschaftsordnung.
Aber auch die ewigen Sommerferien des Jahres 1998 endeten mal, Terroranschläge folgten, die Afghanistan- und Irak-Kriege, der ständig dräuende Zusammenbruch der Weltwirtschaft, der Rückbau der Sozialstaats- und Solidaritätssysteme, soziale Medien wurden erfunden, Überwachungsmethoden durch den NSA-Skandal offenbar. Es stellte sich als doch nicht so leicht heraus, mit seinen Gefühlen allein zu bleiben. Die Zeit vor zwanzig Jahren wirkt heute sehr lange her.
Allerdings haben ästhetisch gebildete Mittelklasse-Menschen, wie sie in „Sommerhaus, später“ die Hauptrollen spielten, natürlich nicht aufgehört zu fühlen. Jetzt erscheinen zwei Romane, deren Protagonisten Judith Hermanns gealterte Figuren oder Leser sein könnten: „Wie bin ich denn hierhergekommen“ von Dirk von Petersdorff, der bisher vor allem für seine Lyrik bekannt war und in Jena Professor der Deutschen Literaturwissenschaft ist, und „Gefährten“ der dänischen Schriftstellerin Christina Hesselholdt, die bis zu diesem Roman nicht ins Deutsche übersetzt war.
In beiden Romanen befragen sich Freundeskreise von Menschen in der Mitte Lebens darüber, wie ihre Beziehungen zueinander und zum Rest der Welt beschaffen sind, welche Rollen sie für die anderen einnehmen, ob das statische Konstellationen sind oder man sich noch einmal neu aufstellen sollte. Jeweils steht ein Paar, eine Frau und ein Mann, im Zentrum, wie das Normalnull des Soziallebens, von dem aus sich Grade der Freiheit messen lassen. Und natürlich ist die Frage aller Fragen, die Frage aller Zeiten auch in diesen Büchern: ob es nicht gerade Bindung ist, die frei macht.
Aber gäbe es, lautet der sich gleich wieder aufdrängende Zweifel, nicht relevantere Stoffe? Stimmen aus anderen Schichten und Weltgegenden, in denen die Zeitläufte tragischer in die Schicksale einbrechen als in Deutschland oder Dänemark? Geht das noch, die ewig sich wiederholenden Beziehungsgeschichten von Westeuropäern zum Literaturthema zu machen?
Es geht. Aber diese Zweifel sind den Romanen nicht fremd. Sie kommen in der erzählten Welt selbst vor, in den Gedanken der Figuren: „Dagegen sind die Politik und der Gang der Geschichte und die Natur bisher auf meiner Seite – solchen Katastrophen bin ich, im Gegensatz zu vielen anderen Menschen, nicht zusätzlich ausgesetzt, weder Folterherrschaft noch Dürre oder Überschwemmungen. Nicht, dass mich das trösten würde. Ich sage es nur. Unvorstellbar, wenn ich auch das noch erleiden müsste. Vielleicht würden meine westlichen Sorgen aber auch von dem ganz großen Unglück fortgeschwemmt.“ So geht Liebeskummer im Sommer 2018 und in Christina Hesselholdts „Gefährten“.
In beiden Büchern sprechen die Protagonisten über Auslandsjahre in Indien oder Mosambik, wenn sie prägende Erlebnisse rekapitulieren. Bei Dirk von Petersdorff treffen sich eine deutsche und eine aus Kenia stammende Mutter auf dem Spielplatz: „,SHIT!’ rief sie laut und rannte zu ihrem Sohn, der dem Nachbarssohn den Spaten gegen das Schienbein stieß: ,Das ist der Nigerianer in ihm!‘ rief sie. Ihr Mann war Nigerianer. Anna bekam einen Schreck: Durfte man das sagen, war das in Ordnung, eine innerafrikanische Angelegenheit sozusagen?“ Die spezielle Verhaltensunsicherheit und Schwerfälligkeit der Figuren ist jetzt auch identitätspolitisch.
