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Colomba Mitta verschwand am Morgen des zweiten Juni. Ihr Zimmer war aufgeräumt, das Bett gemacht, die feuchten Handtücher hingen an der Fensterbank. Der Kaffee in der Tasse auf dem Tisch war noch warm, als ihre Großmutter in die Küche kam. Ein Jahr ist seitdem vergangen, und jede Suche nach der jungen Frau war vergebens. Nur ihre Großmutter Zaira ist sicher, daß sie noch lebt, und so fährt sie jeden Morgen mit Colombas Fahrrad in den Wald nahe ihres Dorfes in den Abruzzen, um eine Spur ihrer Enkelin zu finden. War es ein Verbrechen oder eine Flucht? Ist die Lösung des Rätsels in der…mehr

Produktbeschreibung
Colomba Mitta verschwand am Morgen des zweiten Juni. Ihr Zimmer war aufgeräumt, das Bett gemacht, die feuchten Handtücher hingen an der Fensterbank. Der Kaffee in der Tasse auf dem Tisch war noch warm, als ihre Großmutter in die Küche kam. Ein Jahr ist seitdem vergangen, und jede Suche nach der jungen Frau war vergebens. Nur ihre Großmutter Zaira ist sicher, daß sie noch lebt, und so fährt sie jeden Morgen mit Colombas Fahrrad in den Wald nahe ihres Dorfes in den Abruzzen, um eine Spur ihrer Enkelin zu finden. War es ein Verbrechen oder eine Flucht? Ist die Lösung des Rätsels in der Vergangenheit zu finden, in der Geschichte ihrer Familie, die mit einem namenlosen Findelkind beginnt und voller Geheimnisse steckt? Zaira ist zu jedem Opfer bereit, und so zögert sie nicht lange, als sie einen dubiosen Hinweis erhält, auch wenn sie dabei alles, was ihr geblieben ist, zu verlieren droht.
Autorenporträt
Dacia Maraini, geb. 1936 in Florenz und bis 1946 in Japan aufgewachsen, lebte danach erst in Palermo, jetzt in Rom. Nach journalistischen Anfängen erschien 1962 ihr erster Roman, und bereits 1963 'Zeit des Unbehagens' als zweiter. Für ihn erhielt sie den 'Prix Formentor'. Bis heute zieht sich das Thema Emanzipation beinahe leitmotivisch durch ihr Werk.
2015 erhielt Dacia Maraini die Ehrendoktorwürde der John Cabot University.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.04.2007

Kunst oder gutgemeint?
Die Spur führt nach Auschwitz: Dacia Maraini beschwört das Böse

Wie wird man Erfolgsschriftsteller? Die Italienerin Dacia Maraini weiß es. Unter den zeitgenössischen Schriftstellerinnen ihres Landes ist sie, deshalb, wohl die bekannteste; auch außerhalb, mit hohen Auflagen, Übersetzungen, Verfilmungen. Ihre jüngste Antwort heißt: "Colomba" (in deutscher Übersetzung aufgestockt zu "Gefrorene Träume"). Ihr erstes Gebot: Gib dem Leser einen sicheren Standort, bevor du ihm die Bodenlosigkeit der Welt eröffnest. So ähnlich hatte sich Kant erhabene Gefühle vorgestellt: unmittelbar berührt, aber nur mittelbar betroffen zu sein. Maraini macht es so: Sie eröffnet mit einer Geschichte vor der Geschichte. Darin wird das Erzählte erst einmal als (bloß) erzählt vorgeführt. Danach aber lässt es die Leinen der Leidenschaften los. Wie Pirandellos sechs Personen, die einen Autor suchen, naht sich der "Frau mit den kurzen Haaren" (wie Maraini selbst) die schwankende Gestalt der Zaira und bittet um Aufnahme in eine Geschichte.

Deren Enkelin Colomba, Anfang zwanzig, Postangestellte, war plötzlich, mitten im Frühstück, spurlos im Wald von Ermellina verschwunden. Seitdem ist ein Jahr vergangen. Alle haben sie aufgegeben. Gegen jeden Anschein hatte Zaira eine geradezu fundamentalistische Suche begonnen. Doch wie sollte ausgerechnet die Schriftstellerin ihr helfen? Gewiss, sie hat am Ort ein Ferien- und Schreibhaus. Realität und Roman scheinen voneinander zu wissen. Mehr noch: man könnte - sollte gar? - auf den Gedanken kommen, Zaira verkörpere nur ein Drama, das die Phantasie der Erzählerin in den Wald von Ermellina (vor ihrer Tür) hineinsieht und gleichsam Sprache werden lässt. Schon zur Zeit der Römer war der Wald Schauplatz eines verheerenden Gemetzels, später ein Konzentrationslager. So nimmt die Suche Zairas mythische Züge an, sie handelt wie ein weiblicher Lanzelot. Die Erzählerin beutet die Ausfahrt ihrer Heldin jedoch vor allem aus, um darin hundert Jahre Familienschicksal zu spiegeln.

