Empirische Ästhetik hat heute Konjunktur. Doch sie ist keineswegs eine Erfindung der Gegenwart. Schon im späten 19. Jahrhundert wurden zahlreiche Versuche unternommen, wissenschaftlich exakte Methoden in die Untersuchung des Schönen einzuführen. Unter Anschluss an Disziplinen wie Physiologie, Psychologie und Sprachwissenschaft wird Ästhetik um 1900 zu einer Wissensform, die in ihren materiellen Grundlagen, in ihrer diskursiven Organisation sowie in ihren theoretischen Konsequenzen neuartige Verbindungen zwischen Gefühl und Genauigkeit erzeugt. Die Beiträge des Bandes diskutieren diese Entwicklung anhand verschiedener Facetten und Spielformen empirischer Ästhetik, die von den frühen Einfühlungstheorien über experimentelle Laborforschungen bis hin zu Poetik und Kunstwissenschaft reichen.
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Frankfurter Allgemeine ZeitungPhysiologie der Verse
Den gestiegenen Anspruch der empirischen Ästhetik wird in Frankfurt am Main bald ein Max-Planck-Institut dokumentieren. Ihr Ziel, die ästhetische Erfahrung auf feste Gesetze zu bringen und darüber vielleicht sogar zum Wesen des Schönen vorzudringen, ist dagegen trotz verfeinerter Messmethoden schon wieder entzaubert. Ob Neuronen von Kitsch oder Kunst bewegt werden, ist im Blick auf die Messgeräte nicht zu entscheiden. Vor ähnlichen Problemen stand der erste Anlauf zu einer empirischen Ästhetik im Deutschland des späten 19. Jahrhunderts, den ein Sammelband umsichtig dokumentiert. Auch damals stand die spekulative Ästhetik unter Empiriedruck und versuchte sich experimentell zu legitimieren. Gustav Theodor Fechner gründete in Leipzig das erste Experimentallabor und stellte sechzehn Wahrnehmungsgesetze auf. Man maß die physiologischen Grundlagen der Verskunst oder den Einfluss der Musik auf den Blutkreislauf. Auch diese Periode hatte also ihre Kuriositäten. In der Theorie war sie aber offener angelegt. Eine Reihe von Einfühlungstheorien versuchte, die spekulative Ästhetik aus der Ideensphäre zu holen und auf das Gefühl zu verpflichten. Man ging dabei oft robust zu Werke. Die Lücke zwischen äußerem Reiz und innerer Bewegung verklammerten physikalische Metaphern. Man sprach von Schwingung und Stoß bei Körpern und Seelen oder leitete den Kunstsinn aus den Proportionen des Leibes ab. Der Sprung von den Affekten zu den ästhetischen Gefühlen gelang keiner dieser Theorien, auch kein Kriterium für die Wahl ästhetischer Gegenstände. Es bleibt, damals wie heute, der Eindruck einer Ästhetik, die mit viel Aufwand den Sockel des Kunstwerks beschreibt. ("Gefühl und Genauigkeit". Empirische Ästhetik um 1900. Hrsg. von Jutta Müller-Tamm, Henning Schmidgen und Tobias Wilke. Wilhelm Fink Verlag. München 2014. geb., 213 S., 24,90 [Euro].) tth
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Den gestiegenen Anspruch der empirischen Ästhetik wird in Frankfurt am Main bald ein Max-Planck-Institut dokumentieren. Ihr Ziel, die ästhetische Erfahrung auf feste Gesetze zu bringen und darüber vielleicht sogar zum Wesen des Schönen vorzudringen, ist dagegen trotz verfeinerter Messmethoden schon wieder entzaubert. Ob Neuronen von Kitsch oder Kunst bewegt werden, ist im Blick auf die Messgeräte nicht zu entscheiden. Vor ähnlichen Problemen stand der erste Anlauf zu einer empirischen Ästhetik im Deutschland des späten 19. Jahrhunderts, den ein Sammelband umsichtig dokumentiert. Auch damals stand die spekulative Ästhetik unter Empiriedruck und versuchte sich experimentell zu legitimieren. Gustav Theodor Fechner gründete in Leipzig das erste Experimentallabor und stellte sechzehn Wahrnehmungsgesetze auf. Man maß die physiologischen Grundlagen der Verskunst oder den Einfluss der Musik auf den Blutkreislauf. Auch diese Periode hatte also ihre Kuriositäten. In der Theorie war sie aber offener angelegt. Eine Reihe von Einfühlungstheorien versuchte, die spekulative Ästhetik aus der Ideensphäre zu holen und auf das Gefühl zu verpflichten. Man ging dabei oft robust zu Werke. Die Lücke zwischen äußerem Reiz und innerer Bewegung verklammerten physikalische Metaphern. Man sprach von Schwingung und Stoß bei Körpern und Seelen oder leitete den Kunstsinn aus den Proportionen des Leibes ab. Der Sprung von den Affekten zu den ästhetischen Gefühlen gelang keiner dieser Theorien, auch kein Kriterium für die Wahl ästhetischer Gegenstände. Es bleibt, damals wie heute, der Eindruck einer Ästhetik, die mit viel Aufwand den Sockel des Kunstwerks beschreibt. ("Gefühl und Genauigkeit". Empirische Ästhetik um 1900. Hrsg. von Jutta Müller-Tamm, Henning Schmidgen und Tobias Wilke. Wilhelm Fink Verlag. München 2014. geb., 213 S., 24,90 [Euro].) tth
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