Ausweislich dieser beiden Romane hat das beflissene Bewusstsein der Kulturmenschen für die Konfliktträchtigkeit und Verschiedenheit der Welt am „Wie unter Wasser“-Lebensgefühl nichts grundsätzlich geändert. Die Käseglocke des westlichen Selbstgefühls hat sich nicht gehoben, es staut sich jetzt aber schlechtes Gewissen darunter an, ein schlimmer Verdacht gegen das eigene Wohlergehen. So etwas kann sich schlimmstenfalls zu Verlustängsten auswachsen.
Dirk von Petersdorff schildert das in einem alltagsähnlichen Ton, der übrigens keine Maske seiner Prosa ist. In seinem Lyrikband „Sirenenpop“ (2014) gab es Gedichte wie „Zurück im Job“ mit nur um der Metrik und des Reimes willen verfremdeten Versen: „Dazu Johanna zügig abgestillt,/Reflex: ist immer etwas zu beweisen“. In seinem Roman wird Soziologie studiert und das passt zur vernünftigen Erzählweise und effektiven Dramaturgie von „Wie bin ich denn hierhergekommen“: Da gibt es einen Tim und eine Anna mit ihrem kleinen Sohn Elias, sowie jeweils die Jugendfreunde Johannes und Doris, die nicht so festgelegt sind, noch am Suchen, etwas verloren.
Christina Hesselholdt erzählt weitschweifiger, ihr Roman ist komplizierter aufgebaut, in Anlehnung an „Die Wellen“ von Virginia Woolf. Wie in diesem Roman gibt es sechs Freunde, die abwechselnd zu Wort kommen und Schwänke aus ihrem Leben erzählen.
Eine klare Geschichte ergibt sich nicht daraus, es handelt sich eher um eine talking cure in der Gruppe. Die Figuren sind in ihren Vierzigern, schon von Krankheiten und dem Tod der Eltern betroffen. In Kopenhagen lebende Intellektuelle, die in den Ferien durch England reisen, um die Häuser von Wordsworth und seiner Schwester Dorothy, der Brontë-Schwestern, von Virginia Woolf und Sylvia Plath zu besuchen. Wie um sich zu erinnern, dass der Weltinnenraum der Gefühle und des Privaten gerade für Frauen vieler Jahrhunderte auch etwas Bedrängtes war: „Hier wurde sie verlassen, und als alleinerziehende Mutter zweier Kinder schrieb sie ab vier Uhr morgens und bis der Säugling (,die fette Kanne‘, so nennt sie ihn liebevoll in einem Gedicht) gegen sechs Uhr aufwachte, einige ihrer besten Gedichte“, heißt es über Sylvia Plath.
So sehr sich diese Romane im Ton unterscheiden, teilen sie doch das eine Motiv, dass die „Zwei-Personen-Besitz-Liebe“, wie das bei Petersdorff heißt, immer noch kein stabiles, glückliches Leben bedeutet. Sie wenden diese ewig gültige Einsicht aber anders als die Literatur der Neunzigerjahre.
Petersdorff, der eben auch Germanist ist, schrieb in seiner „Literaturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland“ über Judith Hermanns „Sommerhaus, später“, ihren Figuren fehle es an geeigneten normativen Grundlagen, um sich für eine Lebensform entscheiden zu können. In „Wie bin ich den hierher gekommen“ und „Gefährten“ mendelt sich eine solche normative Grundlage aber heraus. Es ist die Treue der Freundschaft, die Großzügigkeit im Teilen freundschaftlicher Bindungen. An die Stelle der existenzialistischen Erhabenheit der Vereinzelung von früher tritt in der Selbstbespiegelungsliteratur der gebildeten Mittelschicht heute eine große Sehnsucht nach echter Zugehörigkeit zu mehr Menschen, größeren Gruppen als einem Paar.
Das kann man als Suche nach einer lebbaren Form der Solidarität und der Anteilnahme lesen, und es stellte sich dann als auf keinen Fall unpolitisch heraus, so wie ja das Private immer schon politisch und eigentlich noch nie irgendetwas unpolitisches war. Man staunt heute, wenn man „Sommerhaus, später“ wieder liest, was darin alles schon angezeigt war: Die innere Spaltung des Landes in der feindseligen Fremdheit der Berliner Wochenendhäusler gegenüber den Einwohnern Brandenburgs („Die sind doch ekelhaft“), Sexismusprobleme („er hatte diesen verlotterten Altmännersex, dem Christine sich nie entziehen konnte, und er war berühmt“), der verdrehte Rassismus mit dem man eine Frau aus Bali Blondinenwitze erzählen ließ, um sich über sie zu amüsieren.