Warum diese üppige Digression? Man soll wohl ahnen: Leben heißt, sich in einem Wald voller Trennungen, Armut, unsinniger Tode, Auswanderungen, Verwaisungen, verratener Liebe, Partnertausch zu verlieren. Doch immer wieder stehen Figuren auf, meistens Frauen wie Zaira (und deren Erzählerin!), die den Bann zu brechen versuchen. Zaira darf Colomba schließlich, im Wald, finden und sie dem bösen Zauber von Drogen und Prostitution entreißen.

Dieses Happy End will jedoch nicht nur mit 436 Seiten Lektüre verdient sein. Bereits nach wenigen Mosaiksteinen verdoppelt sich die Zwiesprache von Zaira und Erzählerin. Hinter ihnen taucht eine (junge) Mutter auf, die ihrer Tochter auffällige Gutenachtgeschichten erzählt, zuerst von ihrem Mann, dem Gebirgsjäger. In dessen Liedern kehrt allerdings einer wieder, in dem die Erzählerin den Großvater von Zaira erkennt. Von da an wird, was "unten" vorfällt, als Oberstimme von Mutter und Tochter, in Märchen, Mythen, Sagen und Historien fortgesponnen. Doch damit nicht genug. Unaufhaltsam wandern die Geschichten von Zaira allmählich auch dort ein. Am Ende geht schließlich alles ununterscheidbar ineinander auf; die Mutter erzählt der Tochter die Geschichte, die Zaira der Erzählerin erzählt hat. Diese sieht sich genötigt, einen Dialog mit der Erzählung zu führen, die sich ihrer bemächtigt hat. Der Leser hat also zu tun. Wie im Film durchdringen sich Szenen und Ebenen und lassen Verbindungen ahnen, die aber selbst am Ende nicht völlig aufgehen. Zum Glück für das lesende Publikum gibt es aber Zaira: Für uns bespricht und durchkämmt sie das narrative Dickicht: Was wir lesen, ist nur ein Abschlag von dem, was sie eigentlich hatte schreiben wollen, aber nicht konnte: von einem Jungen, der in Auschwitz verschwunden ist. Wir stehen damit zumindest moralisch auf festem Grund; das Übel in der Welt muss ans grelle Licht des Bestsellers gebracht werden.

"Fast wie ein Verhängnis" wiederholt sich alles von Generation zu Generation. Und dann? Die Antwort kommt aus Kindermund: "Erzähl mir eine Geschichte", bittet die Tochter ihre junge Mutter; "nur Geschichten können die Zeit anhalten." Und so erzählt auch Maraini eine nach und über der anderen und gibt dem Leser, was des Lesers sein soll: Verständnis für alles. Für den schönen Vater Colombas, der trotz zahlreicher Liebschaften einsam ist; für den Urgroßvater Pietrucc', der zu dumm war und an den Kommunismus geglaubt hatte; für die jungen Musliminnen, die sich mit einem Sprengstoffgürtel in die Luft jagen; selbst für die Vogelgrippe. Wer sich in den Fäden der Narration verfängt, kann sich immer sicher fühlen: Die Erzählerin weiß, wie es besser wäre.

Dieser Schulterschluss der Wohlmeinenden - ist das der Preis, der für Erfolg entrichtet werden muss? Dann wäre political correctness ein Bedürfnis der Leserschaft? Aber andererseits doch nur wieder in erfundenen Geschichten vom Leben, die allemal lügen dürfen?

WINFRIED WEHLE

Dacia Maraini: "Gefrorene Träume". Roman. Aus dem Italienischen übersetzt von Eva-Maria Wagner. Piper Verlag, München 2006. 436 S., geb., 22,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Fast hätte sich Winfried Wehle im üppig wuchernden "narrativen Dickicht" von Dacia Maraini verirrt. Den festen Boden des Erzählens sieht er in diesem Roman Stück für Stück sich auflösen. Ein Spiel mit Sein und Schein und mit mythischen Elementen knabbert daran und "hundert Jahre Familiengeschichte". Wie im Film fühlt sich Wehle, wenn Szenen und Ebenen sich verbinden ohne jedoch in Klarheit zu enden. Die Erzählerin nimmt ihn schließlich an die Hand und führt ihn nicht nur "moralisch auf festen Grund", indem sie suggeriert, das Wirrwar rühre daher, dass eben alles Übel zur Sprache gebracht werden müsse, sondern gibt ihm auch "Verständnis für alles".

© Perlentaucher Medien GmbH