Was, wenn sich die Provenienz eines literarischen Objekts als manipuliert herausstellt? Wenn Handschriften oder ganze Bücher gefälscht sind und ihre Herkunftsgeschichten gezielt verschleiert werden? Die Fälschung von Schiller-Handschriften im 19. Jahrhundert durch Heinrich von Gerstenbergk und die Stern-Affäre um Konrad Kujaus gefakte Hitler-Tagebücher erregten große Aufmerksamkeit und faszinieren bis heute. Für kulturelle Sammlungseinrichtungen wie Archive oder Museen sind Fälschungen jedoch nicht primär faszinierend, sondern vor allem ein Risiko, denn deren Erwerbungsentscheidungen basieren in der Regel auf dem Provenienzprinzip: Manuskripte, einzelne Bücher oder ganze Buchsammlungen werden erworben oder ausgestellt, weil ihnen aus ihrer Besitzgeschichte heraus kulturgeschichtliche Relevanz zugesprochen wird. Der vorliegende Band beleuchtet Theorien und Praktiken gefälschter Provenienzen in der Literatur und ihren Wissenschaften: Was macht Provenienzspuren und -ketten in literarischen Zusammenhängen authentisch? Welche Möglichkeiten gibt es im Zeitalter der Digitalisierung, gefälschte Provenienzen aufzuspüren? Wie gehen sammelnde Institutionen, Handel und Forschung damit um, wenn sich die Herkunftsgeschichte eines literarischen Objekts als gefälscht herausstellt? Nicht zuletzt nimmt der Band auch die produktive Dimension von Fälschungen in ästhetischer Hinsicht in den Blick und zeigt, wie diese motivisch in die Literatur zurückwirken.
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Rezensent Florian Goldberg hat hier einen äußerst aufschlussreichen Band vor sich, der aus einer Tagung am Literaturarchiv Marbach hervorgegangen ist: Die Beiträge behandeln das Thema der "gefälschten Provenienzen", die zum Teil enorme politische Bedeutung erlangt haben. So widmet sich Philip Kraut gefälschten Handschriften, die zur Erschaffung eines tschechischen Nationalmythos dienen sollten, und Alexandra Germer zeigt auf, wie von jüdischen Autoren verfasste Sachbücher in der Nazi-Zeit mit "arischen" Autornamen versehen wurden. Mit besonderem Gewinn liest Goldberg zudem den Beitrag von Alexandra Tischel, die Verschwörungstheorien als "Fälschung der Welt" beschreibt, die ähnlich spannungsgetrieben sind wie Krimis. Sich mithilfe des Bandes dieser Mechanismen klarzuwerden, ist für den Kritiker ein probates Mittel zur "Stärkung des gesellschaftlichen Immunsystems", das er nicht nur für Literaturwissenschaftler zur Lektüre nahelegt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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