Das scheinbar so harmlose 1998 war ja auch das Jahr des Lewinsky-Skandals, der Mutter aller „MeToo“-Storys. Das Jahr in dem vor den US-Botschaften in Nairobi und Daressalam Bomben hochgingen, und als Drahtzieher galt Osama bin Laden. Das Jahr, in dem Notenbankpräsident Alan Greenspan nur knapp den Zusammenbruch der Weltwirtschaft verhinderte, indem er schon mal die Zinsen senkte: „Nie zuvor war der Welt so eindringlich vor Augen geführt worden, was die Globalisierung, der grenzenlose Handel mit Geld und Kapital, konkret bewirkt“, stand in der SZ. Und schon 1998 war das heißeste Jahr seit Beginn der Wetteraufzeichnungen, was man zaghaft mit dem Wort „Klimawandel“ in Verbindung zu bringen begann. Die Geschichte war längst weitergegangen. Wir haben es bloß erst später gemerkt.
„Ich fühlte mich
ausgehöhlt und in einem
seltsamen Schwebezustand.“
Der Weltinnenraum des
Privaten war gerade für Frauen
auch etwas Bedrängtes
Dirk von Petersdorff:
Wie bin ich denn hierher-
gekommen. Roman.
C.H. Beck, München 2018. 218 Seiten, 22 Euro.
Heute ein Reiseziel für Leser: Gartenhaus der Sommerresidenz „Monk’s House“, in dem Virginia Woolf schrieb.
Foto: National Trust Images/Caroline Arber
Christina Hesselholdt:
Gefährten. Roman.
Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein. Hanser Berlin, Berlin 2018.
448 Seiten, 25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.02.2019Sechs Personen finden eine Autorin
Kein Roman im eigentlichen Sinne: Die Dänin Christina Hesselholdt erzählt von den Sehnsüchten der gebildeten Mittelschicht
Sechs Personen haben hier eine Autorin gefunden: die seit langem befreundeten "Gefährten" Camilla und Charles, Alma und Christian, Edward und Alwilda. Ihre Autorin, Christina Hesselholdt, geboren 1962 im Norden von Kopenhagen, fing vor knapp dreißig Jahren mit wortkargen schmalen Büchern an (seinerzeit noch verheiratet mit Claus Beck-Nielsen, der sich dann selbst in ein Projekt verwandelte und kürzlich als Madame Nielsen den kleinen Roman "Der endlose Sommer" vorlegte; F.A.Z. vom 13. November 2018). Damals behandelte Hesselholdt in simpel gebauten Sätzen das zeitlose Thema der "Einsamkeit in der Zweisamkeit", wie ein Kritiker es nannte. Heute sind ihre Bücher nicht mehr ganz so asketisch und verdichtet wie damals, aber das Thema ist ähnlich geblieben.
"Gefährten" ist ihre erste Veröffentlichung auf Deutsch, der Band besteht aus vier Teilen, die in Dänemark von 2008 bis 2014 als selbständige Bücher erschienen sind. Dort nennt man den Zyklus "Camilla-Bücher"; Camilla ist Hesselholdts Alter Ego. Gegen Ende des Buchs zitiert diese Camilla den altgriechischen Philosophen Epikur: "Der Tod geht mich eigentlich nichts an. Denn wenn er ist, bin ich nicht mehr, und solange ich bin, ist er nicht." An der Stelle haben wir freilich längst erfahren, dass der Tod die handelnden oder sagen wir richtiger: redenden Personen sehr wohl etwas angeht. Er taucht schon am Anfang auf und lässt sie dann nicht mehr los. Das ewige "Kreisen um den Tod" geht vor allem Camilla selber auf den Nerv, zumindest weiß sie nach der Lektüre von V. S. Naipauls "Rätsel der Ankunft" endlich, woher es kommt: vom ständigen Umziehen und Verrücken der Möbel im Elternhaus, denn jeder Anfang trägt Zerstörung und Vergänglichkeit in sich.
