Abdullah kommt aus Syrien. Er ist 16, als er aus seinem Heimatort Ar-Raqqa flieht. Sein älterer Bruder wurde verschleppt, sein Vater bei einem Bombenangriff getötet. Weil die Bedrohung immer größer wurde, stattete seine Familie ihn mit Geld aus. Abdullah schlug sich nach Deutschland durch. In einem Jugendheim findet er Sicherheit und ein neues Zuhause. Doch das Ankommen ist nicht leicht: Hautnah erlebt Abdullah, dass Flüchtlinge wie er als "Islamratten" beschimpft werden. Ständig spürt er misstrauische Blicke. Doch er bekommt auch immer wieder freundliche Hilfe, die ihm Hoffnung gibt. Hoffnung auf seine Zukunft in Deutschland, in einer Welt ohne Krieg.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.01.2019Schießen ist
für Dummies
Ein syrischer Junge und
seine Flucht nach Deutschland
Einmal lassen ihn die Männer mit dem Gewehr schießen. Sie sind ihm unheimlich mit ihren fettigen Haaren, der dreckigen Kleidung und den toten Augen. Auf Menschen will er nicht zielen, denkt Abdullah sofort. Und: „Dieses Ding hat aus normalen Familienvätern Mörder gemacht.“ Ausprobieren will er es aber trotzdem. Er schießt auf einen alten Wasserkanister, „sodass nichts mehr von ihm übrig blieb. Schießen war wirklich was für Dummies.“
Es ist eine der eindrucksvollsten Erinnerungen aus Abdullah Al-Sayeds Heimat Syrien, die er in seinem Buch beschreibt, das er zusammen mit der Journalistin Kerstin Kropac verfasst hat. Denn es ist der Moment, in dem ihn der Krieg erreicht, den er in Form von Hubschraubern und fernen Detonationen schon kennt, der seine Heimatstadt Raqqa aber bislang verschont hatte. Es ist aber auch die Szene, in deren Beschreibung sich mit am deutlichsten das Problem dieses Buches zeigt.
Abdullah al-Sayed erzählt von seinem Leben in einer wohlhabenden und gebildeten Lehrerfamilie, wie erst die Milizen und dann der IS in seiner Heimat einfallen. Wie er eine öffentliche Hinrichtung beobachten muss. Wie die Bomben immer näher kommen und einmal nur knapp das Haus eines Freundes verpassen. Wie sie einmal vor der Schule einschlagen. Er berichtet von seiner Ankunft in Deutschland, von den Problemen mit den anderen Heimkindern, von den vielen Missverständnissen und der steten Fremdenfeindlichkeit. Diese Geschichten sind sehr eindrücklich und detailliert erzählt, aber sie sind auch immer etwas zu glatt, zu komponiert und zu pädagogisch. Welcher zwölf Jahre alte Junge denkt, wenn er mit einem Gewehr schießen darf, „dieses Ding hat aus normalen Familienvätern Mörder gemacht“ und „Schießen ist wirklich was für Dummies“? Als übe er für eine Einführung in vergleichende Kulturwissenschaft, legt al-Sayed die Unterschiede in der Schule, beim Wohnen und beim Essen zwischen der deutschen und der syrischen Kultur dar. Manchmal verfällt er in einen journalistischen Jargon: „Auch hier kam es wieder zu Zusammenstößen zwischen Assads Leuten und den Demonstranten. Zeitgleich gingen auch in anderen Städten die Menschen auf die Straße.“ Über den Tag, an dem sein Vater von einer Bombe getötet wurde, schreibt er: „In Deutschland bestimmte gerade die Steueraffäre von Uli Hoeneß die Schlagzeilen.“
Nicht klar geht aus dem Text hervor, wie genau die Zusammenarbeit mit der Herausgeberin Kerstin Kropac war. Hat sie den Text nur redigiert oder hat sie Teile ergänzt? Hat al-Sayed ihn alleine geschrieben oder handelt es sich um ein Protokoll, das sie in Reinschrift gebracht hat? Manche Phrasen und Einordnungen erscheinen auch für einen inzwischen knapp
20 Jahre alten Syrer, der bis vor Kurzem noch kein Wort Deutsch konnte, eher unwahrscheinlich.
Das Buch zeichnet, vor allem für junge Leser, ein lehrreiches und vielschichtiges Bild vom Leben in Syrien vor und im Bürgerkrieg und von den kleinen und großen Problemen eines UmFs, eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings, im fremden Deutschland.