Und doch ist der Tod nicht nur der reine Schrecken. Er hat auch eine schöne, ja sogar "graziöse" Seite. Düsenjäger, die über den Lake District jagen, die Landschaft des romantischen Dichters William Wordsworth, und die scheinbar das Gegenteil jeder Romantik sind, sie fliegen und wippen so verspielt und elegant, dass Alma, eine andere "Gefährtin", seufzt: "Von dem Moment an lebte und atmete ich dafür, noch einen Düsenjäger zu sehen oder am liebsten noch viele mehr." Was sich hier in den ersten Sätzen andeutet, wird im weiteren Verlauf immer deutlicher: die Abenteuerlust der Personen, die alle der gebildeten Mittelschicht angehören, ihre Suche nach einem Reiz, der ihr Dasein durchaus gefährden könnte. Sie möchten sich "vom Leben erobern lassen und den Abgrund spüren", sie sehnen sich nach etwas, "für das es sich zu sterben lohnt". Sie träumen von "unritterlichen" Begegnungen, davon, dass ein "unwiderstehlicher Mensch" ins Zimmer tritt. Diese Passage gehört in den zweiten Teil, wurde also 2010 geschrieben, aber heute gelesen, in Zeiten des Me-Too-Aktivismus, hat sie plötzlich eine hübsche Ironie. So oder so - Almas Geständnis "Ich wünschte, ich hätte ein kühnes Leben" spricht hier jeder der Personen aus dem Herzen.
Die Suche nach dem Abenteuer zieht noch weitere amüsante Szenen nach sich wie den Ausflug in eine Berliner Nachtbar. Camilla und Charles steigen in eine "dunkel lockende Welt" hinab, in der man die bürgerlichen Konventionen eine Zeitlang über Bord werfen kann. Einer verblüfften rumänischen Animierdame, die eben noch ihre Meinung über Herta Müller kundtun sollte, bietet Camilla den eigenen Mann an: "Er fickt wie ein Hengst." Camilla hat eine flotte Umgangssprache mit leichtem Slang und oft ironischem Understatement, was die Übersetzerin gut getroffen hat. Doch so schlicht wie Camillas Werbeslogan für ihren Mann ist das Buch normalerweise nicht, die Sätze sind meistens länger, manchmal von ergreifender Schönheit und absolut nicht manieristisch. Es ist eine reife, in sich ruhende Prosa. Auch die vielen Zitate und Rückversicherungen bei berühmten Autoren wie Wordsworth, Emily Brontë, Virginia Woolf oder Thomas Bernhard, den unverrückbaren Klassikern, sind kein bloßes Namedropping, sondern eher Illustration eines Lebensgefühls, Zeugnis eigener Leseerfahrung.
Das Erzählen einer Geschichte ist Hesselholdts Anliegen nicht. "Gefährten" ist kein Roman im eigentlichen Sinne, sondern ein Episodenstück, das überwiegend aus inneren Monologen besteht (am erzählerischsten ist der dritte Teil). Diese sechs Personen geben im Stillen einen Rechenschaftsbericht vor sich selbst ab, ihre Gedankenverlorenheit wirkt dabei wie ein unerlässlicher menschlicher Wesenszug. Sie sinnen über alte Liebschaften nach, über das Scheitern ihrer Ehe, den Verlust naher Menschen, über Träume, die trösten und zerstören können. Für den Muttertod fängt man sogar an zu schreiben: Edward hat sein "Tagebuch der Trauer" und Camilla ihr Notizbuch, das sie "Dokument schwarz" nennt. Da sitzt sie am Ende, nach dem Tod der Mutter und der Trennung von Charles, allein in ihrem geerbten Sommerhaus, lässt sich von einem polnischen Gärtner übers Ohr hauen, vergleicht sich mit einem Igel, liebäugelt mit Thomas Bernhards Gedanken "Nähe würde ihn umbringen" und "spuckt all das gewesene Elend in diesen Eimer", damit meint sie ihr Notizbuch. Sie schildert ein Familienschicksal voll früher Tode und Selbstmordversuche, mit Alkoholismus, Schizophrenie und Depression - Camilla ist "die Einzige in der Familie, die nie krank ist".
Es ist eine Geschichte, manchmal mit Längen, bei der man sich fragt, ob sich die Autorin hier freischreibt, indem sie über andere (aber natürlich am meisten über sich selbst) notiert, und zwar mit "schlechtem Gewissen" (wie Camilla über sich sagt). Vielleicht auch freischreibt von der Abenteuerlust oder den hohen Ansprüchen an eine Beziehung. Sie zitiert John Bayley, den Mann der alzheimerkranken Iris Murdoch: "Wir waren zusammen, weil uns die Einsamkeit, die jeder im andern sah und erkannte, tröstete und beruhigte." Das ist ein demütiges, aber auch ermunterndes Wort zum Schluss.
PETER URBAN-HALLE
Christina Hesselholdt:
"Gefährten".
Aus dem Dänischen von
Ursel Allenstein. Hanser
Berlin Verlag, Berlin 2018. 446 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kein Roman im eigentlichen Sinne: Die Dänin Christina Hesselholdt erzählt von den Sehnsüchten der gebildeten Mittelschicht
Sechs Personen haben hier eine Autorin gefunden: die seit langem befreundeten "Gefährten" Camilla und Charles, Alma und Christian, Edward und Alwilda. Ihre Autorin, Christina Hesselholdt, geboren 1962 im Norden von Kopenhagen, fing vor knapp dreißig Jahren mit wortkargen schmalen Büchern an (seinerzeit noch verheiratet mit Claus Beck-Nielsen, der sich dann selbst in ein Projekt verwandelte und kürzlich als Madame Nielsen den kleinen Roman "Der endlose Sommer" vorlegte; F.A.Z. vom 13. November 2018). Damals behandelte Hesselholdt in simpel gebauten Sätzen das zeitlose Thema der "Einsamkeit in der Zweisamkeit", wie ein Kritiker es nannte. Heute sind ihre Bücher nicht mehr ganz so asketisch und verdichtet wie damals, aber das Thema ist ähnlich geblieben.
"Gefährten" ist ihre erste Veröffentlichung auf Deutsch, der Band besteht aus vier Teilen, die in Dänemark von 2008 bis 2014 als selbständige Bücher erschienen sind. Dort nennt man den Zyklus "Camilla-Bücher"; Camilla ist Hesselholdts Alter Ego. Gegen Ende des Buchs zitiert diese Camilla den altgriechischen Philosophen Epikur: "Der Tod geht mich eigentlich nichts an. Denn wenn er ist, bin ich nicht mehr, und solange ich bin, ist er nicht." An der Stelle haben wir freilich längst erfahren, dass der Tod die handelnden oder sagen wir richtiger: redenden Personen sehr wohl etwas angeht. Er taucht schon am Anfang auf und lässt sie dann nicht mehr los. Das ewige "Kreisen um den Tod" geht vor allem Camilla selber auf den Nerv, zumindest weiß sie nach der Lektüre von V. S. Naipauls "Rätsel der Ankunft" endlich, woher es kommt: vom ständigen Umziehen und Verrücken der Möbel im Elternhaus, denn jeder Anfang trägt Zerstörung und Vergänglichkeit in sich.
Und doch ist der Tod nicht nur der reine Schrecken. Er hat auch eine schöne, ja sogar "graziöse" Seite. Düsenjäger, die über den Lake District jagen, die Landschaft des romantischen Dichters William Wordsworth, und die scheinbar das Gegenteil jeder Romantik sind, sie fliegen und wippen so verspielt und elegant, dass Alma, eine andere "Gefährtin", seufzt: "Von dem Moment an lebte und atmete ich dafür, noch einen Düsenjäger zu sehen oder am liebsten noch viele mehr." Was sich hier in den ersten Sätzen andeutet, wird im weiteren Verlauf immer deutlicher: die Abenteuerlust der Personen, die alle der gebildeten Mittelschicht angehören, ihre Suche nach einem Reiz, der ihr Dasein durchaus gefährden könnte. Sie möchten sich "vom Leben erobern lassen und den Abgrund spüren", sie sehnen sich nach etwas, "für das es sich zu sterben lohnt". Sie träumen von "unritterlichen" Begegnungen, davon, dass ein "unwiderstehlicher Mensch" ins Zimmer tritt. Diese Passage gehört in den zweiten Teil, wurde also 2010 geschrieben, aber heute gelesen, in Zeiten des Me-Too-Aktivismus, hat sie plötzlich eine hübsche Ironie. So oder so - Almas Geständnis "Ich wünschte, ich hätte ein kühnes Leben" spricht hier jeder der Personen aus dem Herzen.