NICOLAS FREUND
Abdullah al-Sayed: Geflüchtet. Arena, Würzburg 2018. 216 Seiten, 9,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
für Dummies
Ein syrischer Junge und
seine Flucht nach Deutschland
Einmal lassen ihn die Männer mit dem Gewehr schießen. Sie sind ihm unheimlich mit ihren fettigen Haaren, der dreckigen Kleidung und den toten Augen. Auf Menschen will er nicht zielen, denkt Abdullah sofort. Und: „Dieses Ding hat aus normalen Familienvätern Mörder gemacht.“ Ausprobieren will er es aber trotzdem. Er schießt auf einen alten Wasserkanister, „sodass nichts mehr von ihm übrig blieb. Schießen war wirklich was für Dummies.“
Es ist eine der eindrucksvollsten Erinnerungen aus Abdullah Al-Sayeds Heimat Syrien, die er in seinem Buch beschreibt, das er zusammen mit der Journalistin Kerstin Kropac verfasst hat. Denn es ist der Moment, in dem ihn der Krieg erreicht, den er in Form von Hubschraubern und fernen Detonationen schon kennt, der seine Heimatstadt Raqqa aber bislang verschont hatte. Es ist aber auch die Szene, in deren Beschreibung sich mit am deutlichsten das Problem dieses Buches zeigt.
Abdullah al-Sayed erzählt von seinem Leben in einer wohlhabenden und gebildeten Lehrerfamilie, wie erst die Milizen und dann der IS in seiner Heimat einfallen. Wie er eine öffentliche Hinrichtung beobachten muss. Wie die Bomben immer näher kommen und einmal nur knapp das Haus eines Freundes verpassen. Wie sie einmal vor der Schule einschlagen. Er berichtet von seiner Ankunft in Deutschland, von den Problemen mit den anderen Heimkindern, von den vielen Missverständnissen und der steten Fremdenfeindlichkeit. Diese Geschichten sind sehr eindrücklich und detailliert erzählt, aber sie sind auch immer etwas zu glatt, zu komponiert und zu pädagogisch. Welcher zwölf Jahre alte Junge denkt, wenn er mit einem Gewehr schießen darf, „dieses Ding hat aus normalen Familienvätern Mörder gemacht“ und „Schießen ist wirklich was für Dummies“? Als übe er für eine Einführung in vergleichende Kulturwissenschaft, legt al-Sayed die Unterschiede in der Schule, beim Wohnen und beim Essen zwischen der deutschen und der syrischen Kultur dar. Manchmal verfällt er in einen journalistischen Jargon: „Auch hier kam es wieder zu Zusammenstößen zwischen Assads Leuten und den Demonstranten. Zeitgleich gingen auch in anderen Städten die Menschen auf die Straße.“ Über den Tag, an dem sein Vater von einer Bombe getötet wurde, schreibt er: „In Deutschland bestimmte gerade die Steueraffäre von Uli Hoeneß die Schlagzeilen.“
Nicht klar geht aus dem Text hervor, wie genau die Zusammenarbeit mit der Herausgeberin Kerstin Kropac war. Hat sie den Text nur redigiert oder hat sie Teile ergänzt? Hat al-Sayed ihn alleine geschrieben oder handelt es sich um ein Protokoll, das sie in Reinschrift gebracht hat? Manche Phrasen und Einordnungen erscheinen auch für einen inzwischen knapp
20 Jahre alten Syrer, der bis vor Kurzem noch kein Wort Deutsch konnte, eher unwahrscheinlich.
Das Buch zeichnet, vor allem für junge Leser, ein lehrreiches und vielschichtiges Bild vom Leben in Syrien vor und im Bürgerkrieg und von den kleinen und großen Problemen eines UmFs, eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings, im fremden Deutschland.
NICOLAS FREUND
Abdullah al-Sayed: Geflüchtet. Arena, Würzburg 2018. 216 Seiten, 9,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Seinem aufklärerischen Anspruch wird das Buch von Abdullah al-Sayed erfreulicherweise gerecht. Nur stilistisch lässt es leider zu wünschen übrig, findet Rezensent Nicolas Freund. Wie wohl die Zusammenarbeit zwischen dem jungen Syrer und seiner Herausgeberin Kerstin Kropac ausgesehen hat, fragt sich Freund und kann sich gut vorstellen, dass einige der doch recht drögen Passagen eher aus der Feder der erwachsenen Deutschen stammen. Gewissenhaft und ausdrucksvoll beschreibt "Geflüchtet" die Zustände in Syrien, erzählt von Flucht und dem versuchten Neustart in Deutschland und vergleicht das Leben und die Gewohnheiten hier und dort, lesen wir. Dabei wirkt es jedoch an vielen Stellen allzu didaktisch und "glatt". Würde ein zwölfjähriger Junge, der zum ersten Mal eine Schusswaffe in der Hand hält, wirklich denken: "Dieses Ding hat aus normalen Familienvätern Mörder gemacht"? Dies bezweifelt der Rezensent doch stark.
© Perlentaucher Medien GmbH
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