Die Suche nach dem Abenteuer zieht noch weitere amüsante Szenen nach sich wie den Ausflug in eine Berliner Nachtbar. Camilla und Charles steigen in eine "dunkel lockende Welt" hinab, in der man die bürgerlichen Konventionen eine Zeitlang über Bord werfen kann. Einer verblüfften rumänischen Animierdame, die eben noch ihre Meinung über Herta Müller kundtun sollte, bietet Camilla den eigenen Mann an: "Er fickt wie ein Hengst." Camilla hat eine flotte Umgangssprache mit leichtem Slang und oft ironischem Understatement, was die Übersetzerin gut getroffen hat. Doch so schlicht wie Camillas Werbeslogan für ihren Mann ist das Buch normalerweise nicht, die Sätze sind meistens länger, manchmal von ergreifender Schönheit und absolut nicht manieristisch. Es ist eine reife, in sich ruhende Prosa. Auch die vielen Zitate und Rückversicherungen bei berühmten Autoren wie Wordsworth, Emily Brontë, Virginia Woolf oder Thomas Bernhard, den unverrückbaren Klassikern, sind kein bloßes Namedropping, sondern eher Illustration eines Lebensgefühls, Zeugnis eigener Leseerfahrung.
Das Erzählen einer Geschichte ist Hesselholdts Anliegen nicht. "Gefährten" ist kein Roman im eigentlichen Sinne, sondern ein Episodenstück, das überwiegend aus inneren Monologen besteht (am erzählerischsten ist der dritte Teil). Diese sechs Personen geben im Stillen einen Rechenschaftsbericht vor sich selbst ab, ihre Gedankenverlorenheit wirkt dabei wie ein unerlässlicher menschlicher Wesenszug. Sie sinnen über alte Liebschaften nach, über das Scheitern ihrer Ehe, den Verlust naher Menschen, über Träume, die trösten und zerstören können. Für den Muttertod fängt man sogar an zu schreiben: Edward hat sein "Tagebuch der Trauer" und Camilla ihr Notizbuch, das sie "Dokument schwarz" nennt. Da sitzt sie am Ende, nach dem Tod der Mutter und der Trennung von Charles, allein in ihrem geerbten Sommerhaus, lässt sich von einem polnischen Gärtner übers Ohr hauen, vergleicht sich mit einem Igel, liebäugelt mit Thomas Bernhards Gedanken "Nähe würde ihn umbringen" und "spuckt all das gewesene Elend in diesen Eimer", damit meint sie ihr Notizbuch. Sie schildert ein Familienschicksal voll früher Tode und Selbstmordversuche, mit Alkoholismus, Schizophrenie und Depression - Camilla ist "die Einzige in der Familie, die nie krank ist".
Es ist eine Geschichte, manchmal mit Längen, bei der man sich fragt, ob sich die Autorin hier freischreibt, indem sie über andere (aber natürlich am meisten über sich selbst) notiert, und zwar mit "schlechtem Gewissen" (wie Camilla über sich sagt). Vielleicht auch freischreibt von der Abenteuerlust oder den hohen Ansprüchen an eine Beziehung. Sie zitiert John Bayley, den Mann der alzheimerkranken Iris Murdoch: "Wir waren zusammen, weil uns die Einsamkeit, die jeder im andern sah und erkannte, tröstete und beruhigte." Das ist ein demütiges, aber auch ermunterndes Wort zum Schluss.
PETER URBAN-HALLE
Christina Hesselholdt:
"Gefährten".
Aus dem Dänischen von
Ursel Allenstein. Hanser
Berlin Verlag, Berlin 2018. 446 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main